VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Urteil vom 02.02.2009 - 7 K 20045/06 We - asyl.net: M15554
https://www.asyl.net/rsdb/M15554
Leitsatz:

Asylanerkennung eines früheren Mitglieds der tschetschenischen Rebellen.

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Verfolgungsbegriff, Gruppenverfolgung, interne Fluchtalternative, Anerkennungsrichtlinie, Kämpfer (ehemalige), Rebellen, Sicherheitskräfte, interner Schutz, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Versorgungslage, Existenzminimum
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4; RL 2004/83/EG Art. 8; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage der Kläger ist nur teilweise begründet. In der Person des Klägers zu 1. liegen die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter vor. [...]

1. Nach Art. 16a Abs. 1 GG hat ein Ausländer einen Anspruch auf Asyl, wenn sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Das Verbot des § 60 Abs. 1 AufenthG schützt - ebenso wie Art. 16a Abs. 1 GG - den Personenkreis der politisch Verfolgten und dient der Umsetzung des Art. 33 Nr. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die den unbestimmten Rechtsbegriff des "politisch Verfolgten" im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG (Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F.) ausgefüllt hat, ist auch für die Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG heranzuziehen. Dessen Voraussetzungen sind mit den Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter deckungsgleich, soweit es um die Verfolgungshandlung, die geschützten Rechtsgüter und den politischen Charakter der Verfolgung geht (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.10.1993 - 9 C 50.92 -, InfAuslR 1993, S. 119). Auch gilt für die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG derselbe Prognosemaßstab wie hinsichtlich des Art. 16a Abs. 1 GG (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9C 1.94 -, NVwZ 1995, S. 391 und vom 03.11.1992 - 9C 21.92 -, BVerwGE 91, 150, 154). [...]

Nach der in § 60 Abs. 1 AufenthG in Bezug genommenen Qualifikationsrichtlinie haben sich die vorwiegend richterrechtlich entwickelten Prüfungsmaßstäbe hinsichtlich der Zuerkennung von Flüchtlingsschutz unmittelbar am Wortlauf der QRL und des AufenthG zu messen. Dabei ist bei der Auslegung der von dem deutschen Gesetzgeber so formulierten "ergänzenden" Anwendung der Vorschriften der QRL - § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG - zu beachten, dass gemäß Art. 1 QRL die Richtlinie verbindliche Mindestnormen für die Mitgliedstaaten festschreibt, die durch den nationalen Gesetzgeber nicht unterschritten werden dürfen. Wesentliches Ziel der Richtlinie ist die Schaffung einer gemeinsamen Asylpolitik einschließlich eines "Gemeinsamen Europäischen Asylsystems" (vgl. HessVGH, Urteil vom 21.02.2008, Az: 3 UE 191/07 A). [...]

Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung - wie für jede politische Verfolgung - ist ferner, dass die festgestellten asylrelevanten Maßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand objektiver Kriterien der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O.).

Die Differenzierung zwischen örtlich und regional begrenzter Gruppenverfolgung, die zur Konsequenz hatte, dass Flüchtlinge, die "lediglich" einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung ausgesetzt waren, mit Verlassen des Verfolgungsgebiets, spätestens aber mit Rückkehr aus dem Ausland, mangels Orts- bzw. Gebietsbezug voraussetzungsgemäß nicht mehr von Verfolgung betroffen seien und ihnen daher eine Rückkehr in andere Gebiete des Heimatstaates ohne weitere asyl- bzw. flüchtlingsrechtliche Prüfung einer inländischen Fluchtalternative 7 K 20045/06 We zuzumuten war (BVerwG, Beschluss vom 04.01.2007, 1 B 47.06, Rdnr. 5) ist mit den Vorgaben der QRL nicht - mehr - zu vereinbaren (ebenso Hess. VGH, a.a.O.). [...]

2. In der Person des Klägers zu 1. liegen die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter vor. Hinsichtlich der Kläger zu 2. bis 4. hat das Bundesamt jedoch zu Recht die Anerkennung als Asylberechtigte und hinsichtlich der Kläger zu 2 bis 5 auch die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthaltsG abgelehnt.

Das Vorbringen der Kläger zu 1 bis 4, sie seien auf dem Seeweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, lässt sich entgegen der Auffassung der Beklagten nicht widerlegen. Die Kläger zu 1 und 2 haben sowohl in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt in Jena am 05.02.2004, als auch in ihrer Anhörung in der mündlichen Verhandlung am 02.02.2009 widerspruchsfrei und nachvollziehbar dargelegt, sie seien von St. Petersburg aus mit dem Schiff nach Lübeck gefahren und im Hafen von Lübeck illegal in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Dieses Vorbringen lässt sich somit nicht widerlegen. Eine Ablehnung ihres Asylgesuches kann somit entgegen der Auffassung der Beklagten nicht auf § 26 a AsylVfG gestützt werden.

