VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 10.01.2002 - 23 B 01.31285 - asyl.net: M1552
https://www.asyl.net/rsdb/M1552
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung von Kurden im Irak, Verfolgungsgefahr wegen illegaler Ausreise und Asylantrag, inländische Fluchtalternative im Nordirak nicht bei Exponiertheit oder fehlender Sicherung des Existenzminimums, allein Herkunft aus der Nähe der autonomen Gebiete rechtfertigt nicht die Vermutung der Sicherung des Existenzminimums, keine Sicherung des Existenzminimums durch Lager des UNHCR, keine inländische Fluchtalternative bei Gefahr der Verfolgung nach etwaiger Wiedereroberung der autonomen Gebiete.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Zentralirak, Kanakin, Kurden, Gruppenverfolgung, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Illegale Ausreise, Antragstellung als Asylgrund, Strafverfolgung, Politmalus, Amnestie, Interne Fluchtalternative, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum, Versorgungslage, Soziale Bindungen, UNHCR, Flüchtlingslager
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; Irak.Dekret Nr. 110 v. 28.6.99
Auszüge:

 

Dem Kläger drohen wegen seiner illegalen Ausreise aus dem Irak, seiner Asylantragstellung und dem Verbleiben im Ausland bei seiner Rückkehr asylrelevante Maßnahmen.

Eine inländische Fluchtalternative im Nordirak kommt für ihn nicht in Betracht, weil mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine ausreichende Existenzmöglichkeit nicht festgestellt werden kann.

Die Berufung führt daher unter Abänderung des angefochtenen Urteils zur Verpflichtung der Beklagten, festzustellen, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Irak vorliegen.

Nach Überzeugung des Senats sieht der irakische Staat die ungenehmigte (illegale) Ausreise aus dem Staatsgebiet, das Verbleiben im Ausland und die Stellung eines Asylantrages generell als Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und als Kritik am herrschenden System an, durch die der ungenehmigt ausgereiste Asylbewerber die dem irakischen Staat zukommende Loyalität verletzt. Einem solchen asylsuchenden irakischen Staatsangehörigen droht deshalb grundsätzlich bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit menschenrechtswidrige Behandlung oder schwere Bestrafung (Politmalus), die einer politischen Verfolgungsmotivation des irakischen Staates entspringt.

Auf Amnestien können in diesem Zusammenhang irakische Staatsangehörige nicht vertrauen. Nach den überzeugenden Darlegungen des Auswärtigen Amtes (vgl. Lageberichte vom 25.10.1999, vom 15.2.2001 und 5.9.2001), unter Bezugnahme auf eine Einschätzung des UNHCR (vom 15.2.2001 S. 12), ist gegenüber dem Dekret Nr. 110 vom 28. Juni 1999 - Verzicht auf Strafverfolgung und Bestrafung von "Landesflüchtlingen" äußerste Vorsicht angebracht, weil der Text des Dekrets zu offen und zu vage gehalten ist, um eine Implementierung zu ermöglichen. Nach Überzeugung des Senats gibt es deshalb keine hinreichende Sicherheit, dass sich der irakische Staat in allen Einzelfällen, insbesondere bei seinem offensichtlichen Hang zum willkürlichen und unsystematischen Vorgehen, an diese Amnestie halten wird. Hieran ändert auch nichts die Tatsache, dass auf der Grundlage dieses Dekrets irakische Flüchtlinge aus dem Iran und Jordanien in den Irak zurückkehren konnten ohne durch den irakischen Staat asylrelevant belangt zu werden. Aus diesen Vorgängen kann nicht mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit auf ein entsprechendes Verhalten gegenüber rückkehrenden Flüchtlingen aus der Bundesrepublik Deutschland geschlossen werden.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerfG vom 10.7.1989 a.a.O., vom 10.11.1989 BVerfGE 81,58/65 f. = BayVBI 1990, 147; BVerwG vom 15.5.1990 a.a.O., vom 20.11.1990 BVerwGE 87, 141; vom 9.9.1997 a.a.O.) liegt eine die inländische Fluchtalternative ausschließende existenzielle Notlage vor, wenn der Asylsuchende am verfolgungssicheren Ort eine unzumutbare, verfolgungsbedingte Verschlechterung seiner Lebensumstände dadurch erleidet, dass das wirtschaftliche Existenzminimum nicht gewährleistet ist. Dies schließt die Eignung als inländische Fluchtalternative jedoch nur dann aus, wenn eine gleichartige existenzielle Gefährdung am Herkunftsort des Asylsuchenden nicht bestünde. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass dem regional Verfolgten zwar nicht zugemutet werden darf, sich, um der Verfolgung zu entgehen, in eine existenzielle Notlage zu begeben, dass er aber dann, wenn er dieser Notlage bereits an seinem Herkunftsort ausgesetzt war, durch die Wohnsitznahme am verfolgungssicheren Ort keine verfolgungsbedingte und darum unzumutbare Verschlechterung seiner Lebensumstände erleidet (vgl. BVerwG vom 9.9.1997 a.a.O.). Letzteres trifft beim Kläger jedoch deshalb nicht zu, weil er nach seinem glaubhaften Sachvortrag vor seiner Ausreise aus dem Irak in Kanakin, Zentralirak, bei seinen Eltern gelebt hat, als Bäcker gearbeitet hat und dadurch ein ausreichendes wirtschaftliches Auskommen gefunden hatte.

