OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Urteil vom 24.03.2009 - 3 Bf 166/04 - asyl.net: M15630
https://www.asyl.net/rsdb/M15630
Leitsatz:

Die Grundsätze, die der EGMR für die Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung nach Art. 8 EMRK festgelegt hat, sind auch im Fall einer zwingenden Ausweisung zu beachten (hier: Unzulässigkeit der Ausweisung eines "faktischen Inländers" wegen Drogendelikten nach Überwindung der Drogensucht).

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, zwingende Ausweisung, Drogendelikte, Straftat, Persönlichkeitsrecht, Privatleben, Schutz von Ehe und Familie, Volljährige Kinder, Eltern, Verhältnismäßigkeit, in Deutschland geborene Kinder, Integration, faktische Inländer, Wiederholungsgefahr, Sprachkenntnisse, EMRK, EGMR, Drogenabhängigkeit
Normen: AufenthG § 53 Nr. 2; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 4; GG Art. 2 Abs. 1; GG Art. 6; EMRK Art. 8
Auszüge:

[...] Die Berufung des Beklagten ist zulässig, aber unbegründet. [...]

Die mit Bescheid vom 4. September 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. November 2001 verfügte Ausweisung des Klägers erweist sich in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nunmehr generell maßgebenden Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts (BVerwG, Urt. v. 3.12.2008, 1 C 35/07, juris; Urt. v. 15.11.2007, BVerwGE 130, 20) als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Allerdings ist der Kläger nach den Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes zwingend auszuweisen (1.). Seine Ausweisung hält jedoch einer Überprüfung nach Maßgabe höherrangigen Rechts und der Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht stand (2.).

1. Gesetzliche Grundlage der verfügten Ausweisung ist das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) vom 30. Juli 2004 in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162 mit Änderungen durch das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz v. 20.12.2008, BGBl. I S. 2846).

a) Nach § 53 Nr. 2 AufenthG, der einen Fall der zwingenden Ausweisung regelt, wird ein Ausländer u. a. dann ausgewiesen, wenn er wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Diese Voraussetzungen sind hier mehrfach erfüllt. [...]

b) Besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG kommt dem Kläger nicht zugute. [...]

Auch aus § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG kann der Kläger einen besonderen Ausweisungsschutz nicht herleiten. [...]

Der Kläger ist zwar seit dem 14. März 2003 mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet und seit dem 1. Mai 2004 Vater einer (deutschen) Tochter; er lebt aber weder mit seiner Frau noch mit seinem Kind in familiärer Lebensgemeinschaft. [...]

2. Der danach einfachgesetzlich zwingenden Ausweisung des Klägers stehen jedoch höherrangiges Recht und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) entgegen.

Die Ausweisung berührt den im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen Kläger in seinen Grundrechten. Nach neuerer Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschl. v. 10.8.2007, NVwZ 2007, 1300; Beschl. v. 10.5.2007, NVwZ 2007, 946; Beschl. v. 1.3.2004, NVwZ 2004, 852) ist die Rechtmäßigkeit seiner Ausweisung daher nicht allein auf der Grundlage einfachgesetzlicher Vorschriften zu beurteilen; erforderlich ist vielmehr eine einzelfallbezogene Prüfung unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des konkreten Falls.

a) Grundsätzlich tragen die Regelungen des Aufenthaltsgesetzes mit ihrem System von "Ist-Ausweisung", "Regel-Ausweisung" und "Kann-Ausweisung" (§§ 53–55 AufenthG) sowie dem besonderen Ausweisungsschutz für bestimmte Ausländer (§ 56 AufenthG) auch nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit von Ausweisungen hinreichend Rechnung (BVerfG, Beschl. v. 10.8.2007, a.a.O.). [...]

