VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 30.01.2009 - 11 A 24/04 - asyl.net: M15561
https://www.asyl.net/rsdb/M15561
Leitsatz:

Sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung sowie die allgemeine Diskriminierung von Frauen in Algerien führen nicht zur Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung; Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG wegen posttraumatischer Belastungsstörung.

Schlagwörter: Algerien, Frauen, Flüchtlingsfrauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Vergewaltigung, Übergriffe, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Diskriminierung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung, Retraumatisierung, Glaubwürdigkeit
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist im tenorierten Umfang begründet. [...]

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Anerkennung als Asylberechtigte oder auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zum Flüchtlingsschutz. [...]

Das Gericht hält das Vorbringen der Klägerin für glaubhaft und die Klägerin für glaubwürdig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin im Hinblick auf ihre verspätete Asylantragstellung und ihren jahrelangen illegalen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland unter dem maßgeblichen Einfluss ihres Ehemannes stand, der ihre Situation dahingehend ausgenutzt hat, dass er die Klägerin über ihren Status und ihre Rechte weitgehend im Unklaren gelassen hat, um die Klägerin in seinem Sinne unter Druck zu setzen. Im Übrigen hegt das Gericht aber keine durchgreifenden Zweifel daran, dass sich das von der Klägerin Geschilderte so im Heimatland abgespielt hat. Die Klägerin machte bei ihrer Befragung in der mündlichen Verhandlung einen glaubwürdigen Eindruck. Sie war in der Lage ihr Schicksal plausibel, nachvollziehbar und ohne innere Widersprüche zu schildern. Dabei war sie gefasst und sachlich. Besonders hervorzuheben ist, dass die Klägerin inzwischen derart gut die deutsche Sprache beherrscht, dass auf die Mitwirkung des Dolmetschers weitgehend verzichtet werden konnte.

Indes ergeben sich für eine Verfolgung bzw. Verfolgungsgefahr vor der Ausreise oder im Falle einer Rückkehr von asyl- oder flüchtlingsschutzrelevanter Intensität keine konkreten Anhaltspunkte. Vor dem Hintergrund der dem Gericht vorliegenden Informationen über die Situation in Algerien vermochte die Klägerin keine Gesichtspunkte zu benennen, die eine Anerkennung als Asylberechtigte oder die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz zu rechtfertigen vermögen. Insbesondere die von ihr geschilderten Übergriffe in ihrer Funktion als Mitarbeiterin in der Steuerbehörde und auch die geschilderte Vergewaltigung stellen sich als Übergriffe Dritter dar, für die den Staat keine Verantwortung i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG trifft. Es ist davon auszugehen, dass der algerische Staat prinzipiell in der Lage und Willens ist, seine Beschäftigten und auch Frauen vor kriminellen Übergriffen Dritter zu schützen und diese zu verfolgen, auch wenn dies im Einzelfall nicht immer gelingen mag. Der algerische Staat verfolgt kriminelle und terroristische Übergriffe auf Andere (vgl. AA, Lagebericht vom 29.01.2008; Schw. Flüchtlingshilfe, Algerien - Update vom April 2007; Bundesamt, Algerien - Länderüberblick, Mai 2006).

Der unverfolgt ausgereisten Klägerin droht auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr staatlicher oder dem Staat zurechenbare Verfolgungsmaßnahmen im Falle der Rückkehr nach Algerien aus anderen Gründen. Insbesondere sind die der Klägerin möglicherweise als Frau drohenden Beeinträchtigungen nicht derart, dass von einer asyl- oder flüchtlingsschutzrechtlichen Relevanz ausgegangen werden kann. Mögliche Diskriminierungen der Rechte von Frauen finden sich allein in Gesellschaft, Familie und im islamisch geprägtem Umfeld, und begründen keine maßgebliche Verfolgung bzw. Verfolgungsgefahr (vgl. AA, Lagebericht vom 29.01.2008; Schw. Flüchtlingshilfe, Algerien - Update, April 2007).

