VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 20.02.2009 - 2 A 33/08 - asyl.net: M15535
https://www.asyl.net/rsdb/M15535
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines iranischen Staatsangehörigen wegen Festnahme nach Organisation von Protestkundgebungen sowie wegen Übertritts zum Christentum.

Schlagwörter: Iran, Glaubwürdigkeit, Oppositionelle, Studenten, Studentenbewegung, Demonstrationen, Proteste, Inhaftierung, Folter, Menschenrechtslage, Christen, Apostasie, Konversion, religiös motivierte Verfolgung, Strafverfahren, Gesetzentwurf, Gesamtbetrachtung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig und hinsichtlich der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG begründet. [...]

Dem Kläger ist hingegen unter Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Kläger hat glaubhaft gemacht, sich politisch für einen Regimewechsel im Iran eingesetzt zu haben und dadurch in das Blickfeld der iranischen Sicherheitskräfte gelangt zu sein. Nach seinem Vorbringen ist die erkennende Einzelrichterin davon überzeugt, dass er in Verbindung zu einer Studentenbewegung stand, welche sich für die Gewährung demokratischer Grundfreiheiten und einen Wechsel der Regierung durch die Abhaltung von Wahlen einsetzte. Des Weiteren hat der Kläger überzeugend dargelegt, im Zusammenhang mit seinem Engagement für diese Bewegung, die insbesondere Protestkundgebungen veranstaltet hat, festgenommen worden zu sein und im Gewahrsam Folter erlitten zu haben.

Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18. März 2008 lösen private oder öffentliche Äußerungen von Unzufriedenheit und Kritik an der Regierung oder der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lage im Iran zwar nicht in jedem Fall staatliche Zwangsmaßnahmen aus. Dies gilt aber nur für den Regelfall und nur dann, wenn die Werte der Islamischen Revolution und der schiitischen Glaubensrichtung nicht verunglimpft werden, die Anerkennung des staatstragenden Prinzips der Herrschaft der Rechtsgelehrten nicht in Frage gestellt wird und der Protest nicht erkennbar auf einen Sturz des Regimes abzielt. Wann Sicherheitskräfte letzteres für gegeben erachten, ist naturgemäß mit subjektiven Wertungen und Unsicherheiten verbunden.

Das Auswärtige Amt berichtet in seinem Lagebericht darüber, dass Protestveranstaltungen von Studenten immer wieder zu Festnahmen geführt hätten, in deren Zusammenhang der Vorwurf von Folterungen erhoben worden sei. Zur Anwendung von Folter führt es aus, jede Form der Folter und der unmenschlichen Behandlung sei im Iran durch die Verfassung und einfachgesetzlich verboten. Dennoch komme es nach den vorliegenden Erkenntnissen insbesondere im Vorfeld des eigentlichen Verfahrens zu Folterungen und unmenschlichen Behandlungen mit dem Ziel der Erzwingung von Geständnissen. Verhörmethoden und Haftbedingungen im Iran umfassten in diesen Fällen seelische und körperliche Folter, letztere etwa durch Schläge und das Herbeiführen von Verbrennungen mit Zigaretten. Nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck hat der Kläger zur Überzeugung des Gerichts in dieser Weise Folter bzw. unmenschliche Behandlung erlitten.

Zwar bestehen Zweifel daran, dass sich der Kläger im Iran tatsächlich in der von ihm angegebenen herausgehobenen Weise politisch betätigt hat. Ebenso ist die Glaubhaftigkeit der Behauptung, ein Mitglied der Studentenbewegung sei zwischenzeitlich zum Tode verurteilt worden, in Ansehung des Lageberichts des Auswärtigen Amtes, in welchem im Zusammenhang mit Studentenprotesten zwar von Verurteilungen zu Haftstrafen, nicht aber von Todesurteilen berichtet wird, fraglich. Glaubhaft erscheint aber jedenfalls, dass sich der Kläger vor der Ausreise im Iran politisch betätigt und bereits Folter erlitten hat. In Verbindung mit dem Übertritt des Klägers zum christlichen Glauben, der zur Überzeugung der Einzelrichterin von einer ernsthaften Gewissensentscheidung getragen ist, deren Wurzeln nach dem Vorbringen des Klägers in der vom Bundesamt durchgeführten Anhörung schon im Heimatland in der kritischen Haltung des Klägers zum Islam zu sehen sind, erwächst daraus für den Kläger die konkrete Gefahr, bei einer Rückkehr in den Iran staatlichen Repressionen und abschiebungsschutzrelevanten Übergriffen ausgesetzt zu sein.