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird dieses System jedoch den sich aus höherrangigem Recht ergebenden Anforderungen nicht in jedem Fall gerecht. Deshalb entbindet die Anwendung des Stufensystems der §§ 53 ff AufenthG nicht davon, im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auch die Umstände des Einzelfalls zu prüfen, da nur diese Prüfung sicherstellen kann, dass die Verhältnismäßigkeit bezogen auf die Lebenssituation des betroffenen Ausländers gewahrt bleibt (BVerfG, Beschl. v. 10.8.2007, a.a.O.). Insbesondere für die im Laufe der Zeit immer größer gewordene Gruppe im Bundesgebiet geborener und aufgewachsener Ausländer bedarf es bei der Entscheidung über die Ausweisung einer individuellen Würdigung, inwieweit der Ausländer im Bundesgebiet verwurzelt ist und dies angesichts der konkreten Ausweisungsgründe bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalls einer Ausweisung entgegensteht. Dies gilt zumal, wenn – wie hier – ein besonderer Ausweisungsschutz nicht besteht.

Insoweit dient die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und ist diese auch hinsichtlich der Frage der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung und Abschiebung eines in Deutschland geborenen und aufgewachsenen, straffällig gewordenen Ausländers nach Maßgabe der Grundrechte des Grundgesetzes als Auslegungshilfe heranzuziehen. Heranziehung als Auslegungshilfe bedeutet dabei in den hier in Rede stehenden Fällen einer Ausweisung eines Ausländers der zweiten Generation, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in seiner diesbezüglichen Abwägung berücksichtigten Aspekte auch in die verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen und sich mit den vom Gerichtshof gefundenen Abwägungsergebnissen auseinander zu setzen (BVerfG, Beschl. v. 1.3.2004, a.a.O.). Dabei sind die Maßstäbe, die für die Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 8 Abs. 1 EMRK gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gelten, auch im Falle einer – wie hier gegebenen – Ist-Ausweisung heranzuziehen (BVerfG, Beschl. v. 10.8.2007, a. a.O.; OVG Hamburg, Beschl. v. 7.3.2008, 1 Bf 4/08.Z).

b) Die Ausweisung berührt den Kläger in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG. [...]

c) Dieser Eingriff erweist sich nach den Maßstäben, die für die Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 8 Abs. 1 EMRK gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gelten, als unverhältnismäßig. [...]

Betroffen ist aber das Recht des Klägers auf Achtung seines Privatlebens. Hierunter ist die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen zu verstehen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind (vgl. EGMR, Urt. v. 9.10.2003, Fall Slivenko, a.a.O., S. 560) und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.5.2007, NVwZ 2007, 946; Thym, a.a.O.; Discher in: GK-AufenthG, vor §§ 53 ff., Stand Januar 2007, Rn. 841 ff. m.w.N.; Hoppe, ZAR 2006, 125). Dabei kommt es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht entscheidungserheblich darauf an, ob der Ausländer über einen zumindest vorübergehenden legalen Aufenthalt verfügte; der Schutzbereich dieses Menschenrechts ist vielmehr auch bei nur Geduldeten eröffnet (EGMR, Urt. v. 21.6.1988, Fall Berrehab, EuGRZ 1993, 547).

Der Kläger ist in Deutschland geboren und aufgewachsen; er hat hier seine gesamte Schulzeit verbracht sowie persönliche und andere Bindungen erlangt. Hier leben seine Mutter und sein Bruder ebenso wie die Ehefrau und das gemeinsame Kind.

bb) Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung eines Rechts im Sinne des Absatzes 1 nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft u.a. für die öffentliche Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen notwendig ist.

Dabei geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte grundsätzlich davon aus, dass die Konvention Ausländern nicht das Recht zusichert, in ein bestimmtes Land einzureisen oder sich dort aufzuhalten, und dass ein Staat berechtigt ist, die Einreise von Ausländern in sein Hoheitsgebiet und ihren Aufenthalt dort nach Maßgabe seiner vertraglichen Verpflichtungen zu regeln (EGMR, Urt. v. 18.10.2006, Fall Üner, NVwZ 2007, 1279; Urt. v. 28.6.2007, Fall Kaya, a.a.O.). Zur Erfüllung ihrer Aufgabe, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, haben die Vertragsstaaten die Befugnis, einen strafrechtlich verurteilten Ausländer auszuweisen. Dieser Grundsatz gilt unabhängig davon, ob ein Ausländer als Erwachsener oder in sehr jungen Jahren in das Gastland eingereist ist oder dort geboren wurde. Zwar haben eine Reihe von Vertragsstaaten, der Empfehlung Nr. 1504 (2001) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats entsprechend, Gesetze und Verordnungen erlassen, nach denen langjährig ansässige Einwanderer, die in ihrem Staatsgebiet geboren oder dort in jungen Jahren eingereist sind, auf der Grundlage ihrer Vorstrafen nicht ausgewiesen werden dürfen. Ein solches absolutes Recht, nicht ausgewiesen zu werden, kann aus Art. 8 EMRK aber nicht abgeleitet werden (EGMR, Urt. v. 28.6.2007, Fall Kaya, a.a.O.; Urt. v. 18.10.2006, Fall Üner, NVwZ 2007, 1279; Urt. v. 9.10.2003, Fall Slivenko, a.a.O.). Allerdings muss die Entscheidung des Vertragsstaates, sofern sie in ein nach Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Recht eingreift, gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein (Art. 8 Abs. 2 EMRK), d.h. einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen (EGMR, Urt. v. 18.10.2006, Fall Üner, a.a.O.; Urt. v. 26.9.1997, Fall Mehemi, InfAuslR 1997, 430; Urt. v. 26.3.1992, Fall Beldjoudi, EuGRZ 1993, 556).

