VG Gießen

Merkliste
Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 22.01.2009 - 3 K 8/08.GI.A - asyl.net: M15529
https://www.asyl.net/rsdb/M15529
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines iranischen Staatsangehörigen nach Konversion zum Christentum wegen der voraussichtlichen Einführung eines Straftatbestandes der Apostasie in das iranische Strafgesetzbuch.

Schlagwörter: Iran, Christen, religiös motivierte Verfolgung, Religion, Konversion, Apostasie, Minderjährige, Religionsmündigkeit, Strafrecht, Gesetzentwurf, Todesstrafe
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet.

Das Gericht ist aufgrund der Angaben der Kläger, der beigezogenen Gerichts- und Behördenakten und nach Auswertung aller in das Verfahren eingeführten Dokumente und Quellen zu der Auffassung gelangt, dass der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hat.

Der Einzelrichter geht auf der Grundlage der vom Kläger vorgelegten Unterlagen davon aus, dass dieser während seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland seine zunächst muslimische Religionszugehörigkeit aufgegeben und einen christlichen Glauben angenommen hat. Dass der Kläger derzeit noch minderjährig ist steht der Annahme eines Religionswechsels nicht entgegen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Urteil vom 17.08.1993 (Az.: 9 C 8/93) ausgeführt:

"Die Eigenschaft einer "religiös geprägten Persönlichkeit" als Voraussetzung für die Verfolgungsqualität von Einschränkungen und Behinderungen der Glaubensbetätigung besitzt indessen nur, wer die Überzeugungen und Forderungen seines Glaubens als wesentliches Element seiner Einstellung zu Welt und Menschen in sich aufgenommen hat. Hingegen genügt es nicht, daß der von dem Eingriff in die Freiheit der Glaubensbetätigung Betroffene der Religionsgemeinschaft lediglich in einem formalen Sinne zugehört oder zugerechnet wird, die Glaubenssätze und Gebote dieser Religion jedoch nicht - mehr - als verpflichtend für sich ansieht und auch nicht mehr nach ihnen zu leben bemüht ist (Urteil vom 9. Februar 1988 - BVerwG 9 C 276.86 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 77 m.w.N.). Im Prinzip nichts anderes gilt auch bei einem Kinde; auch ihm gegenüber sind Einschränkungen der Freiheit zur Religionsausübung nur dann Verfolgung im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG, wenn das Kind in seiner Persönlichkeit religiös geprägt ist, mag hierfür auch nicht eine in gleichem Maße wie bei einem Erwachsenen gefestigte und verwurzelte religiöse Überzeugung verlangt werden können ..."

Da der Kläger jedenfalls im Zeitpunkt seiner Konfirmation bereits religionsmündig war, hat der Einzelrichter keine Zweifel, dass er auch fähig war, unabhängig von seinen Eltern eigenständig eine religiöse Identität zu finden. [...]

Der Einzelrichter nimmt deshalb, dass der Kläger sich selbst als Christ versteht und im Fall seiner Rückkehr diese religiöse Identität entweder bewusst nach außen kehren oder - wie die Beklagte in ihrem Bescheid annimmt- aufgrund "eines altersbedingten Mangels an der Fähigkeit, sich in Gesprächen selbst über Alltagsthemen zurückzunehmen" unbeabsichtigt erkennen lassen wird. [...]

Die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Gießen und ihre Einzelrichter sind in langjähriger Rechtsprechung davon ausgegangen, dass nicht jedem Apostaten mit der

erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohte. Entscheidend für die Verfolgungsprognose war vielmehr, ob ein zum Christentum übergetretener Moslem selbst eine missionarische Tätigkeit in herausgehobener Position entfaltet hatte oder bei einer Rückkehr in den Iran entfalten würde, oder ob er sich in anderer exponierter Weise für die christliche Religion eingesetzt hatte, die aus Sicht der Mullahs als Angriff auf den Bestand der Islamischen Republik Iran hätte angesehen werden können.

