BlueSky

VG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 26.01.2009 - 20 K 3952/06 - asyl.net: M15515
https://www.asyl.net/rsdb/M15515
Leitsatz:

Die Ausländerbehörde hat bei der Festsetzung der Abschiebungskosten gem. § 66 Abs. 1 AufenthG etwaige Ansprüche des Ausländers auf Schadensersatz wegen zu Unrecht erlittener Abschiebungshaft zu berücksichtigen, so dass in diesem Fall die Kostenfestsetzung die Ausübung von Ermessen erfordert, auch wenn die Rechtmäßigkeit der Abschiebungshaft rechtskräftig festgestellt worden war.

Schlagwörter: D (A), Abschiebungskosten, Kosten, Ermessen, atypischer Ausnahmefall, Kostenfestsetzungsbescheid, Aufrechnung, Abschiebungshaft, Schmerzensgeld, Schadensersatz, Rechtskraft, Rechtskraftwirkung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Zumutbarkeit, Kassenidentität, Nachschieben von Gründen
Normen: AufenthG § 66 Abs. 1; AufenthG § 67 Abs. 1 Nr. 2; GVG § 17 Abs. 2; StrEG § 7; EMRK Art. 5; BGB § 395; VwGO § 114 S. 2
Auszüge:

[...]

Die Klage ist begründet.

Der Kostenfestsetzungsbescheid der Beklagten vom 17.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Rechtsgrundlage für die angefochtenen Bescheide kann nur § 66 Abs. 1 AufenthG sein. [...]

Im vorliegend zu entscheidenden Fall hatte die Beklagte Ermessen auszuüben (vgl. 1); an einer entsprechenden Ermessensbetätigung fehlt es hier jedoch (vgl. 2).

1. Über die Frage, ob und ggf. in welchem Umfang die Beklagte den Kläger zur Kostenerstattung heranzieht, war im Ermessenswege zu entscheiden. Nach der Rechtsprechung des 4. Senats des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts (Beschl. v. 21.06.2007, 4 Bf 56/06.Z, Urt. v. 18.10.2007, 4 Bf 75/06, Urt. v. 18.10.2007, 4 Bf 121/06, Beschl. v. 5.12.2007, 4 Bf 137/07.Z), der die Kammer folgt, ist bei Vorliegen atypischer Gegebenheiten über die Heranziehung zur Erstattung von Abschiebungskosten im Wege des Ermessens zu befinden. [...]

