Keine Verfolgungsgefahr mehr in der Türkei wegen 15 Jahre zurückliegender Kandidatur für das kurdische Exilparlament.
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Die zulässige Klage ist unbegründet. [...]
Ausgehend hiervon haben sich die zum Zeitpunkt der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers maßgeblichen Verhältnisse nach Auffassung des Gerichts nachträglich verändert, so dass Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger im Falle einer Rückkehr in die Türkei wegen seiner Teilnahme an den Wahlen zum Kurdischen Exilparlament nicht mehr beachtlich wahrscheinlich sind. [...]
Der Kläger muss zur Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylerheblichen Repressionen, insbesondere Folter, rechnen. Denn nach Auswertung der Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass es zwar in der Türkei trotz der eingeleiteten Reformen immer noch zu menschenrechtswidriger Behandlung von inhaftierten Regimegegnern kommt, insbesondere, wenn sie der Begehung von Staatsschutzdelikten verdächtig sind. Exilpolitische Aktivitäten führen jedoch nur bei Personen zur Gefahr einer Strafverfolgung, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind. Die türkischen Strafverfolgungsbehörden haben in der Regel nur ein Interesse an der Verfolgung von im Ausland begangenen Gewalttaten bzw. ihrer konkreten Unterstützung (Hess. VGH, Urteil vom 18.01.2006 - 6 UE 489/04.A -).
Im Zuge des Reformprozesses und der Beruhigung der Sicherheitslage in der Türkei hat sich auch die Strategie in Bezug auf die Registrierung und Verfolgung exilpolitischer Aktivitäten gewandelt. Nach der aktuellen Erkenntnislage ist davon auszugehen, dass türkische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr oder Abschiebung nur dann ernsthaft gefährdet sind, längere Zeit festgehalten und unter Misshandlungen bis hin zur Folter verhört zu werden, wenn der Verdacht besteht, dass sie sich durch Aktivisten im Ausland nach türkischem Strafrecht strafbar gemacht haben, etwa weil ihre Aktivitäten als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen gewertet werden. Falls ein Asylbewerber den in Deutschland operierenden Diensten durch exilpolitische Betätigungen niedrigen Profils aufgefallen und diese registriert worden sein sollten, ist es zwar möglich, dass er bei einer Wiedereinreise in die Türkei verhört wird; das Verhör kann mitunter einige Stunden dauern. Mit darüber hinausgehenden Maßnahmen, insbesondere Misshandlungen, muss er aber nur bei dem Verdacht strafbaren Handelns rechnen (Kaya, Gutachten vom 15.09.2003 an VG Stuttgart).
Soweit die oberverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung teilweise trotz der Reformen in der Türkei von einer Verfolgungsgefährdung türkischer Staatsangehöriger ausgeht, betrifft dies Fälle von Aktivisten der PKK, die als exponierte Gegner des türkischen Staates in Erscheinung getreten sind (z.B. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19.09.2008 - 10 A 10474/08 -) bzw. Fälle, in denen die Kläger vorverfolgt aus der Türkei ausgereist sind (z.B. OVG Bautzen, Urteil vom 19.01.2006 - A 3 B 304/03 -) und deshalb der Prognosemaßstab der "hinreichenden Sicherheit" bei Rückkehr Anwendung findet.
Ein Verfolgungsinteresse des türkischen Staates besteht indes nicht im Hinblick auf jedes Mitglied einer Exilorganisation in gleicher Weise, sondern nur in Bezug auf Mitglieder, die eine politische Meinungsführerschaft übernommen haben. Die Intensität, mit der einzelne Mitglieder dieser Organisationen beobachtet werden, hängt nicht von deren formalen Funktion in der Organisation, sondern von Art und Gewicht der politischen Betätigung ab. Es ist deshalb in Fällen - auch bei Vorstandsmitgliedern - im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu ermitteln, ob sich der Betreffende in so hinreichendem Maße als Ideenträger oder Initiator im Rahmen von aus türkischer Sicht staatsgefährdenden Bestrebungen hervorgetan hat, dass von einem Verfolgungsinteresse des türkischen Staates auszugehen ist (OVG NRW, Urteil vom 19.04.2005 - 8 A 273/04.A, juris).
Unter Zugrundelegung der vorstehenden Maßstäbe begründet das exilpolitische Engagement des Klägers heute nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verfolgungsrisiko. Ungeachtet der Frage, ob die erfolglose Kandidatur des Klägers für das kurdische Exilparlament, die ca. 15 Jahre zurückliegt, heute überhaupt noch zu einer Bestrafung nach türkischem Strafrecht führen würde, handelt es sich jedenfalls hierbei um eine lediglich niedrig profilierte Aktion, durch die sich der Kläger nicht als Ideengeber oder Meinungsführer der politischen Exilbewegung hervorgetan hat, denn sein Name stand zwar auf einer internen Kandidatenliste. Er hat sich aber weder zu jener Zeit, noch danach als Aufwiegler oder Anstifter exilpolitischer Aktivitäten hervorgetan, so dass die türkischen Strafverfolgungsbehörden kein Interesse an einer strafrechtlichen Verfolgung des Klägers haben. [...]