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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 30.01.2009 - 37 X 193.05 - asyl.net: M15525
https://www.asyl.net/rsdb/M15525
Leitsatz:
Schlagwörter: Serbien, Roma, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Übergriffe, Amtswalterexzess, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, Wohnraum, Krankheit, psychische Erkrankung, Depression, Suizidgefahr, posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die Kläger können weder ihre Anerkennung als Asylberechtigte gemäß § 16 a Abs. 1 GG noch die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise die des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen, beanspruchen. [...]

Sowohl die vom Staat ausgehende unmittelbare als auch die von Dritten ausgehende und dem Staat wegen fehlender Schutzbereitschaft nach § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG zurechenbare mittelbare Gruppenverfolgung setzen eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener politischer Verfolgung rechtfertigt. Hierfür muss eine so große Vielzahl von Eingriffshandlungen (vgl. Art. 9 Richtlinie 2004/83 EG des Rates vom 29. April 2004 - Richtlinie 2004/83/EG -) in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter gegeben sein, dass sich daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit ableiten lässt. [...]

Die Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung der in Serbien lebenden Roma liegen nicht vor. Die Roma gehören zwar auch heute noch überwiegend den untersten sozialen Schichten der Bevölkerung an, ihre Lage ist durch Armut und schlechte Wohnverhältnisse gekennzeichnet (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 23. April 2007, 1.3.4). Bereits in der Rechtsprechung zum früheren Jugoslawien bildete es aber eine gefestigte Erkenntnis, dass Angehörige des Volkes der Roma zwar mit Diskriminierungen, insbesondere mit erheblichen Benachteiligungen im beruflichen Bereich, zu rechnen hatten, dass diese aber nicht die Schwelle der politischen Verfolgung erreichten. Die unzureichende Integration der Roma in das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Leben im früheren Jugoslawien beruhte vielfach auf deren niedrigem Ausbildungsniveau und den Eigentümlichkeiten ihres Lebensstils sowie auch auf den Vorurteilen der Angehörigen anderer Volksgruppen, sie war dagegen nicht Folge einer gezielten, systematischen Diskriminierungspolitik der staatlichen Organe (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 18.11.1991- A 13 S 1711/91 -, vom 02.12.1991 - A 13 S 1816/91 -, vom 16.12. 1991 - A 13 S 1939/91 - und vom 14. Juni 1994 - A 14 S 1990/93 -, VGH BW-Ls 1994, Beilage 9, B4 - JURIS). Eine wesentliche Änderung dieser Sachlage ist auch im Jahre 2008/2009 nicht zu verzeichnen. Bei den in jüngerer Zeit dokumentierten Übergriffen aus der Bevölkerung gegen Minderheiten wie die Roma etwa in der Vojvodina (vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 21.01.2004: Übergriffe auf Minoritäten in der Vojvodina; Neue Zürcher Zeitung vom 31.08.2004: Belgrad ignoriert Gewalt in der Vojvodina) handelte es sich um drastische Einzelfälle, die sich in der Folgezeit nicht wiederholt haben. Von pogromartigen Ausschreitungen ist dem Gericht nichts bekannt. Im Übrigen fehlen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der serbische Staat das rechtswidrige Vorgehen von Teilen der Bevölkerung gegen die Roma und andere Minoritäten duldet oder gar unterstützt.

Erst recht fehlen Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm, das auf die gewaltsame Vertreibung oder gar Vernichtung der Roma in Serbien gerichtet war bzw. ist. [...]

Aus etwaigen Übergriffen durch Angehörige der serbischen Mehrheitsbevölkerung oder einzelner Amtswalter folgt weder ein Asylanspruch noch lässt sich ein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG, auch nicht nach Satz 4 lit. c der Vorschrift herleiten. Gem. § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) des AufenthG kann eine politische Verfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die unter Buchstaben a) und b) genannten Akteure - Staat oder Parteien bzw. Organisationen, die den Staat beherrschen - einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten. Hierzu bedarf es zumindest dann, wenn eine generelle, an die Ethnie anknüpfende Schutzverweigerung des Staates behauptet wird, konkreter und gesicherter Anhaltspunkte dafür, dass der Staat keine zureichenden Vorkehrungen zur Eindämmung privater Gewalt gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen getroffen hat bzw. seine Machtmittel zur Ahndung gewaltsamer Übergriffe nicht ausreichen (vgl. Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 7 UE 1365/05.A, Urteil vom 20. Oktober 2005, juris-Abdruck, S. 17). Der Umstand allein, dass die staatlichen Organe trotz prinzipieller Schutzbereitschaft nicht immer in der Lage sind, die Betroffenen vor derartigen Übergriffen wirkungsvoll zu schützen, reicht hierfür nicht aus (vgl. hierzu auch die Rechtsprechung zur früheren Rechtslage BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 1.94 -, NVwZ 1995, 391; Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 , InfAuslR 1991, 363). Kein Staat vermag einen schlechthin perfekten, lückenlosen Schutz zu gewähren und sicherzustellen, dass Fehlverhalten, Fehlentscheidungen oder "Pannen" sonstiger Art einschließlich sog. Amtswalterexzesse oder bei der Erfüllung der ihm zukommenden Aufgabe der Wahrung des inneren Friedens nicht vorkommen. Deshalb lässt weder eine Lückenhaftigkeit des Systems staatlicher Schutzgewährung überhaupt noch eine im Einzelfall von den Betroffenen erfahrene Schutzversagung als solche schon staatliche Schutzbereitschaft oder Schutzfähigkeit entfallen. Umgekehrt ist eine grundsätzliche Schutzbereitschaft des Staates zu bejahen, wenn die zum Schutz der Bevölkerung bestellten (Polizei-) Behörden bei Übergriffen Privater zur Schutzgewährung ohne Ansehen der Person verpflichtet und dazu von der Regierung auch landesweit angehalten sind (BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 1/94, a.a.O.). Dies war jedenfalls in Jugoslawien seit Übernahme der Regierungsgewalt durch das Bündnis der demokratischen Opposition Serbiens (DOS) im Oktober 2000 der Fall. Dass sich dies nach dem Sieg der Serbischen Radikalen Partei bei den vorletzten Parlamentswahlen im Frühjahr 2007 grundlegend geändert hat, ist nicht ersichtlich. [...]