Damit stellt sich die Frage, ob der Kläger auch in den "autonomen" kurdischen Provinzen im Nordirak, also außerhalb seines Herkunftsortes, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit das erforderliche wirtschaftliche Existenzminimum finden könnte.

Nach den das Gericht überzeugenden Ausführungen des Auswärtigen Amtes und des UNHCR (vgl. die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten allgemeinen Lageberichte a.a.O.; UNHCR vom 15.2.2001, vom 23.11.2001 an und Niederschrift des OVG des Landes Sachsen-Anhalt vom 6.12.2001 a.a.O.), kommt für einen irakischen Staatsangehörigen, der ursprünglich in keiner Verbindung mit der kurdischen Gesellschaft im Nordirak stand, dieses Gebiet nur dann als Möglichkeit der internen Relokation in Betracht, wenn er sich für eine beachtliche Zeit ohne Schutzprobleme im Norden niedergelassen hatte und es angesichts der Umstände seines Falles offensichtlich ist, dass er sich angemessen in die örtliche Gemeinde integriert hat (UNHCR vom 15.2.2001 a.a.O.). Ohne ausreichende familiäre, gesellschaftliche oder politische Beziehungen im Nordirak ist er nicht in der Lage, dort ein zumutbares Existenzminimum sicherzustellen, weil es ihm weder möglich ist einen selbstständigen Aufenthalt (Wohnung) zu nehmen noch eine Arbeitsstelle zu finden (vgl. UNHCR vom 23.11.2001 a.a.O.).

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kann nach Überzeugung des Senats auch nicht allein aus der Tatsache, dass der Kläger an einem Ort im Zentralirak gelebt hat, der relativ nahe zu den "autonomen" Provinzen im Nordirak liegt, geschlossen werden, dass aufgrund seit Jahren gewachsener Stammes- und Familienbande zwischen dem Nordirak und den unmittelbar angrenzenden Siedlungsgebieten eine wie oben dargelegte besondere Beziehung zum Nordirak bestünde. Hierzu bedürfte es weiterer konkreter Anhaltspunkte, die vorliegend nicht ersichtlich sind.

Auch die Möglichkeit der Aufnahme in ein vom UNHCR betriebenes Lager im Nordirak schafft nach Überzeugung des Senats noch keine dauerhafte Sicherung eines Existenzminimums.

Unabhängig davon ist bei einer Rückkehr in den Nordirak der Aufenthalt in einem Lager des UNHCR für einen Iraker aus dem Zentralirak, der illegal ausgereist ist, sich ungenehmigt im Ausland aufgehalten und dort Asylantrag gestellt hat, auch deshalb nicht zumutbar, weil dadurch die erhebliche Gefahr bestünde, dass durch diesen Lageraufenthalt die zentralirakischen Behörden vom aus ihrer Sicht rechtswidrigen Verhalten ihres Staatsangehörigen Kenntnis erlangen könnten.

Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung (vgl. Urt. vom 16.11.2002 Az. 23 B 99.32553, zuletzt vom 10.7.2001 Az. 23 B 00.30707) zum Ausdruck gebracht, dass hinreichend sichergestellt sein muss, dass die zentralirakischen Machthaber auch im Falle eines für möglich gehaltenen Wiedereinmarsches in den Nordirak von der illegalen Ausreise, dem Auslandsaufenthalt und der Asylantragstellung keine Kenntnis erlangen. Dies ist bei Personen, die in Lagern leben müssen, nicht sichergestellt, weil ein derartiger Aufenthalt, im Gegensatz zu Binnenvertriebenen, hinreichende Verdachtsmomente für die oben genannten Verstöße liefert.