Im Zusammenhang mit der Ausweisung von Straftätern hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verschiedene Kriterien bezeichnet, anhand derer zu prüfen ist, ob eine Ausweisung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist (EGMR, Urt. v. 2.8.2001, Fall Boultif, InfAuslR 2001, 476; Urt. v. 28.6.2007, Fall Kaya, a.a.O.).

Maßgeblich sind danach folgende Kriterien:

– die Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftat,

– die Dauer des Aufenthalts im Land, aus dem der Ausländer ausgewiesen werden soll,

– die seit der Straftat vergangene Zeit ebenso wie das Verhalten des Ausländers in dieser Zeit,

– die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten,

– die familiäre Situation des Ausländers, wie die Dauer der Ehe und andere Faktoren, die die Effektivität des Familienlebens eines Paares zum Ausdruck bringen,

– ob der Ehepartner von der Straftat wusste, als er die familiäre Bindung einging,

– ob Kinder aus der Ehe hervorgegangen sind, und in diesem Fall ihr Alter, und

– die Erheblichkeit der Schwierigkeiten, mit denen der Ehepartner voraussichtlich im Herkunftsland konfrontiert ist.

Zusätzlich hat der Gerichtshof in einer späteren Entscheidung (Urt. v. 18.10.2006, Fall Üner, a.a.O.) zwei Kriterien hervorgehoben:

– die Belange und das Wohl der Kinder, insbesondere das Ausmaß der Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ausgewiesen werden soll, und

– die Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland oder zum Bestimmungsland.

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien lässt sich nicht feststellen, dass die Ausweisung des Klägers namentlich zur Verhinderung von strafbaren Handlungen notwendig ist. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Rechtfertigung der Ausweisung eines niedergelassenen Immigranten, der seine gesamte Kindheit und Jugend oder den größten Teil davon im Gastland verbracht hat, sehr gewichtige Gründe vorgebracht werden müssen (EGMR, Urt. v. 23.6.2008, Fall Maslov II, a.a.O.).

(1) Bei den (noch) zu berücksichtigenden Straftaten des Klägers handelt es sich vornehmlich um Drogendelikte, die im Zusammenhang mit dessen eigener Drogensucht standen. [...]

Der Gerichtshof hat im Bereich des Drogenhandels wiederholt Verständnis dafür gezeigt, dass die Konventionsstaaten gegen Personen, die aktiv zur Verbreitung von Drogen beitragen, harte Maßnahmen ergreifen (EGMR, Urt. v. 15.7.2003, Fall Mokrani, a.a.O.; Urt. v. 10.7.2003, Fall Benhebba, InfAuslR 2004, 182; Urt. v. 30.11.1990, Fall Baghli, NVwZ 2000, 1401). Im Hinblick auf wegen Drogenkonsums Verurteilte hat der Gerichtshof indes ausgeführt, dass Taten, die im Wesentlichen in Bezug stehen allein zum Gebrauch von Drogen, weder allein noch zusammengenommen als besonders schwer angesehen werden können (EGMR, Urt. v. 13.2.2001, Fall Ezzouhdi, besprochen in einer Anmerkung von Zander, InfAuslR 2001, 480). In dem Fall Ezzouhdi hat der Gerichtshof weiter ausgeführt, dass angesichts der konkreten Taten – der Antragsteller war 1997 wegen Verstoßes gegen die Drogengesetzgebung zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt worden, wobei es sich im Wesentlichen um Besitz und Gebrauch von im Ausland gekauften kleineren Mengen Haschisch, Heroin und Kokain gehandelt hatte – vernünftigerweise nicht behauptet werden könne, dass Herr Ezzouhdi eine ernste Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle, was sich auch an der verhältnismäßig geringen Strafe zeige. Die vorgenannte Differenzierung innerhalb des Bereichs der Drogenkriminalität hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 23. Juni 2008 (a.a.O.) ausdrücklich wiederholt.

