VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 04.02.2009 - 9 A 3/06 - asyl.net: M15527
https://www.asyl.net/rsdb/M15527
Leitsatz:

Widerruf der Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Angolas.

Schlagwörter: Angola, Widerruf, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Änderung der Sachlage, Friedensabkommen, Luanda, Versorgungslage, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Situation bei Rückkehr, Wohnraum, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. [...]

Rechtsgrundlage für den Widerrufsbescheid ist § 73 Abs. 3 AsylVfG. Danach ist die Entscheidung darüber, ob die Voraussetzungen unter anderem des § 60 Abs. 7 AufenthG (bzw. des früheren § 53 Abs. 6 AuslG) vorliegen, zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. [...]

Das Gericht hat in seinem Urteil vom 07. März 1997 festgestellt, dass eine extreme Gefährdung in diesem Sinne für die Kläger vorläge. Die Voraussetzungen für diese Feststellung sind schon deshalb entfallen, weil in dem Urteil ausdrücklich auf die Gefährdung für Familien mit minderjährigen Kindern abgestellt wird, die Kläger aber heute beide nicht mehr minderjährig sind.

Auch insgesamt hat sich die Situation in Angola seitdem erheblich zum Positiven verändert.

Im Jahre 1997 befand sich in Angola noch im Bürgerkrieg. Nach den im Urteil vom 07. März 1997 zugrunde gelegten Erkenntnissen (im Wesentlichen Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 29.12.1995 und 15.01.1997; Auskunft des Auswärtigen Amtes an VGH Baden-Württemberg vom 05.09.1994 und dpa-Meldung vom 09.11.1995) waren sowohl die Versorgungslage mit Nahrungsmitteln als auch die allgemeine medizinische Versorgung in Angola äußerst kritisch. Eine soziale Sicherheit auch nur rudimentärer Art sei nicht bekannt. Die Unterkunftsmöglichkeiten für Rückkehrer ohne Familie oder Freunde seien fast Null. Eine ausreichende Versorgung von Rückkehrern ohne Arbeit und Familie mit Nahrungsmitteln sei kaum denkbar. Von einem auch nur minimal funktionierenden Gesundheitswesen könne in den meisten Teilen des Landes nicht die Rede sein.

Demgegenüber hat sich die Situation seit dem Friedensabkommen im Jahre 2002 erheblich verbessert. Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26.06.2007 ist im Großraum Luanda die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern des Alltags weitgehend gewährleistet. Die Versorgung habe sich dort seit 2002 spürbar verbessert; eine kontinuierliche weitere Verbesserung sei zu erwarten. Es bestehe eine sehr ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen. Die Hauptstadt Luanda verzeichne einen durch Bürgerkrieg und Landflucht verursachten Bevölkerungszuwachs, der die Einwohnerzahl seit der Unabhängigkeit 1975 von ca. 600.000 Tausend auf 5 Mio. anschwellen ließ. Einige Stadtteile verfügten deshalb nicht über fließend Wasser, sondern würden durch öffentliche Wasserstellen oder Tankwagen mit Wasser versorgt. In der Hauptstadt Luanda gebe es funktionierende staatliche Krankenhäuser und qualifizierte Ärzte. Notwendige Medikamente seien jedenfalls in Luanda in der Regel vorhanden oder beschaffbar. Sämtliche Krankheiten, die in Angola häufiger vorkommen, könnten ohne weiteres behandelt werden. In staatlichen Krankenhäusern sei die Behandlung "unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der Patienten" kostenlos. Seit 2003 werde von den Patienten eine geringe symbolische Kostenbeteiligung verlangt. In zahlreichen Krankenhäusern Luandas betrage diese Gebühr 200 angolanische Kwanza für die gesamte Behandlung; dies entspricht etwa 2 Euro. In der Praxis könne es an staatlichen Krankenhäusern vorkommen, dass Krankenhausbedienstete - sogar Ärzte - Bestechungsgelder für die Behandlung verlangten. In staatlichen Krankenhäusern könne es zu Engpässen bei der Medikamentenversorgung kommen. In Angola seien zahlreiche internationale Hilfsorganisationen und Unterorganisationen der Vereinten Nationen tätig. Seit 2002 seien rund 400.000 angolanische Flüchtlinge aus den Nachbarländern und auch aus EU-Staaten zurückgekehrt. Ein Teil der zurückgekehrten Flüchtlinge werde von Familienangehörigen unterstützt oder finde Arbeit im informellen Sektor.