Zwar sind nach Teilaufhebung des Ausgangsbescheides mit dem Widerspruchsbescheid nicht mehr die Kosten des im Ergebnis erfolglos gebliebenen Versuchs der erneuten Abschiebung des Klägers im Jahr 2005 streitgegenständlich, sondern nur noch die Kosten der im Jahr 1996 tatsächlich erfolgten Abschiebung, welche dem Grunde nach zwischen den Beteiligten nicht im Streit stehen und von der Beklagten nach erneuter Berechnung mit 1.938,42 Euro beziffert werden. Diese Kosten mögen ungeachtet der durch Bewilligung von ratenzahlungsfreier Prozesskostenhilfe dokumentierten Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Klägers angesichts der noch überschaubaren Größenordnung einen Ausnahmefall allein nicht begründen. Indes hat die Beklagte die gesamten Rückführungskosten für die Jahre 1996 und 2005 zusammen geltend gemacht, so dass bei Beantwortung der Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt oder nicht, schon aus diesem Grund eine Gesamtbetrachtung anzustellen ist. Hiervon ausgehend kann kein Regelfall mehr angenommen werden. Es lagen allerdings keine besonderen persönlichen, wohl aber andere besondere Umstände vor. Die Beklagte durfte nicht außer Acht lassen, dass sie im Jahr 2005 aufgrund der ihr bekannten familiären Verhältnisse des Klägers keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen hätte veranlassen dürfen. Es waren von ihr deshalb die geltend gemachten Gegenansprüche des Klägers wegen erlittener Abschiebungshaft im Jahr 2005 unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit der Kostentragung zu berücksichtigen, auch wenn das Verwaltungsgericht möglicherweise selbst gem. § 17 Abs. 2 GVG zur Entscheidung über diese rechtswegfremden Forderungen, wenn und soweit sie im Wege der Aufrechnung geltend gemacht werden, nicht berufen ist (offen gelassen von BVerwG, Beschl. v. 31.03.1993, NJW 1993, 2255). Dabei kommt es nicht entscheidend darauf an, dass die Beklagte im Beschwerdeverfahren vor den ordentlichen Gerichten nach dem Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen letztinstanzlich obsiegt hat. Dass die Anordnung der Abschiebungshaft im Jahr 2005 nicht rechtswidrig, sondern rechtmäßig war, steht allerdings aufgrund der Rechtskraft des im Beschwerdeverfahren ergangenen Beschlusses des Hamburgischen Oberlandesgerichts (2 Wx 50/05) vom 19.05.2005 mit Bindungswirkung für das vorliegende Verfahren fest (vgl. BGH, Urt. 18.05.2006, NVwZ 2006, 960). Jedoch steht es der Beklagten in diesem Zusammenhang frei, ob sie sich auf die Rechtskraft der Entscheidung beruft. Die Rechtskraft steht als prozessuales Institut, das auch dem öffentlichen Interesse dient, nicht zur Disposition der Beteiligten. Auf die Beachtung der Rechtskraftwirkung in einem weiteren Verfahren kann deshalb nicht verzichtet werden. Unberührt hiervon bleibt aber die Möglichkeit, sich außerprozessual abweichend von der rechtskräftigen Entscheidung zu verhalten. Die Behörde kann danach in den Grenzen, die ihr durch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gezogen sind, etwa auf die Vollziehung eines durch rechtskräftiges Urteil bestätigten Verwaltungsakts verzichten, den Verwaltungsakt aufheben oder abändern oder auch ein rechtskräftig abgewiesenes Begehren erfüllen (Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand 1.10.2008, § 121 Rdnr. 31 m.w.N.). Für ein entsprechendes Vorgehen bestand vorliegend Anlass. Denn im Ergebnis erwies sich die im Jahr 2005 beabsichtigte Abschiebung als rechtswidrig, wie das Hamburgische Oberverwaltungsgericht (4 Bs 168/05) mit Beschluss vom 29.08.2005, auf den die Kammer zur Vermeidung von Wiederholungen vollumfänglich Bezug nimmt, ausgeführt hat. Es kommt hinzu, dass es dem Kläger erkennbar nicht darum ging, wegen des rechtswidrigen Vorgehens der Beklagten im Jahr 2005 einen Geldersatz zu realisieren, sondern er lediglich deren Ansprüche abwehren wollte.

Vor diesem Hintergrund wäre es geboten gewesen, die vom Kläger geltend gemachten Gegenansprüche wegen erlittener Haft entsprechend § 7 StrEG und nach Art. 5 EMRK in eine Abwägung, ob und ggf. in welchem Umfang die im Jahr 1996 angefallenen Abschiebungskosten geltend gemacht werden sollen, einzubeziehen. Dem steht der von der Beklagten angeführte Regelungsgehalt des § 395 BGB nicht entgegen. Danach ist gegen eine Forderung des Bundes oder eines Landes sowie gegen eine Forderung einer Gemeinde oder eines anderen Kommunalverbands die Aufrechnung nur zulässig, wenn die Leistung an dieselbe Kasse zu erfolgen hat, aus der die Forderung des Aufrechnenden zu berichtigen ist. Diese Vorschrift ist auf die hier vorliegende Fallkonstellation nicht anwendbar. Das Gericht verkennt nicht, dass das Prinzip der Kassenidentität gem. § 395 BGB nach wohl herrschender Meinung auf öffentlich-rechtliche Forderungen, wie sie hier mit dem Kostenerstattungsanspruch nach § 66 AufenthG geltend gemacht werden, entsprechende Anwendung finden soll. Da es hier aber nicht um die Frage der Wirksamkeit der Aufrechnung gern. §§ 387 ff. BGB, sondern um den Umfang der Erwägungen geht, welche die Behörde bei der Anwendung von § 66 AufenthG auf der Rechtsfolgenseite anzustellen hat, käme vorliegend nur die Berücksichtigung eines allgemeinen Rechtsgedankens aus § 395 BGB in Betracht. Ein solcher allgemeiner Rechtsgedanke ist jedoch abzulehnen. § 395 BGB statuiert eine einseitige Verschärfung des Gegenseitigkeitserfordernisses hinsichtlich der zur Aufrechnung gestellten Forderungen zugunsten von Hoheitsträgern. Sie ist damit erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Die in Zeiten der Vernetzung zudem zunehmend obsolet werdende Bestimmung ist daher als Ausnahmevorschrift jedenfalls eng auszulegen (Beckscher Online-Kommentar, BGB, Stand 1.11.2008, § 395 Rdnr. 6). So hat der Bundesfinanzhof bereits vor rund 20 Jahren mit Urteil vom 25.04.1989 (BStBl II 1989, 94) zu § 395 BGB ausgeführt:

