Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG für syrische Staatsangehörige, die von Sicherheitskräften vergewaltigt worden war, wegen Gefahr der Retraumatisierung; bei Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung spricht eine widersprüchliche und gesteigerte Schilderung des Verfolgungsgeschehen nicht gegen die Glaubhaftigkeit.
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Die Klägerin ist nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor einer Abschiebung nach Syrien geschützt, weil dort für sie eine erhebliche konkrete Gefahr zumindest für ihre Gesundheit besteht. [...]
Das Gericht ist nach Auswertung der Akten, der Würdigung des Vorbringens der Klägerin und ihrer Cousine und der Bewertung sowohl des vorgelegten als auch des von dem Gericht eingeholten Gutachtens davon überzeugt, dass die Klägerin in Syrien durch sexuelle Übergriffe durch Angehörige des Sicherheitsdienstes traumatisiert worden ist, sie deshalb an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidet, bei einer Rückkehr nach Syrien retraumatisiert würde und infolgedessen schwerwiegenden Gesundheitsgefahren ausgesetzt wäre.
Die vorliegenden Gutachten kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die Klägerin an PTBS leidet. [...]
Ein zieistaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann sich bei einer psychischen Erkrankung auch wegen einer dort zu erwartenden sog. Retraumatisierung aufgrund der Konfrontation mit den Ursachen des Traumas ergeben. Dass in diesem Fall an sich im Zielstaat vorhandene Behandlungsmöglichkeiten unerheblich sind, wenn sie für den Betroffenen aus für ihn in der Erkrankung selbst liegenden Gründen, nämlich wegen der Gefahr der Retraumatisierung, nicht erfolgversprechend sind, ist inzwischen überwiegend in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 12. September 2007 - 8 LB 210 - und Beschluss vom 26. Juni 2007 - 11 LB 398/05 - unter Bezugnahme u. a. auf VGH Kassel, Urteil vom 26.Februar 2007 - 4 UE 1125/05 -; OVG Koblenz, Urteil vom 9. Februar 2007 -10 A 10952/06 -; OVG Schleswig, Beschluss vom 28. September 2006 - 4 LB 6/06 -; einschränkend, nämlich gegen die Annahme einer generellen Unmöglichkeit der PTBS - Behandlung im Herkunftsland: OVG Münster, Urteil vom 21November 2005 - 21 A 1117/03 - m.w.N. auf die Rspr. des OVG Münster). Es steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass eine Rückkehr nach Syrien für die psychisch erkrankte Klägerin zu einer solchen Retraumatisierung und damit für sie zu einer "extremen individuellen Gefahrensituation" führen würde. Ausweislich des Gutachtens der ... vom 28. Februar 2006 ist eine Behandlung der Klägerin in ihrem Heimatland Syrien weder durchführbar noch zumutbar, weil die Klägerin aufgrund ihrer belastenden Erfahrungen mit staatlichen Stellen in Syrien befürchtet, wieder verhaftet zu werden; die Konfrontation der Klägerin mit dem staatlichen System, durch das die belastenden Erlebnisse verursacht worden sind, würde unweigerlich zu einer Retraumatisierung führen und die Erfolgsaussichten einer Behandlung zunichte machen (S. 48). Der gerichtlich bestellte Gutachter führt aus, dass eine Rückführung der Klägerin nach Syrien mit einer Unterbrechung des notwendigen therapeutischen Programms gleichzusetzen wäre und die Wahrscheinlichkeit der deutlichen Verschlechterung der bestehenden psychischen Störungen bis hin zu einer suizidalen Krise sehr hoch ist (S. 44).
Das Gericht ist - anders als die Beklagte - davon überzeugt, dass die Erkrankung der Klägerin hinreichend wahrscheinlich auf den von ihr geschilderten traumatisierenden Erlebnissen beruht und sie eine Rückkehr nach Syrien retraumatisierend mit den Ursachen ihres Traumas konfrontieren würde. Die Klägerin und auch deren Cousine haben von Anbeginn ihrer Asylverfahren im Kern vorgetragen, wegen ihrer Nähe zu kurdischen Organisationen von Angehörigen der Sicherheitskräfte Inhaftiert und sexuell missbraucht worden zu sein. Allerdings haben sie die sexuellen Übergriffe nicht sogleich derart deutlich geschildert, wie im weiteren Verlauf des vorliegenden Verfahrens. Auch finden sich in ihrem Vorbringen Widersprüche, Steigerungen und sonstige Unzulänglichkeiten. Diese aber sind zur Überzeugung des Gerichts nicht darauf zurückzuführen, dass sie lügen, sondern darauf, dass sie aufgrund des Erlebten und der dadurch verursachten Erkrankung nicht in der Lage waren, von Anfang an ein "glattes" Verfolgungsschicksal zu schildern.