Nach der Erkenntnislage befindet sich derzeit im Iran ein Gesetzentwurf im parlamentarischen Verfahren, der die Aufnahme des Straftatbestandes der Apostasie in das kodifizierte iranische Strafgesetzbuch zum Gegenstand hat. Der geplante Art. 225 sieht als Sanktion für den Abfall vom Islam die Todesstrafe oder lebenslange Freiheitsstrafe vor. Das Gesetzesvorhaben hat zu zahlreichen internationalen Protesten geführt; die Europäische Union hat den Gesetzentwurf als Verletzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen Irans kritisiert. Dennoch ist der Entwurf am 9. September 2008 im iranischen Parlament in erster Lesung mit 196 zu 7 Stimmen angenommen worden (vgl. Brocks, Gutachten vom 5.6.2008 und vom 15.10.2008 jeweils an den Hess. VGH). Nach der Einschätzung von Brocks ist wegen der enormen Mehrheit, die für den Gesetzentwurf gestimmt hat, nicht anzunehmen, dass der Entwurf in einer weiteren Lesung "durchfalle". Zur allgemeinen Situation von Konvertierten im Iran stellt Brocks fest, dass der politische und justizielle Druck auf konvertierte Muslime stark zugenommen habe. In neuester Zeit werde auch über Inhaftierungen von Christen berichtet, die zum Teil schon seit Jahrzehnten, wenn auch nicht ohne Angst, aber doch ohne staatlichen Zugriff im Iran gelebt hätten (Gutachten vom 15.10.2008). Das Kompetenzzentrum Orient-Okzident der Universität Mainz schätzt die Lage der evangelisch-freikirchlichen Gemeinden im Iran als prekär ein. Die Gemeinden stünden unter strikter Überwachung der iranischen Sicherheitsorgane und Behörden. Alle Gemeindemitglieder müssten mit Ausweisen ausgestattet werden, von denen die iranischen Behörden Fotokopien einforderten. Die Behörden erhielten Mitgliederlisten. Neuaufnahmen von Mitgliedern seien beim Ministerium für Information und islamische Rechtsleitung zu beantragen. Die Versammlungsorte der Gemeinden und ihre Besucher würden kontrolliert (Gutachten vom 29.2.2008 an das Verwaltungsgericht Mainz).

Bei dieser Sachlage erhöht der Übertritt zum christlichen Glauben für den vor der Ausreise politisch aktiven und bereits in das Blickfeld der iranischen Sicherheitskräfte gelangten Kläger die Gefahr, bei einer Rückkehr in den Iran erneut staatlichen Übergriffen ausgesetzt zu sein. Ungeachtet der Frage, ob der Übertritt zum christlichen Glauben für sich allein schon zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG führen muss (vgl. dazu einerseits: Sächs. OVG, Urt. v. 3.4.2008 - A 2 B 36/06 -, juris; andererseits zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG: Hess. VGH, Urt. v. 21.5.2008 - 6 A 612/08 A -), ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft jedenfalls aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls wegen des Zusammentreffens mit dem zur Kenntnis der iranischen Sicherheitskräfte gelangten fortgesetzten politischen Engagement des Klägers, das bereits zu staatlichen Übergriffen geführt hat, geboten (vgl. zum Zusammentreffen anderer gefährdender Umstände mit einer Konversion auch: U. K. Home Office, Arbeitshinweise/Operational Guidance Note vom 28.1.2009, Ziffer 3.6.10). [...]