Die Kläger sind zur Überzeugung des Gerichts tschetschenische Volkszugehörige. [...]

Mögen die russischen Sicherheitskräften bei der Bekämpfung der tschetschenischen Rebellen/Separatisten vor einigen Jahren, insbesondere zum Zeitpunkt der Ausreise der Kläger zu 1. bis 4 aus Tschetschenien noch bei weitem über das hinausgegangen sein, was unter dem Gesichtspunkt einer zulässigen Terrorismus- bzw. Separatismusbekämpfung auch von unbeteiligten Dritten hinzunehmen ist bzw. war, stellen sich die auch heute noch in Tschetschenien festzustellenden Sicherheitsdefizite nicht mehr als zielgerichtete, generell gegen tschetschenische Volkszugehörige gerichtete, flüchtlingsrelevante Verfolgungsmaßnahmen im Sinne überschießender Terrorismus- bzw. Separatismusabwehrmaßnahmen dar, sondern als Sicherheitsrisiken, die ohne besonderen asylrelevanten Bezug Ausdruck des unter rechts staatlichen Gesichtspunkten als katastrophal einzuschätzenden Machtsystems in Tschetschenien sind, denen es nach der Auskunftslage heute jedoch auch an der für die Anerkennung eines Flüchtlingsstatuts erforderlichen Verfolgungsdichte fehlt (ebenso: Hess. VGH, a.a.O.).

Zurzeit stellt sich die Sicherheitslage in Tschetschenien für das Gericht nach Auswertung der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen wie folgt dar:

Hierzu hat der Hess. VGH in seinem Urteil vom 21.02.2008, Az: 3 UE 191/07 A zutreffend ausgeführt: [...]

Die Bewertung der oben zitierten Auskünfte zur Sicherheitslage in Tschetschenien führt für das Gericht zur Einschätzung, dass die Sicherheitslage in Tschetschenien zwar nach wie vor besorgniserregend und prekär ist, Rückkehrer ohne direkten Bezug zu den tschetschenischen Rebellen jedoch vor Verfolgungsmaßnahmen im Falle ihrer Rückkehr sicher sind (Art. 4 Abs. 4 QRL, § 60 Abs. 1 AufenthG). Wie auch der Hess. VGH, kommt das Gericht zur Auffassung, dass insbesondere die flächendeckende Bedrohung der tschetschenischen Zivilbevölkerung in Tschetschenien durch russische Sicherheitskräfte und Militärs und diesen zuzuordnenden Verbänden, heute so nicht mehr festgestellt werden kann. Auch nach Auskunft von Memorial, haben sich für die Menschen in Tschetschenien bedeutsame Veränderungen ergeben. Entführungen und Morde haben schrittweise abgenommen. Bei den Gefährdungen, denen sich insbesondere Rückkehrer nach Auffassung von Memorial (vgl. Memorial, Oktober 2007, zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, August 2006 bis Oktober 2007) ausgesetzt sehen können, handelt es sich überwiegend um rein kriminelle Handlungen, wie das Erpressen von Geld, die für sich genommen ohne flüchtlingsrelevante Anknüpfungs- und Bezugspunkte sind, da für das Gericht nicht erkennbar ist, dass sie an bestimmte asylrelevante Merkmale anknüpfen. Mögen bei Personen, die von Seiten der tschetschenischen Sicherheitskräfte für ehemalige oder aktive Mitglieder von Rebellenorganisationen gehalten werden, Anhaltspunkte im Sinne der in Art. 4 Abs. 4 QRL enthaltenen Vermutungsregel dahingehend bestehen, dass dieser Personenkreis bei Rückkehr mit verfolgungsrelevanten Maßnahmen, die bis hin zu Folterungen oder verschwinden lassen reichen können, zu rechnen hat, gilt dies für ethnische Tschetschenen, bei denen individuelle Umstände für eine Hervorhebung aus der Bevölkerung fehlen, nicht.

Der Kläger zu 1. gehört nach Überzeugung des Gerichts zu einer Risikogruppe, die im Fall ihrer Rückkehr nach Tschetschenien mit einer Bedrohung in asylerheblichem Ausmaß zu rechnen hat. Demgegenüber gehören die Kläger zu 2. bis 5. einer oben genannten Risikogruppe nicht an.

