SG Hamburg

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Zitieren als:
SG Hamburg, Beschluss vom 03.03.2009 - S 9 AY 3/09 ER - asyl.net: M15517
https://www.asyl.net/rsdb/M15517
Leitsatz:

Zeiten des Bezugs von Leistungen nach § 1 a AsylbLG zählen bei den erforderlichen Bezugszeiten nach § 2 Abs. 1 AsylbLG mit, wenn die Leistungskürzung zu Unrecht erfolgt ist; eine Kürzung der Leistungen nach § 1 a Nr. 2 AsylbLG wegen Verletzung der Mitwirkungspflichten setzt gem. § 7 Abs. 4 AsylbLG i.V.m. § 66 Abs. 3 SGB I einen vorherigen Hinweis auf die Folgen fehlender Mitwirkung voraus; die Sozialbehörde hat die Voraussetzungen der Leistungskürzung in eigener Verantwortung zu prüfen und ist nicht an die Feststellungen der Ausländerbehörde gebunden; Bezugszeiten gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG sind bei Unterbrechungen zu addieren; allein das Unterlassen einer freiwilligen Ausreise oder die Passlosigkeit stellen keine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG dar.

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, einstweilige Anordnung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Aufenthaltsdauer, Leistungskürzung, Abschiebungshindernis, Vertretenmüssen, Mitwirkungspflichten, Hinweis, Hinweispflicht, Ausländerbehörde, Sozialbehörde, Prüfungskompetenz, Bindungswirkung, Beweislast, Algerien, Algerier, Passbeschaffung, Auslandsvertretung, Unterbrechung, Rechtsmissbrauch, freiwillige Ausreise, Passlosigkeit, Eilbedürftigkeit
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2; AsylbLG § 1a Nr. 2; AsylbLG § 7 Abs. 4; SGB I § 66 Abs. 3; SGB X § 44
Auszüge:

[...]

Der am 18.2.2009 bei Gericht eingegangene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem die Antragstellerin zu 1) die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Gewährung von Leistungen zum Lebensunterhalt nach § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) sowie einem Mehrbedarf wegen Schwangerschaft entsprechend den Leistungen nach dem SGB XII für sich und ihre Kinder begehrt, ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. [...]

Der Antragstellerin zu 1) und ihren Kindern steht ein Anordnungsanspruch zu, denn die Voraussetzungen des § 2 I AsylbLG haben in ihrem Fall als erfüllt zu gelten. Sie erhalten seit mehr als 48 Monaten, nämlich soweit ersichtlich seit Januar 2004 Leistungen nach dem AsylbLG. Für den Zeitraum vom 1.6.2006 bis 31.10.2008 haben sie allerdings nur gekürzte Leistungen nach § 1 a AsylbLG bezogen.

Nach dem Kenntnisstand dieses Eilverfahrens erfolgte diese Kürzung zu Unrecht, da die Voraussetzungen hierfür nicht vorlagen. [...]

Die Leistungskürzung war jedoch bereits deshalb unzulässig, weil die Antragsgegnerin die Antragstellerin zu 1) vor der Leistungskürzung nicht hinreichend auf die Folgen fehlender Mitwirkungshandlungen hingewiesen hat. Das Erfordernis eines entsprechenden Hinweises ergibt sich aus § 66 Abs. 3 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil (SGB I), der gemäß § 7 Abs. 4 AsylbLG im Bereich der Leistungen nach dem AsylbLG entsprechend anwendbar ist. § 66 Abs. 3 SGB 1 ist dabei nicht nur auf solche Kürzungen anzuwenden, die wegen fehlender Mitwirkungshandlungen bezüglich der Angaben zu Einkommen und Vermögen eintreten, sondern auch auf Kürzung nach § 1 a AsylbLG (vgl. hierzu ausführlich VG Hamburg, Urteil vom 9.4.2002, Az: 5 VG 3247/2000, InfAuslR 2002, S. 412 mwN). Die Grundleistungen nach § 3 AsylbLG liegen bereits niedriger als die Regelsätze nach dem Recht der Sozialhilfe oder der Grundsicherung für Arbeitssuchende und erfassen daher nur das, was für ein menschenwürdiges Leben mindestens erforderlich ist. Die Kürzung dieser Leistungen wirkt sich daher besonders einschneidend aus. Vor diesem Hintergrund muss dem Leistungsempfänger vor einer Kürzung die Möglichkeit gegeben werden, die erforderliche Mitwirkungshandlung nachzuholen (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 9.4.2002, aaO). Eine Leistungskürzung darf daher nur dann erfolgen, wenn dem Betroffenen vorher die von ihm erwarteten Mitwirkungshandlungen konkret benannt werden und er auf die Folgen fehlender Mitwirkung hingewiesen wurde. Er muss erkennen können, was ihm droht und wie er diese Folgen vermeiden kann.

