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VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 04.03.2009 - 5 K 663/06.KS.A - asyl.net: M15576
https://www.asyl.net/rsdb/M15576
Leitsatz:

Keine Verfolgungsgefahr in der Türkei mehr wegen Teilnahme an Kriegsdienstverweigerungsaktion in Deutschland.

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, Kriegsdienstverweigerung, Auslandsvertretung, Protestaktion, Demonstration, Reformen, politische Entwicklung, Strafverfahren, Verjährung, Folter, Menschenrechtslage, exilpolitische Betätigung, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrolle
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist unbegründet. [...]

Ausgehend hiervon haben sich die zum Zeitpunkt der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers maßgeblichen Verhältnisse nach Auffassung des Gerichts nachträglich verändert, so dass Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger im Falle einer Rückkehr in die Türkei wegen seiner Teilnahme an der Kriegsdienstverweigerungsaktion in Hannover am 01.12.2000 und der dem türkischen Generalkonsulat in diesem Zusammenhang übermittelten Erklärung nicht mehr beachtlich wahrscheinlich sind. [...]

Der alte Art. 155 des Türkischen Strafgesetzbuches wurde in einer neuen Fassung in den Art. 318 übernommen, im Unterschied zur alten Fassung wird jetzt eine höhere Gewichtung der "Distanzierung des Volkes vom Militär" für die Erfüllung der Straftat vorausgesetzt. Nach Art. 318 Abs. 1 werden Aktivitäten, Aufforderungen und Empfehlungen, die das Volk vom Militärdienst distanzieren oder entsprechende Propaganda mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Haftstrafe bestraft. Abs. 2 der Norm sieht vor, dass die Strafzumessung um die Hälfte erhöht wird, falls die Straftat durch Medien oder Presse begangen wurde. Nach Art. 66 Abs. 1 Buchst. e) des neuen, ab 01.06.2005 gültigen Strafgesetzes, ist die öffentliche Klage allerdings bereits verjährt, denn die Erklärung stammt aus dem Jahr 2000 und die Verjährungsfrist beträgt danach 8 Jahre. Danach hat der Kläger im Falle einer Rückkehr heute wegen der Verjährung der öffentlichen Klage keine strafrechtliche Verfolgung des türkischen Staates mehr zu befürchten.

Der Kläger muss zur Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr in die Türkei auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit anderen asylerheblichen Repressionen, insbesondere Folter, rechnen. Denn nach Auswertung der Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass es zwar in der Türkei trotz der eingeleiteten Reformen immer noch zu menschenrechtswidriger Behandlung von inhaftierten Regimegegnern kommt, insbesondere, wenn sie der Begehung von Staatsschutzdelikten verdächtig sind. Exilpolitische Aktivitäten, unter anderem Meinungskundgaben wie im vorliegenden Fall, führen jedoch nur bei Personen zur Gefahr einer Strafverfolgung, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führenden Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind. Die türkischen Strafverfolgungsbehörden haben in der Regel nur ein Interesse an der Verfolgung von im Ausland begangener Gewalttaten bzw. ihrer konkreten Unterstützung (Hess. VGH, Urteil vom 18.01.2006 - 6 UE 489/04.A -). Der Kläger gehört jedoch nicht zu diesem besonders gefährdeten Personenkreis. Denn er gilt nach Einschätzung des Gerichts in dem Urteil vom 30.10.2001 (6 E 416/01.A, S.7) jedenfalls nicht als Person, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten oder als Anstifter oder Aufwiegler angesehen wird. Vor diesem Hintergrund sind die von dem Kläger getätigten Äußerungen nicht mehr als geeignet anzusehen, in der Türkei eine Strafverfolgung nach sich zu ziehen. Es darf in diesem Zusammenhang auch nicht verkannt werden, dass die Kundgabe möglichst plakativer Äußerungen von zahlreichen kurdischen Asylbewerbern gezielt lanciert wurde, um für ihr Asylverfahren etwas vorweisen zu können. Es ist davon auszugehen, dass dem türkischen Staat inzwischen diese Hintergründe und Zusammenhänge auch durchaus bekannt sind und er entsprechend zu differenzieren weiß. Dies passt wiederum auch mit der bereits dargestellten Erkenntnis zusammen, dass entsprechende Verfahren hauptsächlich gegen herausgehobene Funktionsträger oder sonstige exponierte Personen eingeleitet werden. Darüber hinaus hat der Kläger auch in jüngerer Zeit keine bedeutsamen und exponierten exilpolitischen Aktivitäten entfaltet, wodurch er als ernstzunehmender Gegner des türkischen Staates in Erscheinung getreten ist und er sich dabei nach türkischem Strafgesetzbuch strafbar gemacht hat.

Soweit die oberverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung trotz der Reformen in der Türkei von einer Verfolgungsgefährdung türkischer Staatsangehöriger ausgeht, betrifft dies Fälle von Aktivisten der PKK, die als exponierte Gegner des türkischen Staates in Erscheinung getreten sind (z.B. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19.09.2008 - 10 A 10474/08 -), wozu der Kläger, wie oben ausgeführt, nicht zählt bzw. Fälle, in denen die Kläger vorverfolgt aus der Türkei ausgereist sind (z.B. OVG Bautzen, Urteil vom 19.01.2006 - A 3 B 304/03 -) und deshalb der Prognosemaßstab der "hinreichenden Sicherheit" bei Rückkehr Anwendung findet, wovon im vorliegenden Fall ebenso nicht auszugehen ist.

Der Kläger muss nach Auswertung der Erkenntnisquellen auch im Kontext mit einer Wiedereinreise in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylerhebliche Eingriffe befürchten. [...]