Unter Berücksichtigung der jüngsten Entwicklungen hält der Einzelrichter an dieser Auffassung nicht mehr fest. [...]

b. In seiner Auskunft vom 1.4.2008 führte das Max-Planck-Institutes für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg aus, seit Dezember 2007 befinde sich ein Gesetzentwurf im parlamentarischen Verfahren, der die Aufnahme des Straftatbestands der Apostasie in das kodifizierte iranische Strafgesetzbuch zum Gegenstand hat. Der geplante Art. 225 sehe als Sanktion für den Abfall vom Islam die Todesstrafe bzw. lebenslange Freiheitsstrafe vor. Das Gesetzesvorhaben habe zu zahlreichen internationalen Protesten geführt; die Europäische Union habe in einer Erklärung vom 25.2.2008 den geplanten Gesetzentwurf als Verletzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen Irans kritisiert.

c. In einer Auskunft des AA an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 21.08.2008 hieß es dazu noch:

"... Iranischen Medien im vergangenen Jahr zufolge ist dem iranischen Parlament (Majlis) eine Gesetzesvorlage zur Novellierung des iranischen Strafgesetzbuches vorgelegt worden. Darin sei die Einführung eines Apostasie-Straftatbestands vorgesehen. Bis zum Ende der vergangenen Legislaturperiode sollte das Vorhaben in den zuständigen Parlamentsausschüssen beraten werden. Seit der konstituierenden Sitzung der 8. Majlis (am 27.05.2008) ist nicht mehr über den Stand des Gesetzesvorhabens berichtet worden. Mittlerweile gibt es hinsichtlich der Gesetzesvorlage widersprüchliche Äußerungen. So behaupten der Vorsitzende der Assyrischen Kirche in Iran, ..., der auch einer der Abgeordneten der christlichen Minderheiten in der Majlis ist, sowie der bisherige Vorsitzende des parlamentarischen Justizausschuss der Majlis, dass ein solches Gesetzesvorhaben im Parlament unbekannt sei. Im Justizausschuss der Majlis werden alle eingehenden Gesetzesänderungen zunächst registriert und im Anschluss an den parlamentarischen Geschäftsweg gegeben. Diese Aussagen überraschen und vor dem Hintergrund, dass es in den Medien um das Gesetzesvorhaben still geworden ist, kann zurzeit nicht davon ausgegangen werden, dass mit einer baldigen Beschlussfassung zu rechnen ist. Diese Auffassung wird zurzeit auch von der überwiegenden Mehrheit der Kirchenleitungen der christlichen Glaubensgemeinschaften in der Islamischen Republik Iran geteilt ..."

d. In einer weiteren Auskunft des Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg vom 13.11.2008 an das Sächsische Oberverwaltungsgericht wurde dann mitgeteilt, dass in das Ende 2007 initiierte Gesetzesvorhaben zur Aufnahme der Apostasie als Straftatbestand in das iranische Gesetzbuch, das monatelang im Parlament gelegen habe, Bewegung gekommen sei. Der Gesetzentwurf sei am 09.09.2008 in erster Lesung vom Parlament angenommen worden. Damit sei die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Apostasie strafbar wird, gestiegen.

e. Auch Uwe Brocks bestätigt in seinem Gutachten an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 15.10.2008 die Annahme des Gesetzesentwurfes durch das iranische Parlament in der ersten Lesung am 09.09.2008 mit 196 zu 7 Stimmen. Das Gesetz müsse allerdings noch ein weiteres Mal im Parlament (Majlis) beraten und sodann noch vom Wächterrat bestätigt werden. Angesichts der enormen Mehrheit für

den Gesetzentwurf sei nicht anzunehmen, dass das Gesetz in einer weiteren Lesung

durchfallen werde.

f. Ein weiterer Schritt im Gesetzgebungsverfahren wurde nach dem Bericht der Deutschen Botschaft in Teheran vom 27.11.2008 am 11.11.2008 vollzogen. [...]