Ein solcher Hinweis ist vorliegend nicht erfolgt. Es ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin die Antragstellerin zu 1) vor der erstmaligen Leistungskürzung überhaupt zu einer konkreten Mitwirkungshandlung aufgefordert und ihn auf die Folgen fehlender Mitwirkung hingewiesen hat.

Die Antragsgegnerin hat sich bei ihrer Entscheidung über die Leistungskürzung im Wesentlichen auf die Angaben der Ausländerbehörde gestützt. [...] Die Antragsgegnerin ist als die für die Durchführung des § 1 a AsylbLG zuständige Behörde aber nicht an die Feststellungen der Ausländerbehörde gebunden, sondern hat den Sachverhalt eigenständig zu prüfen und zu bewerten (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 27.6.2004, Az: 2 MB 96/04 und 2 0 83/04, nicht veröffentlicht; VG Hamburg, Urteil vom 9.4.2002, aaO; SG Hamburg, Beschluss vom 6.4.2006, Az: S 53 AY 26/06, nicht veröffentlicht). Darüber hinaus trägt die Antragsgegnerin für den Vorwurf der mangelnden Mitwirkung durch den Antragsteller zu 1) auch die Beweislast. Sie muss deshalb darlegen, dass gerade die fehlende Mitwirkung ursächlich für die Unmöglichkeit der Abschiebung und vom Antragsteller zu vertreten ist (vgl. LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 19.12.2005, Az: L 9 B 301/05 AY ER, nicht veröffentlicht; SG Hamburg, Beschluss vom 6.4.2006, aaO; VG Hamburg, Urteil vom 9.4.2002, aaO).

Vorliegend bestehen darüber hinaus erhebliche Zweifel daran, ob die Antragstellerin zu 1) die Unmöglichkeit der Ausreise zu vertreten hat. Vertretenmüssen im Sinne von § 1 a AsylbLG erfordert ein auf die Verhinderung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gerichtetes, vorwerfbares Verhalten voraus, das adäquat kausal die Ursache für die Unmöglichkeit der Abschiebung gesetzt hat (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 9.4.2002, aaO; SG Hamburg, Beschluss vom 6.4.2006, aaO). Es ist vorliegend nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin zu 1) ihre Abschiebung nach Algerien durch zielgerichtetes Verhalten verhindert hätte. Nach dem Kenntnisstand des Eilverfahrens, der insbesondere durch die Schilderungen der bei dem Besuch der Antragstellerin zu 1) in der Botschaft Algeriens in Berlin anwesenden Begleiterin lebhaft untermalt ist, hat die Botschaft Algeriens der Antragstellerin erhebliche Probleme bei der Beschaffung von Passersatzpapieren gemacht. [...] In der Akte der Ausländerbehörde befinden sich (z.B. Bl. 46) Hinweise darauf, dass die Antragstellerin ihren Mitwirkungspflichten nach Ansicht der Ausländerbehörde nicht nachgekommen sei. Es wird jedoch nicht konkret ausgeführt, welche Handlung sie zu welchem Zeitpunkt hätte vornehmen sollen und dass sie dies nicht getan hat. Nach alledem ist die Antragstellerin zu 1) nicht ausreichend von der Antragsgegnerin zu konkreten Mitwirkungshandlungen unter Hinweis auf die Folgen der fehlenden Mitwirkung aufgefordert worden, die sie dann nicht erbracht hätte.