Die aktuellste Information der Schweizerischen Flüchtlingshilfe über die Verhältnisse in Angola stammt vom 15.07.2006. Sie weist darauf hin, dass Angola nach dem aktuellen UN-Index für menschliche Entwicklung immer noch zu den ärmsten Ländern der Welt gehört. Eine hohe Analphabeten-Rate, Unterernährung, hohe Kindersterblichkeit und mangelnder Zugang zu sauberem Trinkwasser stellten ernsthafte Probleme dar. Es gebe zwar eine leichte Verbesserung im Vergleich zur Situation von 2004, aber das Landminenproblem und die ungenügende Verkehrsinfrastruktur machten den wirtschaftlichen Wiederaufbau schwierig. Die Rückkehrer fänden ein Land vor, das von Landminen überzogen sei, dessen Infrastruktur immer noch zum Großteil zerstört sei und in dem es nur sehr wenige Arbeitsplätze gebe. Auch Wohnraum insbesondere in Luanda sei sehr knapp. Personen, die nicht auf soziale Netze zurückgreifen könnten, hätten ernsthafte Probleme, ihr Überleben zu sichern. Die Rückkehr von Millionen von Flüchtlingen habe zu neuen Besiedlungsstrukturen geführt. Heute lebten 50-60 % der Bevölkerung in städtischen Gebieten. Diese enormen Migrationsbewegungen würden jedoch nicht durch Investitionen in die Infrastruktur unterstützt, insbesondere die Wasser- und Gesundheitsversorgung sowie der Zugang zu Schulen sei nicht gewährleistet. Die Nahrungsmittelversorgung könne ebenfalls ein Problem darstellen. Bis heute gebe das angolanische Rote Kreuz Nahrungsmittel an Bedürftige aus, da es auch nach dem Krieg nicht möglich gewesen sei, die Selbstversorgung der Bevölkerung zu sichern. Die medizinische Versorgung sei auf primärer, sekundärer und tertiärer Ebene unzureichend. Es handele sich vor allem um eine Ressourcenknappheit (Personal, Material) kombiniert mit einer ungleichen Ressourcenverteilung (Unterschiede zwischen städtischen Zentren und ländlichen Gegenden, was sich anlässlich der seit Februar 2006 landesweitverbreiteten Cholera-Epidemie deutlich gezeigt habe. Es gebe kein Versicherungssystem wie Krankenkassen, private Krankenversicherungen oder ähnliches.

Aktuelle Stellungnahmen des UNHCR liegen - soweit ersichtlich - derzeit nicht vor. Einem Bericht der Zeitung "Le Monde Diplomatique - Deutsche Ausgabe" vom 09.05.2008 zufolge ist das Land von dem Widerspruch zwischen Wirtschaftsboom auf der einen Seite und erheblichen sozialen Problemen auf der anderen Seite geprägt. Das Land erhalte enorme Einnahmen aus dem Ölgeschäft und seit 2004 auch zinsgünstige Kredite aus China, Brasilien, Spanien und Deutschland. Überall im Lande sei mit kostspieligen Bauvorhaben begonnen worden. Auf der anderen Seite werde in Luanda, heute einer der teuersten Hauptstädte der Welt, mit dem Zustrom der Flüchtlinge der Wohnraum knapp. 2/3 der 5 Mio. Einwohner lebten in riesigen, schlecht versorgten Vororten, mit schnell hochgezogenen Bruchbuden, um all die Leute unterzubringen. Der Anteil der Sozialausgaben am Staatshaushalt sei seit Kriegsende erheblich gestiegen: von nur 4 % 2005 auf den Rekordanteil von 31 % im laufenden Haushaltsjahr. Andererseits habe fast die Hälfte der Bevölkerung immer noch keinen direkten Zugang zu Trinkwasser und Elektrizität sowie zu einer medizinischen Grundversorgung.

Nach diesen Erkenntnissen ist die aktuelle Versorgungs- und Gesundheitssituation zwar immer noch problematisch, hat sich aber gegenüber der Situation im Jahre 1997 - noch vor Ende des Bürgerkrieges - ganz erheblich verbessert. Das Bundesamt ist zu Recht davon ausgegangen, dass aufgrund der geänderten Situation die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nicht mehr vorliegen. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass es für die Kläger, die sich seit ihrer Kindheit in Deutschland aufhalten und nach ihren Angaben keinerlei Kontakte mehr nach Angola haben, problematisch sein wird, dort einen neuen Anfang zu machen. Es ist auch möglich, dass aufgrund der Schwierigkeiten, bezahlbaren Wohnraum und Arbeit zu finden, eine Gefährdung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gegeben ist. Da es sich hierbei jedoch um Gefahren handelt, die alle Rückkehrer nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland betreffen, greift insoweit die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, so dass nach den o.g. Grundsätzen die Feststellung eines Abschiebungshindernisses in verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift nur dann in Betracht kommt, wenn die Kläger einer extremen Gefährdung ausgesetzt wären und gleichsam "sicheren Auges in den Tod" geschickt werden würden. Eine derart zugespitzte Gefahrenlage ist jedoch nicht mehr anzunehmen. Die Kläger sind jung, gesund und für angolanische Verhältnisse gut ausgebildet. Sie sprechen eine in Angola gebräuchliche Sprache; auch ihre Portugiesisch-Kenntnisse dürften sich "reaktivieren" lassen. Nach den o.g. Erkenntnissen ist deshalb davon auszugehen, dass sie sich mit Gelegenheitsarbeiten zumindest über Wasser halten könnten, wobei ihnen ihre begonnene bzw. fast abgeschlossene Ausbildung zum Maler und Lackierer gerade im Hinblick auf den "Bauboom" in Luanda helfen dürfte. Darüber hinaus könnten sie notfalls die Unterstützung der zahlreichen internationalen

Hilfsorganisationen in Anspruch nehmen. Nach den Erkenntnissen des Lageberichtes des Auswärtigen Amtes vom 26.06.2007 ist im Übrigen auch davon auszugehen, dass aus dem Ausland zurückkehrende Angolaner in Luanda in der Regel rasch Anschluss zu Menschen aus ihrer Heimatprovinz finden. [...]