VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Urteil vom 23.01.2009 - 4 A 1395/07 - asyl.net: M15558
https://www.asyl.net/rsdb/M15558
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen Verdachts des Kontakts zu regierungsfeindlichen Organisationen.

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Sachlage, Menschenrechtslage, Folter, Reformen, Situation bei Rückkehr, Antiterrorismusgesetz, Grenzkontrollen, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Verdacht der Unterstützung, Regimegegner
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die Asylanerkennung des Klägers sowie die getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG) vorliegen, zu Unrecht widerrufen. [...]

Der Kläger ist nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen auch weiterhin nicht hinreichend sicher davor, bei Rückkehr in die Türkei politischer Verfolgung und menschenrechtswidriger Behandlung ausgesetzt zu werden.

Zwar haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit der Asylanerkennung des Klägers im Jahr 1995 verändert. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament bislang mehrere Gesetzespakte verabschiedet. [...]

Auch wenn mit Inkrafttreten des achten Gesetzespakets am 1. Juni 2005 die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt hat, hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo jedoch nicht Schritt halten können (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. Januar 2007). Das Reformtempo hat sich seit Anfang 2005 aufgrund der innenpolitischen Spannungen verlangsamt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008). Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei ist noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen. Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt. Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter und menschenrechtswidrigen Maßnahmen in Polizeihaft kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams, ohne dass es dem türkischen Staat bislang gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 25. Oktober 2007 und 11. September 2008; Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Münster und Gutachten vom 8. August 2005 an VG Sigmaringen; Oberdiek, Gutachten vom 2. August 2005 an VG Sigmaringen; ai, Stellungnahme vom 20. September 2005 an VG Sigmaringen). Zwar ist die Zahl der Fälle schwerer Folter auf Polizeiwachen im Vergleich zur Situation in den Jahren vor 2001 deutlich zurückgegangen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25. Oktober 2007). [...]

Entgegen der Einschätzung des Bundesamtes hat sich die innenpolitische Situation und Sicherheitslage in der Türkei in den letzten Jahren auch nicht entspannt, sondern vielmehr verschärft: Seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Juni 2004 kam es vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und der PKK-Guerilla, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25. Oktober 2007). Die PKK verübt regelmäßig Bombenanschläge, die in den letzten Jahren zu einer großen Anzahl von Opfern insbesondere unter der Zivilbevölkerung geführt haben. Seit Dezember 2007 unternimmt das türkische Militär auch grenzüberschreitende Militäroperationen gegen PKK-Stellungen im Nordirak (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008).

In Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei hat das türkische Parlament am 29. Juni 2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft. [...]

Es kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger aufgrund des Verdachts, Kontakte zu regierungsfeindlichen Parteien/Organisationen zu haben, bei Einreise in die Türkei im Rahmen der obligatorischen Personenkontrolle einem intensiven Verhör unterzogen wird und dabei Gefahr läuft, misshandelt oder gefoltert zu werden. Nach den hierzu vorliegenden Erkenntnissen (vgl. nur Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. September 2008, Kaya, Gutachten vom 10. Dezember 2005 an den Hessischen VGH und vom 8. August 2005 an das VG Sigmaringen) findet bei der Einreise eine eingehende Überprüfung statt. Dabei erfolgt regelmäßig eine genaue Personalienfeststellung und ein Abgleich mit dem Fahndungsregister nach strafrechtlich relevanten Umständen. Gegebenenfalls werden auch Nachforschungen bei den Heimatbehörden angestellt. Sollte sich bei dieser Überprüfung herausstellen, dass gegen den Betreffenden ein Separatismus- oder Terrorismusverdacht besteht, kann es zu einem verschärften Verhör verbunden mit menschenrechtswidriger Behandlung kommen. Diese Gefahr besteht gerade auch im Hinblick auf den Kläger, der aufgrund der Ereignisse vor seiner Ausreise in Verdacht steht, Verbindungen zu in Gegnerschaft zum türkischen Staat stehenden Parteien/Organisationen zu haben. Der Auffassung des Bundesamtes, dass eine Gefährdung des Klägers zu verneinen sei, weil die Vorfälle, die zu seiner Ausreise aus der Türkei geführt hätten, schon sehr lange zurücklägen und keine Anhaltspunkte dafür beständen, dass es hieran anknüpfend zu erneuten Verfolgungshandlungen kommen könnte, folgt das Gericht nicht. Das Bundesamt verkennt die Anforderungen an die Überprüfung der erneuten Gefährdung einer in der Vergangenheit bereits politisch verfolgten Person nach dem herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die vom Bundesamt geäußerten bloßen Vermutungen sind nicht geeignet, eine hinreichende Verfolgungssicherheit zu begründen. Es besteht die ernstzunehmende Gefahr, dass der Kläger nach wie vor wegen vermuteter Beziehungen zu regierungsfeindlichen Parteien/Organisationen als möglicher Gegner des türkischen Staates angesehen und er einem mit Misshandlungen verbundenen Verhör unterzogen wird. Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund, dass lt. dem vorgelegten Auszug aus dem Personenstandsregister, dessen Echtheit die Beklagte nicht angezweifelt hat, nach dem Kläger noch Jahre nach seiner Ausreise gesucht worden ist. Soweit das Bundesamt in seinem Bescheid ausgeführt hat, dass die Suche andere als politische Gründe haben dürfte, handelt es sich um reine Spekulation.

Nach allem ist noch keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten (vgl. dazu die jüngsten gerichtlichen Entscheidungen: OVG Münster, Urteil vom 27. März 2007 - 8 A 4728/05.A -; VG Göttingen, Urteil vom 12. November 2008 - 1 A 392/06 -; VG Stuttgart, Urteil vom 30. Juni 2008 - A 11 K 304/07 -; VG Ansbach, Urteil vom 16. Oktober 2008 - AN 1 K 08.30318; VG Oldenburg, Urteil vom 04 Oktober 2007 - 5 A 4386/06 -; VG Minden, Urteil vom 10. März 2008 - 8 K 831/07.A -; VG Hannover, Urteil vom 30. Januar 2008 - 1 A 7832/05 -; alle zitiert nach juris), so dass die Voraussetzungen für die seinerzeit erfolgte Asylanerkennung und Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht weggefallen sind. [...]