Es kommt letztlich auch nicht darauf an, dass gegen den Bescheid vom 17.5.2006, mit dem erstmals eine Leistungskürzung nach § 1 a AsylbLG ausgesprochen wurde, zunächst kein Rechtsmittel eingelegt wurde. Denn gegen den späteren Bescheid vom 10.5.2007, der die Leistungskürzung aufrecht erhielt, wurde mit Schreiben vom 1.6.2007 Widerspruch eingelegt, und zwar umfassend bezogen auf die Frage der Rechtmäßigkeit der Leistungskürzung. Der hierzu ergangene Widerspruchsbescheid vom 6.3.2008 ist noch nicht rechtskräftig. Das Klageverfahren ist beim Gericht anhängig zum AZ S 9 AY 13/08. Da in dem Widerspruch generell die Frage aufgeworfen wurde, ob die Leistungskürzungen nach § 1 a AsylbLG rechtmäßig seien, ist sowohl in diesem Widerspruch als auch in dem jetzt zu entscheidenden Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X zu sehen, der auch den Bescheid vom 17.5.2006 erfasst.

Da die Voraussetzungen einer Leistungskürzung nach § 1 a AsylbLG nach alledem nicht vorliegen, sind im Gegenteil die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen in entsprechender Anwendung des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe (SGB XII) gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG gegeben. [...]

Die Antragstellerin zu 1) erhält mit ihren Kindern ausweislich der Verwaltungsakte bereits seit 2004 Leistungen nach dem AsylbLG, so dass die Voraussetzung eines mindestens dreijährigen Leistungsbezugs gegeben ist. Nach der Rechtsprechung des BSG (BSG B 8/9b AY 1/07 R vom 17.6.08) sind Bezugszeiten nach Unterbrechungen - unabhängig von der Dauer der Unterbrechungen - nach Wortlaut ("insgesamt") sowie Sinn und Zweck der Regelung zu addieren (so auch Hohm, AsylbLG, § 2 Rdnr 1, Stand März 2007; Adolph in Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII/ AsylbLG, § 2 AsylbLG Rdnr 13, Stand Oktober 2007). Dies gilt nach der angegebenen Entscheidung des BSG auch für minderjährige Kinder.

Nach dem Erkenntnisstand des Eilverfahrens ist eine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthaltes nicht festzustellen. Ein Rechtsmissbrauch liegt nicht bereits darin, dass die Antragstellerin zu 1) trotz grundsätzlich bestehender Ausreisepflicht nicht ausgereist ist (vgl. BSG B 8/9 AY 1/08 R). [...]

Die Passlosigkeit allein reicht für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs ebenfalls nicht aus (vgl. auch OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 27.6.2004, Az: 2 MB 96/04 und 2 0 83/04, nicht veröffentlicht). Nach der Rechtsprechung des Landessozialgerichts Hamburg (Beschluss vom 27. April 2006, aaO), der sich die Kammer anschließt, ist unter der "rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung" allein ein verschuldensgetragenes Fehlverhalten, allerdings auch durch Unterlassen zu verstehen.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass das rechtlich missbilligte Verhalten mit der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes kausal verknüpft sein muss. Ein Rechtsmissbrauch im oben genannten Sinn kann - so das BSG - nur vorliegen, wenn die Ausländerin sich hierüber auch bewusst sei. Ein bloß fahrlässiges Verhalten genügt für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs nicht Vielmehr setzt der Vorwurf sowohl Vorsatz bezüglich der tatsächlichen Umstände als auch der Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts voraus. In der bloß fahrlässig herbeigeführten Verlängerung der Aufenthaltsdauer liegt kein so schwerwiegender Verstoß gegen die Rechtsordnung, dass eine - nicht nur zeitlich begrenzte - Absenkung der Leistungen gerechtfertigt wäre; ein bloß fahrlässiges Verhalten kann unter Berücksichtigung der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland nicht als sozialwidrig eingestuft werden.

Eine Vernichtung ihres Passes bzw. des Passes eines ihrer Kinder wird der Antragstellerin zu 1) nicht vorgeworfen. Angesichts des bereits geschilderten Verhaltens der algerischen Botschaft, das offenbar von erheblichem Misstrauen gegenüber eigenen Bürgern anstatt von Hilfestellung beeinflusst ist, ist die Schwelle eines sozialwidrigen Verhaltens bei der Antragstellerin, die vielleicht nicht mit besonderer Geschwindigkeit, Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit andauernd bei der Botschaft vorstellig wurde, nach Auffassung der Kammer nicht überschritten. [...]