g. Zur Frage der voraussichtlichen Geltung des Gesetzes für Auslandsstraftaten von Iranern und der Rückwirkung vertritt das Max-Planck-Institut in seiner Auskunft vom 13.11.2008 folgende Ansicht:

"Für den Fall, dass die Apostasie in einem neu verabschiedeten Strafgesetzbuch als Straftatbestand aufgenommen wird, stellen sich ferner zwei strafrechtliche Folgefragen: ob damit zu rechnen ist, dass nach den Vorschriften des neuen iranischen Rechts die Auslandstat eines Iraners strafbar sein wird und ob es ein Rückwirkungsverbot gibt oder geben wird, das die Bestrafung von Taten, die vor Inkrafttreten des Gesetzes begangen worden sind, ausschließt.

Zur ersten Frage ist zu sagen, dass bereits nach geltendem Recht die Auslandstat eines iranischen Staatsangehörigen nach den Artikeln 5-7 irStGB (Anlage) strafbar sind und eine solche Strafbarkeit auch in dem Entwurf des neuen Strafgesetzbuchs vorgesehen ist (Art. 112-3, 112-4, 112-5). Es ist daher anzunehmen, dass es in der Endfassung eines neuen StGBs dabei bleiben wird.

Problematischer ist die Frage der Rückwirkung. Das jetzt geltende Strafgesetzbuch sieht zwar ein Rückwirkungsverbot vor (Art. 11 StGB, Anlage). Dieses umfasst jedoch nur die vom Staat geschaffenen Normen, nicht aber das religiöse Kernstrafrecht (hadd-, qisas- und diya-Straftaten), zu dem auch die Apostasie als hadd-Delikt gehören würde. Begründet wird das damit, dass die Strafbarkeit der Delikte, die zum religiösen Kernstrafrecht gehören, seit Entstehung des Islams bekannt sei und daher ein Vertrauensschutz für die Zeit vor der Kodifizierung eines solchen Delikts nicht angebracht sei. Der Entwurf des neuen Strafgesetzbuchs sieht jetzt aber dennoch ein

Rückwirkungsverbot für alle Strafnormen (Art. 113-1) vor und unterscheidet nicht mehr zwischen religiösem Kernstrafrecht und sonstigem Strafrecht. Hier sind erhebliche Zweifel angebracht, ob diese Neuregelung in einer Endfassung des Gesetzes Bestand haben wird. Insbesondere besteht Grund zu der Annahme, dass der Wächterrat diese Norm als unislamisch zu Fall bringt. Es ist unseres Erachtens also nicht auszuschließen, dass die Endfassung wiederum kein Rückwirkungsverbot für das religiöse Kernstrafrecht vorsehen und daher auch eine Apostasie, die vor Inkrafttreten einer entsprechenden Strafvorschrift geschieht, strafbar sein wird."

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass

a. ein Gesetzesvorhaben zur Einführung eines Straftatbestandes der Apostasie unter Androhung der Todesstrafe inzwischen weit vorangeschritten ist,

b. die "parlamentarischen Hürden" für das weitere Procedere durch die Verlagerung in den Justiz- und Rechtsausschuss niedriger geworden sind,

c. keine der vorliegenden Auskünfte ernsthafte Zweifel an dem Zustandekommen der Gesetzesänderung, auch nicht im Hinblick auf die erforderliche Zustimmung des Wächterrates äußert,

d. der Zeitpunkt der Gesetzänderung sowie die Frage seiner Rückwirkung noch offen ist.

Bei dieser Sachlage hält es der Einzelrichter (noch) nicht für sicher, dass dem Kläger aus dem Verfolgungsgrund der Religion im Iran Gefahr für sein Leben droht. Allerdings sprechen derzeit mehr Umstände für die Einführung des Straftatbestandes der Apostasie als dagegen. Die für die Annahme einer begründete Furcht im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art 2 c QRL erforderlichen objektiven Anhaltspunkte liegen allerdings prognostisch vor. [...]