OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 26.03.2009 - 2 M 14/09 - asyl.net: M15629
https://www.asyl.net/rsdb/M15629
Leitsatz:

Die Frist des § 11 Abs. 1 AufenthG beginnt mit der erstmaligen Ausreise des Ausländers; kehrt ein ausgewiesener Ausländer trotz Einreiseverbot nach Deutschland zurück, kann das zwar bei der Bemessung der Frist berücksichtigt werden, schließt aber die Befristung der Wirkung der Ausweisung nicht zwingend aus.

 

Schlagwörter: D (A), Rücknahme, Aufenthaltserlaubnis, Sperrwirkung, Wirkungen der Ausweisung, Ehegattennachzug, Deutschverheiratung, Ausreise, Befristung, Ermessen, Krankheit
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1 S. 2; GG Art. 6 Abs. 1; VwVfG § 48; AufenthG § 11 Abs. 1 S. 4
Auszüge:

Die Frist des § 11 Abs. 1 AufenthG beginnt mit der erstmaligen Ausreise des Ausländers; kehrt ein ausgewiesener Ausländer trotz Einreiseverbot nach Deutschland zurück, kann das zwar bei der Bemessung der Frist berücksichtigt werden, schließt aber die Befristung der Wirkung der Ausweisung nicht zwingend aus.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist unbegründet. [...]

Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass der angegriffene Rücknahmebescheid rechtlichen Bedenken unterliegt.

Der Antragsgegnerin ist zwar darin zu folgen, dass die Aufenthaltserlaubnis vom 06.03.2007 und deren Verlängerung vom 14.01.2008 rechtswidrig waren, weil nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG einem Ausländer, der ausgewiesen worden ist, auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt werden darf. Die Rücknahme dürfte aber – jedenfalls soweit sie sich Wirkung für die Zukunft beimisst – ermessensfehlerhaft sein. Die Antragsgegnerin hat bei ihrer Ermessensentscheidung die sich aus Art. 6 GG ergebenden Schutzwirkungen für die eheliche Lebensgemeinschaft der Antragstellerin mit ihrem deutschen Ehemann nicht hinreichend berücksichtigt. Sie hat insbesondere nicht erwogen, ob – was bei der hier gegebenen Sachlage nahe liegt – durch ein milderes Mittel, nämlich durch eine Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis nur für die Vergangenheit, verbunden mit einer sofortigen Befristung der Wirkungen der Ausweisung, rechtmäßige Zustände geschaffen und damit dem Bestehen der ehelichen Lebensgemeinschaft besser Rechnung getragen werden kann.

Die Antragsgegnerin ist bei ihrer Ermessensentscheidung unzutreffend davon ausgegangen, dass eine Befristung derWirkung der Ausweisung erst für einen Zeitraum nach der (erneuten) Ausreise der Antragstellerin aus dem Bundesgebiet ausgesprochen werden könne. Eine solche Rechtsfolge ergibt sich insbesondere nicht aus § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG, wonach die Frist mit der Ausreise beginnt. Unter "Ausreise" im Sinne dieser Regelung wird nur die erstmalige Ausreise verstanden; ein Ausländer, der – wie die Antragstellerin – unter Verstoß gegen § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erneut in das Bundesgebiet eingereist ist, ist daher nicht in jedem Fall verpflichtet, erneut auszureisen, ehe einem Befristungsantrag entsprochen werden kann (OVG Hamburg, Beschl. v. 15.08.1991 - Bs VII 67/91 -, EZAR 017 Nr. 2; Hailbronner, Ausländerrecht, § 11 RdNr. 32; Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., § 11 Rd-Nr. 13). Mit dieser bereits vom Verwaltungsgericht dargelegten Rechtsauffassung setzt sich die Beschwerde nicht auseinander. Sie kann sich insoweit nicht auf eine andere Entscheidung des OVG Hamburg (Beschl. v. 12.04.2007 - 1 So 26/07 -, NVwZ-RR 2007, 712) berufen; denn in jener Entscheidung war die betroffene Ausländerin nach ihrer Ausweisung und vor der Befristungsentscheidung der Ausländerbehörde zu keinem Zeitpunkt aus dem Bundesgebiet ausgereist. Im Übrigen kann nach der (neueren) Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 43.06 - BVerwGE 129, 226 [237], RdNr. 28) ausnahmsweise der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Verbindung mit Art. 6 GG im Einzelfall die Befristung der Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG selbst dann gebieten, wenn der Ausländer das Bundesgebiet nach der Ausweisung noch nicht verlassen hat.

