BGH

Merkliste
Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 18.09.2008 - V ZB 129/08 - asyl.net: M15599
https://www.asyl.net/rsdb/M15599
Leitsatz:

Gegen die Ablehnung eines Haftaufhebungsantrag nach § 10 Abs. 2 FEVG ist die sofortige Beschwerde statthaft; bei der Entscheidung über die Aufhebung der Haft sind auch Einwände gegen die Haftanordnung zu berücksichtigen.

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, Haftaufhebung, Aufhebungsantrag, Antrag, Auslegung, Beschwerde, sofortige Beschwerde, Zulässigkeit
Normen: FEVG § 10 Abs. 2; FEVG § 7 Abs. 1; FEVG § 12; GG Art. 104; FEVG § 10 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die weitere sofortige Beschwerde des Betroffenen ist begründet.

1. Die Vorinstanzen haben das Schreiben des Betroffenen zutreffend als Antrag nach § 10 Abs. 2 FreihEntzG ausgelegt. Darin wendet sich der Betroffene zwar in erster Linie gegen den Beschluss vom 9. Juli 2008, durch den das Amtsgericht die Abschiebehaft angeordnet hat. Seinem Schreiben lässt sich aber entnehmen, dass er sich mit jedem dazu geeigneten Antrag gegen die Fortdauer der Haft wenden will. Dazu stand ihm nur der Antrag nach § 10 Abs. 2 FreihEntzG zu Gebote.

2. Die sofortige Beschwerde des Betroffenen gegen die Zurückweisung des Antrags durch das Amtsgericht durfte nicht als unzulässig verworfen werden.

a) Ob gegen die Zurückweisung eines Antrags nach § 10 Abs. 2 FreihEntzG ein Rechtsmittel gegeben ist, wird allerdings unterschiedlich beurteilt. Nach einer Meinung, der das Beschwerdegericht folgt, soll sich aus den Vorschriften der §§ 7 und 12 FreihEntzG ergeben, dass nur die Entscheidungen über die Anordnung und die Fortdauer der Haft mit der sofortigen Beschwerde angreifbar seien (OLG Saarbrücken OLG-Report 2008, 193, 194 unter Bezugnahme auf die aufgegebene Auffassung des OLG Düsseldorf, Beschl. v. 25. September 2002, 3 Wx 296/02, juris, und v. 16. April 2003, 3 Wx 116/03, juris). Anträge auf Aufhebung der angeordneten Haft seien demgegenüber als Ausnahme von dem Abänderungsverbot des § 18 Abs. 2 FGG nicht beschwerdefähig, da sie in jedem Fall (erneut) zu prüfen seien. Nach der Gegenmeinung sind gegen Entscheidungen über die Zurückweisung der Haftaufhebung die allgemeinen Rechtsmittel gegeben (BayObLG, Beschl. v. 3. August 2004, 4Z BR 32/04; KG OLGZ 1977, 161, 162; OLG Stuttgart FGPrax 1996, 40; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 5. Oktober 2004, 3 Wx 255/04, juris; OLG Frankfurt/Main OLG-Report 2006, 83 [Ls], Volltext bei juris; OLG Köln OLG-Report 2007, 792, 793).

b) Der Senat erachtet die zuletzt genannte Auffassung für zutreffend.

aa) Aus den Vorschriften der §§ 7 Abs. 1, 12 FreihEntzG ergibt sich nur, dass jedenfalls die Anordnung der Haft nach § 6 FreihEntzG und ihre Verlängerung nach § 9 FreihEntzG der sofortigen Beschwerde unterliegen. Dass andere Entscheidungen nach dem Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen (Freiheitsentziehungsverfahrensgesetz) nicht beschwerdefähig sein sollen, lässt sich weder den genannten noch anderen Vorschriften des Gesetzes entnehmen.

bb) Dies folgt auch nicht aus der hierfür in Anspruch genommenen Systematik des Gesetzes. Sie ergibt das Gegenteil.

(1) Es ist zwar richtig, dass die Möglichkeit der Haftaufhebung nach § 10 FreihEntzG systematisch eine Ausnahme von dem Grundsatz in § 18 Abs. 2 FGG bildet, dass eine der sofortigen Beschwerde unterliegende Entscheidung nicht von dem Ausgangsgericht abgeändert werden darf. Über die Anfechtbarkeit der Entscheidung über die Aufhebung der Haft besagt das aber nichts. Das zeigt die der Freiheitsentziehung insoweit vergleichbare Konstellation der Unterbringung. Sie unterliegt nach § 70m Abs. 1 FGG der sofortigen Beschwerde (Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, 15. Aufl., § 70m Rdn. 3). Abweichend von § 18 Abs. 2 FGG ist sie – wie die Freiheitsentziehung – nach § 70i Abs. 1 Satz 1 FGG aufzuheben, wenn ihre Voraussetzungen weggefallen sind. Das schließt die Anfechtbarkeit der Entscheidung nicht aus. Gegen sie findet die einfache Beschwerde statt (Bumiller, FGG, 8. Aufl., § 70m Rdn. 2; Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, 15. Aufl., § 70m Rdn. 5; Sonnenfeld in: Jansen, FGG, 3. Aufl., § 70m Rdn. 14).