Gemessen hieran wiegen auch die Straftaten des Klägers weder allein noch zusammengenommen besonders schwer. Der Kläger ist für die im August 2000 begangenen Straftaten mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten bestraft worden; für die in den Jahren 2005 bis 2007 begangenen Straftaten mit Strafen von jeweils wenigen Monaten. Innerhalb des Betäubungsmittelgesetzes gehören die Taten der Jahre 2005 bis 2007 zu den weniger schweren; gemessen an dem Strafrahmen des § 29 Abs. 1 BtMG, der eine Bestrafung mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe vorsieht, liegen die Strafen des Klägers eher im unteren Bereich. Straftaten, die der Beschaffungskriminalität zuzuordnen sind, hat der Kläger seit dem Jahr 2000 nicht mehr begangen. Die damals begangene Tat erfolgte zudem aus einer besonderen persönlichen Belastungssituation heraus und lässt daher Folgerungen für die Zukunft nicht zu. Auch der schwere Rückfall des Klägers in die Abhängigkeit im Jahr 2006 hat nicht zu weiteren Taten der Beschaffungskriminalität geführt.

(2) Der Kläger hat mehr als dreißig Jahre in der Bundesrepublik verbracht.

(3) Hinsichtlich der Integration in Deutschland ist zunächst zu sehen, dass der Kläger hier geboren und aufgewachsen ist und über gute deutsche Sprachkenntnisse verfügt. Seine Eltern sind bereits 1972 bzw. 1973 in die Bundesrepublik eingereist und haben mithin mehr als dreißig Jahre hier gelebt. Der ebenfalls in Deutschland geborene Bruder des Klägers besitzt zudem die deutsche Staatsangehörigkeit. Zu seiner Mutter und seinem Bruder pflegt der Kläger ein gutes Verhältnis; beide haben ihn wiederholt in der Haftanstalt besucht. Zu Gunsten des Klägers kann davon ausgegangen werden, dass seine Mutter ihm einen gewissen Halt und Unterstützung gegeben hat, wobei allerdings auch die Unterstützung und der Einfluss seiner Mutter nicht haben verhindern können, dass seine Versuche, von seiner Drogensucht wegzukommen, gescheitert sind. Daneben ist aber auch zu sehen, dass der Kläger von seiner Ehefrau und seinem Kind getrennt lebt, ohne dass eine tatsächliche Verbundenheit besteht, und einen festen Freundes- oder Bekanntenkreis nicht besitzt. Es ist auch festzustellen, dass es der Kläger nicht geschafft hat, sich sozial und wirtschaftlich in die Bundesrepublik zu integrieren. Er hat keinen Schulabschluss und keine Ausbildung gemacht und lebt im Wesentlichen von Sozialleistungen. Abgesehen von seiner Beschäftigung bei einer Firma im letzten halben Jahr vor seiner Inhaftierung ist nicht ersichtlich, dass der Kläger überhaupt einmal über einen längeren Zeitraum in ein normales Erwerbsleben eingegliedert gewesen wäre. Entgegen der Darstellung des Klägers beruht dies auch nicht allein auf den ihn erteilten Duldungen mit dem Zusatz "Arbeitsaufnahme nicht gestattet". Einen solchen Zusatz enthielten die Duldungen nur in der Zeit von April 2004 bis Mai 2007. Seit 1996 war der Kläger zudem in Besitz einer unbefristeten Arbeitserlaubnis. Diese hätte ihm – ausgenommen in der Zeit von April 2004 bis Mai 2007 – eine Arbeitsaufnahme möglich gemacht. Allerdings hat der Kläger nunmehr in der Haft den Lager- und den Staplerschein gemacht und damit seine Chancen für eine Arbeitsvermittlung erhöht.