Soweit die Kläger auf die allgemeine Lage der Roma in Serbien verweisen, hat das Vorbringen aus den in den Bescheiden genannten Gründen keinen Erfolg. Ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist hierdurch nicht dargetan.

Zwar sind auch sonstige, die Gruppe der Roma in Serbien-Montenegro insgesamt treffende Gefährdungslagen wie Versorgungsschwierigkeiten mit Nahrungsmitteln und Wohnraum in Betracht zu ziehen.

Grundsätzlich ist bei solchen Gefährdungen - auch dann, wenn sie den einzelnen Ausländer konkret und in individualisierbarerweise betreffen - Abschiebungsschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung gemäß § 60 a Abs. 1 AufenthG zu gewähren. Abschiebungsschutz durch das Gericht könnte daher nur dann gewährt werden, wenn die Gewährung von Abschiebungsschutz durch das Verfassungsrecht zwingend geboten wäre, d.h. wenn landesweit eine extreme allgemeine Gefahrenlage bestünde, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jeden einzelnen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde (BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 1994 - BvL 81/92 und BvL 82/92 -, InfAuslR 1995 251; BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 - E 99, 324, 328; Urteil vom 29. März 1996 - 9 C 116.95 -, NVwZ Beil. 8/1996, 57; Urteil vom 19. November 1996 - 1 C 6.95 -, InfAuslR 1997, 193). Eine solche zu berücksichtigende existentielle Extremgefährdung bei einer Rückkehr nach Serbien durch mangelnde Versorgung mit Nahrung und Unterkunft ist nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die abschiebungsrelevante Lage in der Republik Serbien vom 23. April 2007, S. 18 ff.) nicht anzunehmen, wenngleich nicht verkannt wird, dass sich die Existenzbedingungen für Roma in Serbien außerordentlich schwierig gestalten und keineswegs mitteleuropäischen Standards entsprechen (vgl. hierzu a.a.O., S. 15, 16; ferner: Gesellschaft für bedrohte Völker vom Oktober 2001: Minderheit ohne Stimme).

Auch soweit sich insbesondere die Klägerin zu 2. auf Erkrankungen beruft, kann eine erhebliche und konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG bei Rückkehr in ihr Heimatland nicht festgestellt werden. [...] Nach ständiger Auskunft des Auswärtigen Amtes (vgl. zuletzt Lagebericht 2008, S. 22) gibt es nur sehr wenige Erkrankungen, die in Serbien grundsätzlich nicht oder nur schlecht behandelt werden können. Gemeldete und registrierte Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger sind pflichtversichert, zahlen aber keine Versicherungsbeiträge. Angehörige der Roma und anderer Minderheiten genießen im Rahme des staatlichen Gesundheitssystems die gleichen Rechte wie die serbische Mehrheitsbevölkerung (AA, aaO, S. 21). Der Bericht des UNHCR vom September 2004, auf den sich die Kläger beziehen, bezieht sich nur auf die sog. Binnenvertriebenen aus dem Kosovo, die in der Tat Probleme bei der Registrierung haben. Zu diesem Personenkreis gehören die aus in Serbien stammenden Kläger jedoch ersichtlich nicht. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die genannten Erkrankungen auch in Serbien behandelt werden können. Ebenso wenig liegt eine erhebliche und konkrete Leibes- und Lebensgefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG mit Rücksicht auf das von Dr. ... im Attest vom 15. September 2005 sowie vom ... Klinikum im Attest vom 8. April 2008 diagnostizierte depressive Syndrom mit Suizidalität im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung vor. Es ist nicht ersichtlich, dass die schwere depressive Störung der Klägerin zu 2. mit einhergehender Suizidalität nicht auch in Serbien behandelt werden kann, mag das dortige Gesundheitssystem auch nicht die hohen Standards westeuropäischer Gesundheitssysteme erfüllen. [...]