Der Umstand, dass ein Ausländer nach seiner Ausweisung unter Verstoß gegen § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erneut in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, schließt es zwar nicht aus, dass die Ausländerbehörde eine ihr erwünscht oder geboten erscheinende erneute Ausreise im Rahmen der Entscheidung über die Befristung der Wirkung der Ausweisung herbeiführt, beispielsweise die Frist so bemisst, dass der Ausländer wieder ausreisen muss (OVG Hamburg, Beschl. v. 15.08.1991, a.a.O.). Bei der Ausweisung und Abschiebung kommt es für die Fristbemessung maßgeblich auf das Verhalten des Ausländers nach seiner Ausreise oder Abschiebung an. So kann etwa eine unerlaubte Wiedereinreise belegen, dass der spezialpräventive wie der generalpräventive Zweck der Sperrwirkung noch nicht erreicht ist, die Sperrfrist deshalb aus öffentlichem Interesse noch eine gewisse Zeit fortzudauern hat. Allerdings kann bei der Befristungsentscheidung nicht schematisch vorgegangen werden, vielmehr ist jeweils individuell zu beurteilen, welche Schlüsse aus dem Einreiseverstoß für den Wiederholungsfall oder für ein Abschreckungsbedürfnis zu ziehen sind (vgl. zum Ganzen: VGH BW, Urt. v. 26.03.2003 - 11 S 59/03 -, InfAuslR 2003, 333 [337]). Zweck der Befristungsregelung ist es, dem Ausländer einen neuen Aufenthalt zu ermöglichen, wenn sich der Sachverhalt verändert hat, insbesondere die mit der Ausweisung verfolgten ordnungsrechtlichen Zwecke erreicht sind; ist also beispielsweise die Wiederholungsgefahr entfallen, derentwegen der Ausländer ausgewiesen wurde, sind grundsätzlich die Ausweisungswirkungen zu befristen (BVerwG, Urt. v. 07.12.1999 - 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140 [147]). Schließlich sind auch bei der Bemessung der Sperrfrist die einschlägigen höherrangigen Schutzzwecke und verfassungsrechtliche Wertentscheidungen (Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK) zu beachten und dem öffentlichen Interesse gegenüberzustellen (VGH BW, Urt. v. 26.03.2003, a.a.O.; OVG Hamburg, Beschl. v. 15.08.1991, a.a.O.).

Die Antragsgegnerin hat insoweit keine (ausreichenden) Erwägungen angestellt, sondern fehlerhaft angenommen, auf Grund der gesetzgeberischen Intention könne hier die Frist nicht mit dem Ziel, eine (erneute) Ausreise zu erübrigen, auf Null gesetzt werden.

Dem Verwaltungsgericht ist ferner darin beizupflichten, dass die Antragsgegnerin den Schutzwirkungen des Art. 6 GG nicht das ihnen zukommende Gewicht beigemessen hat. Allein durch das Absehen von einer erneuten Ausweisung wegen des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG ist den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genüge getan. Der verfassungsrechtlichen Pflicht des Staats zum Schutz von Ehe und Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung auch über ein Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, AuAS 2006, 26, m. w. Nachw.). Dem entsprechend ist die Entscheidung des Gesetzgebers für einen besonderen Ausweisungsschutz, mit dem der Auftrag zum

Schutz von Ehe und Familie nach Art 6 GG, Art. 8 EMRK konkretisiert wird, auch im Rahmen der Ermessensentscheidung über die Versagung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis zu beachten (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.07.2002 - 1 C 8.02 -, 116, 378 [386]) und kann deshalb auch bei der Rücknahme einer Aufenthaltserlaubnis und bei der Entscheidung über die Befristung der Wirkung der Ausweisung nicht unberücksichtigt bleiben.

Auch mit den im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nachgeschobenen Erwägungen hat die Antragsgegnerin das aufgezeigte Ermessensdefizit nicht beseitigt. Weiterhin hält sie eine Befristung der Wirkung der Ausweisung nur nach erneuter Ausreise für möglich und geht damit von einer unzutreffenden Rechtslage aus. Soweit sie vorgetragen hat, die Herstellung und Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft werde nicht vereitelt oder in unzumutbarer Weise erschwert, sondern nur vorübergehend eingeschränkt, hat auch der Senat erhebliche Zweifel, ob sie damit die besonderen Umstände des Falles genügend berücksichtigt hat. Zwar mag es auch bei Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft im Einzelfall sachgerechter Ermessensausübung entsprechen, wenn die Ausländerbehörde eine durch Täuschung erlangte Aufenthaltserlaubnis zurücknimmt, auch wenn später die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wieder möglich erscheint (vgl. BayVGH Beschl. v. 08.05.2006 - 24 CS 06.908 -, Juris). Im vorliegenden Fall, in dem die Antragstellerin auf Grund der geltend gemachten gesundheitlichen Probleme möglicherweise auf den besonderen Beistand ihres deutschen Ehemanns angewiesen ist, bedarf es jedoch einer sorgfältigen Prüfung, ob es ihr zuzumuten ist, den Antrag auf Befristung der Wirkung der Ausweisung aus dem Ausland zu stellen, und ob eine bestehende Aufenthaltserlaubnis auch für die Zukunft zugenommen werden soll. [...]

Gerade in Fällen der vorliegenden Art drängt sich die Überlegung auf, ob das frühere Verhalten der Antragstellerin – auch in Ansehung spezial- und generalpräventiver Erwägungen – nicht auch in der Weise angemessen sanktioniert werden kann, dass die noch gültige Aufenthaltserlaubnis nur für die Vergangenheit zurückgenommen wird. [...]