VG Braunschweig

Merkliste
Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 11.03.2009 - 4 A 389/06 - asyl.net: M15572
https://www.asyl.net/rsdb/M15572
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Kosovo wegen posttraumatischer Belastungsstörung.

Schlagwörter: Kosovo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, Depression, Somatierungsstörung, dissoziative Störung, posttraumatische Belastungsstörung, Glaubwürdigkeit, Retraumatisierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihr die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich des Kosovos vorliegen. [...]

Das Gericht ist nach Auswertung der Akten, der Würdigung des Vorbringens der Klägerin und der Bewertung sowohl der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen und der amtsärztlichen Gutachten als auch des von dem Gericht eingeholten Gutachtens davon überzeugt, dass die Klägerin erkrankt ist und bei einer Rückkehr in das Kosovo schwerwiegenden Gesundheitsgefahren ausgesetzt wäre. Die Klägerin leidet laut dem Gutachten von PD Dr. ... an rezidivierenden mittelschweren depressiven Episoden mit einem somatischen Syndrom und schweren depressiven Episoden und einer dissoziativen Störung auf dem Boden einer PTBS. [...]

Das Gericht ist - anders als die Beklagte - davon überzeugt, dass die Erkrankung der Klägerin hinreichend wahrscheinlich auf den von ihr geschilderten traumatisierenden Erlebnissen beruht. Die Klägerin hat dem Gutachter glaubhaft Erlebnisse im Kosovo vor ihrer Ausreise geschildert, die sie aus nachvollziehbaren Gründen nicht ihrem Ehemann, der bei den Anhörungen beim Bundesamt anwesend war, schildern konnte. Zwar finden sich in ihrem Vorbringen Widersprüche und sonstige Unzulänglichkeiten. Diese aber sind zur Überzeugung des Gerichts nicht darauf zurückzuführen, dass sie lügt, sondern darauf, dass sie aufgrund des Erlebten und der dadurch verursachten Erkrankung nicht in der Lage war, von Anfang an ein "glattes" Verfolgungsschicksal zu schildern.

Nach den vorliegenden Gutachten, insbesondere dem von dem Gericht eingeholten, geht mit einer PTBS typischerweise ein absichtliches Vermeiden des Erinnerns an das traumatisierende Ereignis einher; dies schließe die Unfähigkeit ein, sich an wichtige Aspekte des Ereignisses zu erinnern. So stellte der Gutachter bei der Klägerin fest, dass sie das Sprechen über traumatische Inhalte zu vermeiden suchte, um die Symptomatik nicht zu verfestigen (S. 39). Weiter heißt es in dem Gutachten, dass die Klägerin unter Amnesien leidet (S. 25). Angesichts dessen kann man der Klägerin gewisse Unzulänglichkeiten in ihrem Vorbringen (Übergriffe der Serben) nicht ausschlaggebend vorhalten. Man kann auch nicht mit der Beklagten sagen, der Gutachter hätte von den Symptomen auf ein Trauma geschlossen. Er hat sich explizit mit dem Vorbringen der Klägerin in den verschiedenen Stadien ihrer Asylverfahren, in denen dem Vorbringen der Klägerin kein Glauben geschenkt wurde, auseinandergesetzt (S. 6-9, S. 15 f.). Er hat die Befunde der behandelnden Ärzte erhoben und in sein Gutachten einbezogen (S. 34-37). Er hat selbst erhoben, dass trotz Diskrepanzen in ihren Schilderungen kein Anhalt oder Hinweise auf Unglaubwürdigkeit bestehen (S. 15). Es gab zudem keinen Anhalt für eine Steigerung des Erlebten oder eine Dramatisierung (S. 38). Hierzu ist anzumerken, dass derselbe Gutachter in anderen Fällen dem Gericht gegenüber zu entgegengesetzten Ergebnissen gelangt ist und aufgrund seiner abgewogenen Erhebungen und seiner Erfahrungen insbesondere auch in diesem Punkt das Vertrauen des Gerichts genießt. Das Gericht vermag der Beklagten auch nicht dahingehend zu folgen, dass die Erkrankung nicht auf das geschilderte Trauma schließen lasse. Dies mag zwar allgemein so richtig sein, im vorliegenden Fall aber kommt der Gutachter zur Überzeugung des Gerichts nachvollziehbar zu dem Ergebnis, dass die von der Klägerin geschilderten Ereignisse die wahrscheinlichste Ursache für ihre Erkrankung sind und die Auseinandersetzung mit denkbaren nicht verfolgungsbedingten Alternativursachen für die vorliegenden psychischen Probleme - wovon die Beklagte ausgeht - keine sicheren Hinweise liefern (S. 37 f.). Zwingend auszuschließen sind Alternativursachen - wie auch bei sonstigen Kausalverläufen - in der Tat nur selten. Dies aber wird vom Flüchtlingsrecht auch nicht gefordert. In einem Fall wie dem vorliegenden stehen naturgemäß stets verbleibende Ansätze zum Zweifel an dem Wahrheitsgehalt des Geschilderten der zugunsten der Klägerin getroffenen Entscheidung letztlich nicht entgegen.

Dabei geht das Gericht davon aus, dass die Behandlung psychischer Krankheiten im Kosovo grundsätzlich möglich ist. Dies belegen die ins Verfahren eingeführten Lageberichte des Auswärtigen Amtes (zuletzt vom 15. Februar 2007) und auch die Auskunft der Deutschen Botschaft in Pristina vom 31. Januar 2009 an das Landratsamt Bodenseekreis vom 31. Januar 2009.

Das Gericht ist aber aufgrund der vorliegenden ärztlichen Gutachten - insbesondere dem gerichtlichen Sachverständigengutachten - der Überzeugung, dass eine Rückführung der Klägerin - jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt - nicht in Betracht kommt, weil dadurch eine erhebliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes, d.h. eine "extreme individuellen Gefahrensituation" eintreten würde. Der Gutachter zeichnet ein schweres Krankheitsbild, das einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung bedarf. Ausweislich des gerichtlich bestellten Gutachtens ist die Wahrscheinlichkeit einer deutlichen Verschlechterung der bestehenden psychischen Störungen, die z.B. in eine suizidale Krise münden können, bei einer Rückkehr der Klägerin in ihr Heimatland als sehr hoch einzustufen. Der gerichtlich bestellte Gutachter führt insbesondere aus, dass eine Rückführung der Klägerin in das Kosovo mit einer Unterbrechung des notwendigen therapeutischen Programms gleichzusetzen wäre (S. 44). [...]