VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Urteil vom 22.04.2009 - 4 A 543/07 - asyl.net: M15508
https://www.asyl.net/rsdb/M15508
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen des Verdachts von Verbindungen zu staatsfeindlichen Organisationen (hier: DDKP), auch wenn die Flucht aus der Türkei schon sehr lange Zeit zurückliegt.

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, politische Entwicklung, Reformen, Menschenrechtslage, Antiterrorismusgesetz, Verdacht der Unterstützung, Oppositionelle, DDKP, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Misshandlung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der angefochtene Bescheid vom 16. April 2007 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten i.S.v. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die Asylanerkennung des Klägers sowie die getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG) vorliegen, zu Unrecht widerrufen. [...]

Zwar haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit der Asylanerkennung des Klägers im Jahr 1994 verändert. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament bislang mehrere Gesetzespakte verabschiedet. Die Kernpunkte sind: Abschaffung der Todesstrafe, Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des nationalen Sicherheitsrates, die Zulassung anderer Sprachen als der türkischen in Rundfunk und Fernsehen, Neuregelungen zur Erschwerung von Parteiverboten, eine Strafrechtsreform sowie Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008).

Auch wenn mit Inkrafttreten des achten Gesetzespakets am 1. Juni 2005 die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt hat, hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo jedoch nicht Schritt halten können (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. Januar 2007). Das Reformtempo hat sich seit Anfang 2005 aufgrund der innenpolitischen Spannungen verlangsamt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008). Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei ist noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen. Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt. Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter und menschenrechtswidrigen Maßnahmen in Polizeihaft kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams, ohne dass es dem türkischen Staat bislang gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 25. Oktober 2007 und 11. September 2008; Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Münster und Gutachten vom 8. August 2005 an VG Sigmaringen; Oberdiek, Gutachten vom 2. August 2005 an VG Sigmaringen; ai, Stellungnahme vom 20. September 2005 an VG Sigmaringen). Zwar ist die Zahl der Fälle schwerer Folter auf Polizeiwachen im Vergleich zur Situation in den Jahren vor 2001 deutlich zurückgegangen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25. Oktober 2007). Im Jahr 2007.ist nach Aussagen von Menschenrechtsorganisationen jedoch wieder eine Zunahme der Foltervorwürfe zu verzeichnen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008). Aufgrund der Verpflichtung zu ärztlichen Eingangs- und Ausgangsuntersuchungen ist laut Menschenrechtsorganisationen davon auszugehen, dass Folter und Misshandlungen nur noch in wenigen Fällen bei offiziell erfassten polizeilichen 1ngewahrsamnahmen und Inhaftierungen vorkommen. Misshandlungen sollen nicht mehr in den Polizeistationen, sondern an anderen Orten, u.a. im Freien stattfinden; die Täter sollen nach Presseberichten vermummt sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008). Eine der Hauptursachen für die immer noch vorkommende Folter ist die nicht effiziente Strafverfolgung von folternden staatlichen Kräften.

Nach wie vor verurteilen türkische Gerichte in politischen Strafverfahren auf der Grundlage von erfolterten Geständnissen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008).

Entgegen der Einschätzung des Bundesamtes hat sich die innenpolitische Situation und Sicherheitslage in der Türkei in den letzten Jahren auch nicht entspannt, sondern vielmehr verschärft: Seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Juni 2004 kam es vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und der PKK-Guerilla, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25. Oktober 2007). Die PKK verübt regelmäßig Bombenanschläge, die in den letzten Jahren zu einer großen Anzahl von Opfern insbesondere unter der Zivilbevölkerung geführt haben. Seit Dezember 2007 unternimmt das türkische Militär auch grenzüberschreitende Militäroperationen gegen. PKK-Stellungen im Nordirak (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008).

In Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei hat das türkische Parlament am 29. Juni 2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft. Danach werden mehr Taten als bisher als terroristisch eingestuft und Festgenommene erhalten später als bisher Zugang zu einem Anwalt. Die Gesetzesänderung erweitert die Erlaubnis zum Schusswaffengebrauch, die Möglichkeit, Presseorgane zu verbieten sowie die Rechte von Verteidigern einzuschränken (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25. Oktober 2007). Damit werden Bürgerrechte, die im Hinblick auf einen EU-Beitritt durch. die Reformgesetze gestärkt wurden, wieder eingeschränkt. Kritische Entwicklungen sind bei der Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit zu beobachten. Gegen Journalisten, Menschenrechtsverteidiger u.a. wurden seitens der türkischen Justiz öffentlichkeitswirksame Strafverfahren geführt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008). Außerdem wurde die Verschärfung der Strafbarkeit bei Folter und Misshandlung faktisch revidiert (vgl. ai, Stellungnahme vom 29. Oktober 2006 an VG Ansbach). Diese Gesetzesverschärfung zeigt, dass der Reformprozess sich nicht nur verlangsamt hat, sondern deutliche Rückschritte zu verzeichnen sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25. Oktober 2007). Angesichts dieser Entwicklung ist völlig offen, ob der begonnene legislative Reformprozess, der sich im Wesentlichen auf die bisherigen Bemühungen der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union stützt, in Zukunft konsequent fortgeführt und insbesondere auch umgesetzt wird.

Es kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger aufgrund des Verdachts, Kontakte zu regierungsfeindlichen Parteien/Organisationen zu haben, bei Einreise in die Türkei im Rahmen der obligatorischen Personenkontrolle einem intensiven Verhör unterzogen wird und dabei Gefahr läuft, misshandelt oder gefoltert zu werden. Nach den hierzu vorliegenden Erkenntnissen (vgl. nur Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008, Kaya, Gutachten vom 10. Dezember 2005 an den Hessischen VGH und vom 8. August 2005 an das VG Sigmaringen) findet bei der Einreise eine eingehende Überprüfung statt. Dabei erfolgt regelmäßig eine genaue Personalienfeststellung und ein Abgleich mit dem Fahndungsregister nach strafrechtlich relevanten Umständen. Gegebenenfalls werden auch Nachforschungen bei den Heimatbehörden angestellt. Sollte sich bei dieser Überprüfung herausstellen, dass gegen den Betreffenden ein Separatismus- oder Terrorismusverdacht besteht, kann es zu einem verschärften Verhör verbunden mit menschenrechtswidriger. Behandlung kommen. Diese Gefahr besteht gerade auch im Hinblick auf den Kläger, der, wie das Bundesamt in seinem Bescheid vom 1.. Juli 1994 festgestellt hat, aufgrund der Ereignisse vor seiner Ausreise in Verdacht steht, Verbindungen zu in Gegnerschaft zum türkischen Staat stehenden Parteien/Organisationen zu haben. Soweit das Bundesamt im Widerrufsverfahren ausgeführt hat, dass eine Rückkehrgefährdung auszuschließen sei, weil den türkischen Stellen die Verbindungen des Klägers zur DDKP gar nicht bekannt geworden seien, übersieht es, dass es (jedenfalls sinngemäß) selbst die gegenteilige Ansicht in seinem Anerkennungsbescheid vom 1. Juli 1994 vertreten hat. Eine Gefährdung des Klägers ist auch nicht deshalb zu verneinen, weil die Vorfälle, die zu seiner Ausreise aus der Türkei geführt haben, schon sehr lange zurückliegen. Die Überprüfung der erneuten Gefährdung einer in der Vergangenheit bereits politisch verfolgten Person erfolgt nach dem herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Vor dem Hintergrund, dass nicht auszuschließen ist, dass die Heimatbehörden noch heute davon Kenntnis besitzen, welche Vorwürfe seinerzeit gegen den Kläger erhoben worden sind, besteht die ernst zu nehmende Gefahr, dass der Kläger nach wie vor wegen vermuteter Beziehungen zu regierungsfeindlichen Parteien/Organisationen als möglicher Gegner des türkischen Staates angesehen und er einem mit Misshandlungen verbundenen Verhör unterzogen wird.

Nach allem ist noch keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten (vgl. dazu die jüngsten gerichtlichen Entscheidungen: OVG Münster, Urteil vom 27. März 2007 - 8 A 4728/05.A -; VG Göttingen, Urteil vom 12. November 2008 - 1 A 392/06 -; VG Stuttgart, Urteil vom 30. Juni 2008 - A 11 K 304/07 -; VG Ansbach, Urteil vom 16. Oktober 2008 - AN 1 K 08.30318 -; VG Oldenburg, Urteil vom 04 Oktober 2007 - 5 A 4386/06 -; VG Minden, Urteil vom 10. März 2008 - 8 K 831/07.A -; VG Hannover, Urteil vom 30. Januar 2008 - 1 A 7832/05 -; alle zitiert nach juris), so dass die Voraussetzungen für die seinerzeit erfolgte Asylanerkennung und die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht weggefallen sind. [...]