Nach den vorliegenden Gutachten, insbesondere dem von dem Gericht eingeholten, geht mit einer PTBS typischerweise ein absichtliches Vermeiden des Erinnerns an das traumatisierende Ereignis einher; dies schließe die Unfähigkeit ein, sich an wichtige Aspekte des Ereignisses zu erinnern (S. 35). So stellte der Gutachter bei der Klägerin fest, dass sie das Sprechen über traumatische Inhalte zu vermeiden suchte um die Symptomatik nicht zu verfestigen (S. 40). Die Klägerin leide teilweise an Amnesien (S. 29). Weiter heißt es in dem Gutachten, dass sich die Erkrankung auf das Erinnerungsvermögen und die Fähigkeit zur Wiedergabe von Erlebtem auswirke und diese Beeinträchtigungen nicht nur den engeren Bereich des Traumas, sondern auch Bereiche betreffen können, die nicht zu den traumatischen Erlebnissen gehören (S. 40). Angesichts dessen kann man der Klägerin gewisse Unzulänglichkeiten in ihrem Vorbringen (Farbe des sie abholenden Autos, Zeitpunkt des Anlegens einer Augenbinde) nicht ausschlaggebend vorhalten. Man kann auch nicht mit der Beklagten sagen, der Gutachter hätte von den Symptomen auf ein Trauma geschlossen. Er hat sich explizit sowohl mit dem Vorbringen der Klägerin in den verschiedenen Stadien ihrer Asylverfahren als auch mit den behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen, in denen dem Vorbringen der Klägerin kein Glauben geschenkt wurde, auseinandergesetzt (S. 7/8). Er hat die Meinung eines Vorbehandlers eingeholt (S. 23) und selbst erhoben, dass die Schilderungen der Klägerin authentisch wirken und sich keine Anhaltspunkte für Steigerungen oder Dramatisierungen ergaben (S. 25). Auf Seite 38 geht der Gutachter im Einzelnen auf die Ausführungen der Beklagten in ihrem ablehnenden Bescheid im Asylerstverfahren ein und kommt zu dem Ergebnis, das das Vorbringen der Klägerin vor dem Hintergrund der Traumatisierung und ihrer kulturellen Herkunft nicht als unglaubhaft anzusehen ist. Weiter führt er aus, dass keine Hinweise für bewusstseinsnahe Begehrungstendenzen oder gar auf Simulation zu finden gewesen wären (S.39). Hierzu ist anzumerken, dass derselbe Gutachter in anderen Fällen dem Gericht gegenüber zu entgegengesetzten Ergebnissen gelangt ist und aufgrund seiner abgewogenen Erhebungen und seiner Erfahrungen insbesondere auch in diesem Punkt das Vertrauen des Gerichts genießt. Die Tatsache, dass die Erkrankung erst spät sichtbar wurde, deckt sich mit den Erkenntnissen des Gutachters, wonach sich die Ausbildung der Symptome um Monate und Jahre verzögern kann (S.36). Das Gericht vermag der Beklagten auch nicht dahingehend zu folgen, dass die Erkrankung nicht auf das geschilderte Trauma schließen lasse. Dies mag zwar allgemein so richtig sein, im vorliegenden Fall aber kommt der Gutachter zur Überzeugung des Gerichts nachvollziehbar zu dem Ergebnis, dass die von der Klägerin geschilderten Ereignisse die wahrscheinlichste Ursache für ihre Erkrankung sind und die Auseinandersetzung mit denkbaren nicht verfolgungsbedingten Alternativursachen für die vorliegenden psychischen Probleme - wovon die Beklagte ausgeht - keine sicheren Hinweise liefern (S. 41). Zwingend auszuschließen sind Alternativursachen - wie auch bei sonstigen Kausalverläufen - in der Tat nur selten. Dies aber wird vom Flüchtlingsrecht auch nicht gefordert. In einem Fall wie dem vorliegenden stehen naturgemäß stets verbleibende Ansätze zum Zweifel an dem Wahrheitsgehalt des Geschilderten der zugunsten der Klägerin getroffenen Entscheidung letztlich nicht entgegen. [...]