(2) Die Haftaufhebung ist in § 10 FreihEntzG als selbständige Entscheidung ausgestaltet. Sie unterliegt nach § 3 Satz 2 FreihEntzG daher wie alle anderen Entscheidungen nach dem Freiheitsentziehungsverfahrensgesetz der Beschwerde. Die Anschlussfrage, ob es sich dabei um eine einfache oder eine sofortige Beschwerde handelt, ist nach den auch sonst geltenden Grundsätzen zu entscheiden. Diese ergeben sich aus § 7 Abs. 1 FreihEntzG und § 12 FreihEntzG in Verbindung mit jener Vorschrift. Dem wird entnommen, dass gegen Entscheidungen, die die Freiheitsentziehung selbst betreffen, die sofortige Beschwerde, für alle andere Entscheidungen die einfache Beschwerde gegeben ist (Marschner in Marschner/Volckart, Freiheitsentziehung und Unterbringungen, 4. Aufl., § 7 FreihEntzG Rdn. 2). Danach ist gegen die Zurückweisung eines Antrags auf Haftaufhebung die sofortige Beschwerde gegeben, weil ihr Gegenstand nicht die Modalitäten der Haft sind, sondern ihr (Fort-) Bestand.

3. Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif. Sie ist zur weiteren Sachaufklärung und erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen.

a) Der Betroffene trägt allerdings nicht vor, dass sich die Umstände nach seiner Inhaftierung geändert hätten. Er begründet seinen Antrag vielmehr damit, dass die Voraussetzungen für die Anordnung der Haft nicht vorgelegen hätten. Könnte er damit im Verfahren über einen Antrag nach § 10 Abs. 2 FreihEntzG nicht gehört werden, wäre die Sache zur Entscheidung reif, seine sofortige Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.

b) Das ist indessen nicht der Fall.

aa) Ob der Betroffene im Verfahren nach § 10 Abs. 2 FreihEntzG mit Einwänden gegen die Haftanordnung ausgeschlossen ist, wird unterschiedlich beurteilt. Nach einer von dem Beschwerdegericht geteilten Ansicht ist die Frage zu bejahen (KG OLGZ 1977, 161, 164; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 25. September 2002, 3 Wx 296/02, juris, und v. 16. April 2003, 3 Wx 116/03, juris; OLG Saarbrücken, OLG-Report 2007, 193, 194). Nach anderer Ansicht, der das vorlegende Oberlandesgericht folgt, können nicht nur neue Tatsachen, sondern auch Einwände gegen die Anordnung der Haft zu ihrer Aufhebung nach § 10 FreihEntzG führen (BayObLG Beschl. v. 3. August 2004, 4Z BR 32/04; OLG Stuttgart, FGPrax 1996, 40; OLG Celle NdsRpfl 2004, 16; OLG Frankfurt/Main OLG-Report 2006, 83 [Ls], Volltext bei juris; Marschner in Marschner/Volckart, Freiheitsentziehung und Unterbringungen, 4. Aufl., § 10 FreihEntzG Rdn. 2).

bb) Dieser zweiten Meinung tritt der Senat bei. § 10 Abs. 1 FreihEntzG verpflichtet zu einer Aufhebung der angeordneten Haft nach seinem Wortlaut zwar nur, wenn der Grund für die Freiheitsentziehung weggefallen ist. Dem könnte entnommen werden, dass Voraussetzung dafür der Eintritt neuer Umstände ist. § 10 Abs. 2 FreihEntzG löst sich aber von dieser engen Begrifflichkeit und verpflichtet dazu, Anträge nach § 6 Abs. 2 FreihEntzG “in jedem Fall” zu prüfen und zu bescheiden. Das lässt jedenfalls vom Wortsinn her eine Aufhebung auch dann zu, wenn sich die Sachlage zwar nicht verändert, ein Grund für die Anordnung der Haft aber nicht bestanden hat und auch weiterhin nicht besteht.

Nur ein solches weites Verständnis wird dem Zweck des Aufhebungsverfahrens gerecht. Dieses zielt darauf, eine sachlich nicht gerechtfertigte Inhaftierung zur Verwirklichung der Freiheitsgarantien des Art. 104 GG umgehend zu beenden. Unter diesem Aspekt ist es unerheblich, ob sich die fehlende Berechtigung der Inhaftierung aus neuen Umständen oder daraus ergibt, dass sie nicht hätte angeordnet werden dürfen. Eine Berücksichtigung von Einwänden gegen die Haftanordnung bei der Prüfung der Haftaufhebung steht auch nicht entgegen, dass der Betroffene eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haftanordnung schon mit den gegen diesen gegebenen Rechtsmitteln erreichen kann und in der Regel auch erreicht. Entscheidungen über die Anordnung der Haft sind nur der formellen, nicht der materiellen Rechtkraft fähig (Marschner, aaO). Die damit einhergehende mehrfache Prüfung ist bei einer Freiheitsentziehung nicht zu vermeiden. Ihre Fortdauer ist nicht nur unverhältnismäßig, wenn der Grund für ihre Anordnung weggefallen ist, sondern in gleicher Weise, wenn eine erneute Prüfung ergibt, dass er (doch) nicht vorgelegen hat. [...]