Auch die Feststellungen der Beklagten zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG sind, bis auf die Feststellung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, rechtlich nicht zu beanstanden. [...]

In Bezug auf die Klägerin liegt aber ein Abschiebeverbot aus krankheitsbedingten Gründen nach § 60 Abs.7 Satz 1 AufenthG vor. [...]

Nach der ausführlichen ärztlichen Stellungnahme der die Klägerin behandelnden Psychologischen Psychotherapeutin ... vom 13.12.2006 leidet die Klägerin an den Symptomen, die denjenigen einer Posttraumatischen Belastungsstörung entsprechen. In der Stellungnahme heißt es, die Klägerin sei sehr erschöpft, ihr Lebenswille sei nicht mehr stark und sie habe suizidale Gedanken, ihre Ressourcen seien durch immer wiederkehrende ausweglos erscheinende Situationen erschöpft. Zu einer entsprechenden Einschätzung gelangt die Stellungnahme der ... vom 26.09.2008.

Zu einer entsprechenden Diagnose (Posttraumatische Belastungsstörung nach ICD 10 F43.1 u.a.) gelangt auch der Abschlussbericht der Klinik ... nach der Kur im November und Dezember 2008 vom 22.12.2008. Darin wird unter anderem vorgeschlagen, dringend eine Psychotherapie/Traumatherapie durchzuführen, da eine Abschiebung nach Algerien sowohl das Krankheitsbild als auch die Gefahr eines drohenden (erweiterten) Suizids weiter verschärfen würde.

Auch die Berichte der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie ... vom 23.12.2008 und 21.01.2009 bestätigen die Befunde. Insbesondere die aktuellste Stellungnahme vom 21.01.2009 verweist vor dem Hintergrund eines Suizidversuchs im Jahre 2007 auf die massiv vorhandene Gefährdung der Klägerin aufgrund ihrer schweren psychischen Erkrankung.

Danach steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Erkrankungen der Klägerin so schwer sind, dass eine Rückkehr nach Algerien - ungeachtet dortiger Behandlungsmöglichkeiten - zu einer unmittelbaren erheblichen lebens- und gesundheitsgefährdenden Verschlechterung ihres Zustandes führen würde.

Das Gericht hat keine Anhaltspunkte für begründete Zweifel an der Richtigkeit der fachärztlichen Diagnosen und Prognosen. Sowohl die ausführlichen, fachärztlichen Begutachtungen der Klägerin durch unterschiedliche Ärzte und Ärztinnen nach lang andauernder und engmaschiger Behandlung belegen den derzeitigen tatsächlichen Erkrankungszustand der Klägerin.

Nach der Auskunftslage ist zwar davon auszugehen, dass grundsätzlich auch solche psychischen Erkrankungen in Algerien behandelbar sind (vgl. AA, Lagebericht vom 29.01.2008; AA an das VG Düsseldorf vom 27.03.2007; Botschaftsbericht aus Algerien vom 15.02.2005 und vom 23.12.2003 sowie vom 07.07.2006). Indes sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zur Verschlimmerung einer Krankheit führen können, in die Beurteilung mit einzubeziehen. So ist hier in diesem Einzelfall zu berücksichtigen, dass bereits die zwangsweise Abschiebung nach Algerien die beschriebenen Konsequenzen zu zeitigen vermögen. Der Klägerin ist vor dem Hintergrund der ärztlichen Stellungnahmen nach Überzeugung des Gerichts eine Rückkehr nach Algerien nicht möglich, ohne dass sich ihr Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bereits eine Aus-/Einreise nach Algerien vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Situation - Trennung von ihrem Ehemann, Sorge um die Kinder und ihr Sorgerecht, Ächtung durch die Familie, unsichere Lebensgrundlage als alleinerziehende Mutter - und Disposition - psychische Erkrankung - nicht aushalten wird (vgl. zu einem ähnlichen Einzelfall VG Düsseldorf, Urteil vom 25.09.2008 - 11 K 3392/07.A -). [...]