VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 23.01.2009 - A 4 K 1708/08 - asyl.net: M15542
https://www.asyl.net/rsdb/M15542
Leitsatz:

Tatsächliche oder vermeintliche Kollaborateure serbischer Kräfte sind im Kosovo nach wie vor von Übergriffen durch albanische Gruppen bedroht.

Schlagwörter: Kosovo, Widerruf, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Rechtskraft, Bindungswirkung, Verpflichtungsurteil, Kollaborateure, Roma, Albaner, Racheakte, UCK
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7; VwGO § 121
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist überwiegend begründet. [...]

Gemäß § 73 Abs. 3 AsylVfG ist die Entscheidung, ob die Voraussetzung des § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen, zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. [...]

Das Bundesamt kam jedoch zu Unrecht zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen dieser Vorschriften nicht mehr vorliegen. [...]

Eine solche entscheidungserhebliche Änderung ist vorliegend nicht gegeben. Das Gericht hat in seinem rechtskräftigen Urteil vom 19.03.2003 maßgeblich darauf abgestellt, dass für die Klägerin aufgrund ihrer Situation im Kosovo eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bestehe, weil sie dort als Kollaborateurin der Serben gezielt gesucht würde und daher die Wahrscheinlichkeit von Übergriffen albanischer Banden und ehemaliger UCK-Angehörige groß sei. Die in dem Urteil angestellte Gefahrenprognose hinsichtlich der genannten - ungesetzlichen - Übergriffe beruhte auf einer Gesamtwürdigung der zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegenden Tatsachen und Einschätzungen von sachverständigen Organisationen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit solcher Maßnahmen nach den seinerzeit herrschenden Verhältnissen im Kosovo. Diese Verhältnisse haben sich jedoch hinsichtlich der für die Klägerin maßgeblichen Gefährdungslage - noch - nicht in entscheidungserheblicher Weise geändert. So heißt es noch in dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 10.02.2004 für Serbien und Montenegro (Kosovo), dass an Teilgruppen gerichtete Vorwürfe der Kollaboration mit den Serben häufig auch auf andere Romagruppen übertragen würden, die dann Opfer von Gewalttaten würden. Nach den zugänglichen Informationen gebe es unter den Roma zwar weniger Todesopfer (in absoluten Zahlen) als unter dem serbischen Bevölkerungsteil, jedoch sei diese Gruppe im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil stärker betroffen. Darüber hinaus komme es im gesamten Kosovo zu gelegentlichen Übergriffen von Albanern gegen Albaner, die der Kollaboration mit den Serben oder der Gegnerschaft zur UCK bezichtigt würden. Im jüngsten Bericht des Auswärtigen Amtes vom 29.11.2007 heißt es zu diesem Thema, dass das Verhältnis der verschiedenen ethnischen Gruppen untereinander gespannt bleibe. Im UNHCR-Positionspapier vom Juni 2006 werde darauf hingewiesen, dass es immer noch einige Gruppen von Personen gäbe, die ebenfalls gefährdet sein könnten (so z.B. Personen, die der Mitarbeit mit dem serbischen Regime nach 1990 verdächtigt würden). Bei dieser - offiziellen - Einschätzung der Sachlage im Kosovo kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich für den durch Übergriffe gefährdeten Personenkreis eine entscheidungserhebliche Änderung der Situation im oben beschriebenen Sinn ergeben hat. Im vorliegenden Zusammenhang geht es auch nicht, wie das Bundesamt meint, um Blutrache, sondern um Übergriffe, die ihre Ursache auf einem nicht auf Blutsverwandtschaft basierenden Rachedenken haben. Insoweit geht aber auch das Bundesamt in der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration zur Entwicklung und aktuellen Situation im Kosovo vom Juli 2008 davon aus, dass es dort nach wie vor einen Rachegedanken zu überwinden gelte. Dass aufgrund der Fortentwicklung des Polizei- und Justizsystems solche Übergriffe heute mit höherer Wahrscheinlichkeit als noch 2003 geahndet werden, ist im Hinblick auf den durch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezweckten Rechtsgüterschutz nicht entscheidungserheblich. [...]