VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 04.02.2009 - 5 A 25/08 - asyl.net: M15585
https://www.asyl.net/rsdb/M15585
Leitsatz:

Führt eine Zusage des Landkreises, die Kosten für eine notwendige medizinische Versorgung im Zielstaat der Abschiebung für einen begrenzten Zeitraum zu übernehmen, lediglich zu einer zeitlichen Verzögerung des Eintritts von Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG, lässt dies eine extreme Gefahrenlage nicht entfallen.

Schlagwörter: Widerruf, Ablehnungsbescheid, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Pakistan, Krankheit, Diabetes mellitus, Hypertonie, Wirbelsäulensyndrom, Depression, psychische Erkrankung, Apoplex, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Kostenübernahmeerklärung, Mitgabe von Medikamenten, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: VwVfG § 49 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen eines Widerrufs nach § 49 Abs. 1 VwVfG liegen vor. Die ursprünglich rechtmäßige Ablehnung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, auf den hier gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG abzustellen ist, rechtswidrig geworden. Da inzwischen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, müsste auch nicht sofort wieder ein § 60 Abs. 7 AufenthG erneut ablehnender Bescheid erlassen werden (vgl. § 49 Abs. 1 2. Halbsatz VwVfG). [...]

Ob die Anzahl der in Pakistan an identischen Erkrankungen wie die Klägerin leidenden Personen so groß ist, dass diese Personen als eigenständige Bevölkerungsgruppe und die ihnen drohenden Gefahren daher als "allgemein" gelten, kann hier dahinstehen. Denn auch der strengere Maßstab, der im Falle einer allgemeinen Gefahr anzulegen wäre, ist hier erfüllt. Die Klägerin würde im Falle ihrer Abschiebung nach Pakistan gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tode, zumindest aber schwersten Gesundheitsschäden ausgeliefert (zu der Frage, ob Diabetes - eine der Erkrankungen der Klägerin - als allgemeine Gefahr qualifiziert werden muss, vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juli 1999 - 9 C 2/99 - sowie VG München, Urteil vom 27. Februar 2008 - M 16 K 07.51082 - juris).

Die Klägerin leidet ausweislich der vorliegenden ärztlichen Atteste u.a. an Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2, einem chronisch degenerativen Wirbelsäulensyndrom und einer reaktiven Depression und sie erlitt kürzlich einen Hirnschlag, aufgrund dessen sie sich im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch in stationärer Behandlung befand. Sie nimmt diverse Medikamente ein und befindet sich in psychotherapeutischer Behandlung (vgl. das Attest der Ärztin Dr. ... vom 4. Juli 2006).

Eine zureichende Behandlung der Erkrankungen der Klägerin scheitert zwar nicht daran, dass die erforderliche medizinische Versorgung in Pakistan nicht zu erlangen wäre. In der vom Bundesamt speziell für den Fall der Klägerin eingeholten Auskunft der Botschaft vom 4. Dezember 2006 wird mitgeteilt, dass die Behandlung der Erkrankungen der Klägerin möglich und die Medikamente erhältlich seien.

Bei einer Rückkehr in ihr Heimatland zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre der Klägerin die notwendige Behandlung voraussichtlich jedoch nicht zugänglich. Da eine gesetzliche Krankenversicherung in Pakistan nicht besteht, müsste die Klägerin die notwendigen Medikamente und eine etwaige ärztliche Behandlung selbst bezahlen (vgl. Auskunft der Botschaft an das Bundesamt vom 4. Dezember 2006). Dies würde ihr aller Wahrscheinlichkeit nach nicht möglich sein. Denn sie könnte die dafür erforderlichen finanziellen Mittel mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aufbringen.

Aufgrund der von der Vertrauensärztin der Botschaft mitgeteilten Arzneimittelpreise berechnete das Bundesamt einen Bedarf von etwa 25 Euro monatlich an Kosten für Medikamente und Arztbesuche. Sollte wegen des Hirnschlags ein erneuter stationärer Aufenthalt der Klägerin erforderlich werden, so müsste sie dafür darüber hinaus pro Tag in öffentlichen Krankenhäusern ca. 17,50 Euro aufbringen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an VG Freiburg vom 30. Oktober 2007).