(4) Die Bindungen des Klägers an den Staat der eigenen Staatsangehörigkeit sind schwach. Soweit ersichtlich sind seine Kenntnisse der serbokroatischen Sprache allenfalls sehr gering. Seine Mutter hat mit ihm lediglich vor dem Eintritt in den Kindergarten serbokroatisch gesprochen. Abgesehen von einem kurzen Aufenthalt von zwei Wochen als Kind, hat er sich noch nie in Serbien aufgehalten. Nahe Verwandte hat er in Serbien – mit Ausnahme seines im Jahre 2004 nach Serbien abgeschobenen Vaters – nicht mehr. Es ist mithin anzunehmen, dass dem Kläger ein Einleben dort aufgrund seiner Unkenntnis der dortigen Verhältnisse, der fehlenden Sprachkenntnisse und mangelnder Kontakte sehr schwer fallen würde. Diese Schwierigkeiten würden auch nicht dadurch gemindert werden, dass der Vater des Klägers in Serbien lebt. Nach seiner nachvollziehbaren Schilderung lehnt der Kläger seinen Vater ab; es ist deshalb nicht anzunehmen, dass er auf eventuelle Hilfeleistungen seines Vaters zurückgreifen wird.

(5) Nach allem ist festzustellen, dass dem Interesse des Klägers, in Deutschland bleiben zu können und nicht die mit dem Verlassen Deutschlands einhergehenden Einschränkungen hinsichtlich seiner familiären und sozialen Bindungen hinnehmen zu müssen, trotz der Tatsache, dass er hier geboren und aufgewachsen ist, mangels gelungener sozialer und wirtschaftlicher Integration kein ausschlaggebendes Gewicht beizumessen ist, während seinem Interesse, nicht in ein Land übersiedeln zu müssen, dessen Staatsangehörigkeit er zwar besitzt, in dem er sich aber in keiner Weise auskennt und dessen Sprache er nicht spricht, großes Gewicht zukommt.

Den so beschriebenen Interessen des Klägers steht das öffentliche Ausweisungsinteresse gegenüber. Die Ausweisung des Klägers erfolgte aufgrund verschiedener, zum Teil massiver Straftaten, die der Kläger vor allem in seiner Jugend begangen hatte. Diese Straftaten unterliegen inzwischen jedoch einem Verwertungsverbot. Gemessen an den damals begangenen Straftaten sind die Straftaten der letzten Jahre von deutlich geringerem Gewicht; sie stehen im Wesentlichen im Bezug zu der eigenen Drogenabhängigkeit des Klägers und begründen für sich genommen – nach der hier zugrunde gelegten, zwischen Handeltreiben und Konsum differenzierenden Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – keine schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung. Der Kläger ist zwar nach wie vor drogenabhängig, zumindest hat er seine Abhängigkeit nicht dauerhaft überwunden. Angesichts der Suchtwirkungen von harten Drogen und der von einem Abhängigen aufzubringenden erheblichen Geldmittel können weitere Straftaten deshalb auch nicht ausgeschlossen werden, solange nicht der Kläger seine Abhängigkeit durch eine Therapie auf Dauer überwunden hat. Es ist aber nichts dafür ersichtlich, dass etwaige künftige Verfehlungen des Klägers in ihrer Schwere über die in den letzten Jahren begangenen Straftaten in Gestalt des (bloßen) Erwerbs und Konsums von Betäubungsmitteln hinausgehen werden.

Insgesamt lässt sich damit feststellen, dass zwar schwerlich eine besondere Verwurzelung des Klägers in Deutschland festgestellt werden kann, die mit einer Ausweisung verbundenen Folgen angesichts des nahezu gänzlichen Fehlens irgendwelcher Bindungen zu seinem Herkunftsstaat ihn aber sehr hart treffen würden. Die mit der Ausweisung verfolgten Ziele sind demgegenüber nicht von einem derart großen Gewicht, dass seine Ausweisung im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK als notwendig angesehen werden kann. [...]