"Die Regelung dient, wie die Revision mit Recht ausführt, der Verwaltungsvereinfachung. Sie beruht "auf Gründen der administrativen Zweckmäßigkeit und der Organisation der Staatsbehörden" (Motive zu dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches, Bd. II, S. 114). Mit ihr sollten im Interesse einer ordnungsgemäßen Kassenführung die Aufrechnungsmöglichkeiten gegen Forderungen des Fiskus über das Erfordernis der Gegenseitigkeit hinaus beschränkt werden (Staudinger-Kaduk, BGB, § 395 Rdnr. 2). Eine Gefahr der Verwirrung und Erschwerung der Kassenführung ist aber - wie die Revision einräumt - bei dem heutigen Stand der Technisierung der Kassenverwaltung und der Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Kassen auch dann nicht zu befürchten, wenn bei der Aufrechnung durch den Steuerpflichtigen - ebenso wie bei der Aufrechnung durch den Fiskus - auf das Erfordernis der Kassenidentität verzichtet wird."

Die von der Beklagten geltend gemachten Besonderheiten der kameralistischen Haushaltsführung in Hamburg können zu keiner anderen Bewertung führen. Dies gilt schon deshalb, weil das Landesrecht nicht zur Auslegung der bundesrechtlichen Bestimmungen nach dem AufenthG herangezogen werden kann (Art. 31 GG, in diesem Sinne auch: VGH Mannheim, Urt. v. 18.01.2006, 13 S 2220/05, juris; vgl. weiter zum Meinungsstand: Beckscher Online-Kommentar Grundgesetz, Stand 01.10.2008, Art. 31 GG Rdnr. 16). Unabhängig davon kann nach § 71 a Abs. 1 Satz 1 LHO die Buchführung zusätzlich nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung und Bilanzierung in sinngemäßer Anwendung der Vorschriften des Handelsgesetzbuches erfolgen. Auch steht ein Grundsatz der Haushaltsklarheit einer internen Erstattung nicht entgegen, mag diese im Einzelfall auch aufgrund besonderer Anordnung ausgeschlossen sein, § 61 Abs. 1 LHO Satz 1. Über Erstattungen von Aufwendungen einer Dienststelle für eine andere trifft danach die für die Finanzen zuständige Behörde im Einvernehmen mit dem Rechnungshof nähere Bestimmungen. Diese liegen mit der Verwaltungsvorschrift zu § 61 LHO vor.

Selbst wenn man aber entgegen vorstehenden Ausführungen § 395 BGB für anwendbar hielte, käme man zu keinem anderen Ergebnis. Denn die Vorschrift dient allein dem Schutz der Verwaltung und unterliegt damit deren Disposition: Der öffentlich-rechtliche Gläubiger kann ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der Kassen aufrechnen (Beckscher Online-Kommentar, BGB, Stand. 1.11.2008, § 395 Rdnr. 5). Ist die Geltendmachung der (fehlenden) Kassenidentität aber grundsätzlich in das Belieben der Beklagten gestellt, kann der Berufung hierauf im Einzelfall - und so auch hier - das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (§ 242 BGB) entgegenstehen. Die Rechtsabteilung der Beklagten teilte nämlich dem Kläger mit Schreiben vom 24.10.2006 mit, dass für die geltend gemachten Ansprüche nicht diese, sondern die - ebenfalls beim Einwohner-Zentralamt ressortierende - Ausländerabteilung zuständig sei. Dieser Standpunkt wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 30.10.2006 nochmals bekräftigt. Die wiederholt erteilten Hinweise schließen es aus, dass die Beklagte den Kläger nunmehr erstmals im Klageverfahren auf eine andere Kasse, nämlich die der Justizbehörde verweist.

2. Es ist von einem vollständigen Ermessensausfall auszugehen, so dass eine "Ergänzung" bestehender Erwägungen gem. § 114 Satz 2 VwGO nicht in Betracht kommt (BVerwG, Urt. v. 15.11.2007, BVerwGE 130, 20). [...]