Die Klägerin würde aller Voraussicht nach nicht in der Lage sein, diese finanziellen Mittel in Höhe von monatlich mindestens 25 Euro aufzubringen. Dafür, dass die Klägerin begütert ist bzw. über eigene finanzielle Mittel verfügt, um die notwendigen Medikamente zu besorgen, ist nach dem Sachverhalt nichts ersichtlich.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG sind hier auch nicht im Hinblick darauf zu verneinen, dass der Landkreis Leer zugesagt hat, die Kosten der Behandlung der Klägerin für zwei Jahre zu übernehmen. Dies führt lediglich zu einem für § 60 Abs. 7 AufenthG irrelevanten Hinausschieben einer gleichwohl sicher eintretenden erheblichen Gesundheitsbeschädigung. Denn auch der Maßstab der Extremgefahr, von dem die Einzelrichterin hier ausgeht, setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht voraus, dass der Tod oder die befürchteten schwersten Verletzungen sofort nach der Abschiebung eintreten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Januar 1999 - 9 B 617.99 - juris).

Zur Frage, wie sich eine zeitlich begrenzte Kostenübernahmeerklärung der Ausländerbehörde auf die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG auswirkt, hat das Verwaltungsgericht Oldenburg im Urteil vom 25. Januar 2008 (1 A 4916/05 - juris) ausgeführt, dass eine solche Verpflichtung zur Kostentragung - die auch dort, wie hier, auf zwei Jahre befristet war - ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur entfallen lasse, wenn mit hinreichender Sicherheit erwartet werden könne, dass danach die erforderliche weitere Behandlung im Zielstaat dem Ausländer zur Verfügung steht. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat im Beschluss vom 22. Mai 2008 (13 LA 42/08 - V.n.b.) ausdrücklich bestätigt, dass diese Auffassung der 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Oldenburg nicht von der bisherigen Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts abweiche. Dieser Rechtsansicht, dass eine zeitlich befristete Kostenübernahmeerklärung die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur entfallen lässt, wenn auch im nachfolgenden Zeitraum die erforderliche Behandlung im Zielstaat tatsächlich erlangt werden kann, ist auch die 7. Kammer des Verwaltungsgerichts Oldenburg beigetreten (Urteil vom 24. Juni 2008 - 7 A 1830/06 - juris unter Verweis auf obergerichtliche Rechtsprechung: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Januar 2007 - 18 E 274/06 - juris; Hessischer VGH, Beschluss vom 23. Februar 2006 - 7 ZU 269/06.A - juris; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 6. März 2007 - 9 B 06, 30 682 - juris).

Die Einzelrichterin schließt sich dieser überzeugenden Rechtsprechung an. [...]

Auch liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin binnen zwei Jahren in der Lage sein wird, sich in Pakistan eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen, die es ihr erlaubt, anschließend die Behandlungskosten aus eigenen Mitteln zu tragen. Das jährliche Durchschnittseinkommen in Pakistan beträgt 1043 US-$ (ca. 805 Euro, also monatlich 67 Euro, vgl. www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/01-Laender/Pakistan.html). Die Behandlungskosten in Höhe von mindestens 25 Euro betragen daher mehr als ein Drittel des im günstigsten Fall zur Verfügung stehenden Geldbetrages, von welchem aber auch alle Lebenshaltungskosten getragen werden müssten. Es ist jedoch nicht damit zu rechnen, dass die Klägerin eine Erwerbstätigkeit aufnehmen könnte, um so ein durchschnittliches Einkommen zu erzielen. [...]

Bei dieser Sachlage steht der Beklagten daher keine andere Entscheidungsmöglichkeit als die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG mehr offen. Ein Festhalten an der Entscheidung zum NichtVorliegen eines Abschiebungsverbots würde zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen (zu dieser Voraussetzung vgl. Nds. OVG, Urteil vom 12. September 2007 - 8 LB 210/05 - juris; VG Kassel, Urteil vom 20. März 2008 - 3 E 1603/07.A - juris). Das Ermessen der Beklagten dahingehend, ob sie die bestandskräftige Feststellung des Nichtbestehens von Abschiebungshindernissen im Bescheid vom 27. August 2001 gemäß § 49 Abs. 1 VwVfG widerrufen will, ist auf Null reduziert (vgl. Marx, AsylVfG, 6. Aufl., § 71 Rdnr. 100). [...]