Der Kläger zu 1. hat sowohl bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft dargelegt, dass er im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland als Mitglied der tschetschenischen Rebellen angesehen wird.

Der Kläger zu 1 hat selbst eingeräumt, dass er gegen die russischen Truppen in Tschetschenien gekämpft hat. Daran ändert nichts der Umstand, dass Aufgabe des Klägers zu 1 nicht der direkte Kampf gegen russische Truppen war. Auch der Aufbau eines Informantennetzes und die Erlangung wichtiger Informationen über Truppenstärken, Stationierungsorte, Bewaffnung oder geplante Aktionen stellt aus Sicht der russischen Sicherheitsbehörden unzweifelhaft eine gegen sie gerichtete, einem direkten Kampf gegen sie gleichgestellte Tätigkeit dar. [...]

Der Umstand, dass der Kläger zu 1 sich als Kämpfer gegen die russischen Truppen betätigte, war den örtlichen Sicherheitsorganen auch offensichtlich bekannt. [...]

Damit steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger zu 1. im Falle seiner Rückkehr nach Tschetschenien, als ehemaliger Kämpfer der tschetschenischen Rebellen angesehen wird und im Rahmen dessen - wie oben dargelegt - mit Misshandlungen und Folter bis hin zum Verschwinden lassen zu rechnen hat.

Diese Gefahr droht dem Kläger zu 1. nicht nur Falle einer Rückkehr nach Tschetschenien, sondern in der gesamten Russischen Föderation. Dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 13.01.2008 lässt sich entnehmen, dass davon auszugehen ist, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren. Dies gelte insbesondere für solche Personen, die sich in der Tschetschenienfrage engagiert haben bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellen. Der Lagebericht führt weiterhin aus, dass Tschetschenen erhebliche Schwierigkeiten haben, außerhalb Tschetscheniens eine offizielle Registrierung zu erhalten. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen würden berichten, dass vielen Tschetschenen, insbesondere in Moskau, die Registrierung verweigert werde. Beschränkungen würden sich im Zusammenhang mit antikaukasischer Stimmung besonders stark auf die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen auswirken, sich legal niederzulassen. Ihnen wird die Rücksiedlung nach Tschetschenien von Regierungsseite nahe gelegt. Aufgrund der dokumentierten Verhaftung des Klägers zu 1. ist davon auszugehen, dass dem Kläger zu 1. besondere Aufmerksamkeit seitens russischer Behörden zuteil werden und eine Registrierung außerhalb Tschetscheniens deshalb verhindert wird, so dass er gezwungen ist, nach Tschetschenien zurückzukehren.

Deshalb liegen in der Person des Klägers zu 1. die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter vor.

Hinsichtlich der Kläger zu 2. bis 5. fehlt es am Vorliegen der Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigte bzw. an den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, da das Gericht davon überzeugt ist, dass sie im Falle ihrer Rückkehr nach Tschetschenien nicht als Mitglieder oder Unterstützer der tschetschenischen Rebellen angesehen werden. [...]

3. In der Person der Kläger zu 2. bis 5. bestehen auch keine Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. [...]

Auch die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen zur Überzeugung des Gerichts in der Person der Kläger zu 2. bis 5. nicht vor. Den Klägern zu 2. bis 5. droht im Falle ihrer Einreise in der Russischen Föderation keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit.

Im Falle der Rückkehr der Kläger zu 2. bis 5. ist zur Überzeugung des Gerichts auch ihr Existenzminimum gesichert. In der Russischen Föderation ist die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln gewährleistet. Es gibt staatliche Unterstützung (z.B. Sozialhilfe) für bedürftige Personen, wobei das Gericht nicht verkennt, dass diese auf sehr niedrigem Niveau erfolgt. Die Klägerin zu 2. ist darüber hinaus arbeitsfähig und kann so zum Lebensunterhalt ihrer Kinder beitragen. Auch die medizinische Grundversorgung ist in Russland sowie in Tschetschenien ausreichend. Theoretisch hat jeder russische Bürger das Anrecht auf kostenfreie medizinische Grundversorgung, wobei das Gericht nicht verkennt, dass zumindest aufwändigere Behandlungen erst nach privater Bezahlung erfolgen, wobei sich im Alltag häufig zeige, dass von mittellosen und wenig verdienenden Personen nichts bzw. wenig an Zuzahlung verlangt wird, während bei normal bis gut verdienenden Personen mehr verlangt wird. (Vgl. dazu insgesamt, Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 13.01.2008). [...]