BVerfG

Merkliste
Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 - asyl.net: M15640
https://www.asyl.net/rsdb/M15640
Leitsatz:

Es verstößt gegen das Willkürverbot, wenn das Verwaltungsgericht für die Annahme einer besonders intensiven, einen Politmalus indizierenden Verfolgungsmaßnahme bleibende Schäden aufgrund von Folter fordert und dann ohne Zuhilfenahme eines medizinischen Sachverständigen feststellt, dass der Asylantragsteller keine bleibenden psychischen oder physischen Schäden davon getragen habe; die Möglichkeit türkischer Staatsangehöriger, den EGMR mit einer Individualbeschwerde anzurufen, steht der Annahme der Entscheidungserheblichkeit dieser Grundrechtsverletzung nicht entgegen.

Schlagwörter: Verfassungsbeschwerde, Gleichheitsgrundsatz, Willkürverbot, Verfolgungsgrund, asylerhebliches Merkmal, Strafverfahren, Terrorismus, Terrorismusbekämpfung, Politmalus, Folter, psychische Erkrankung, Krankheit, eigene Sachkunde, Glaubwürdigkeit, Türkei, EGMR, EMRK, Unterzeichnerstaat, Entscheidungserheblichkeit
Normen: BVerfGG § 93b; GG Art. 3 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls hinsichtlich der Rüge der Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG zulässig und - in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer begründenden Weise (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) - auch offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 70, 93 97>; 96, 189 203>). [...]

2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verstößt gegen das in Art. 3 Abs. 1. GG verankerte Willkürverbot.

a) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 1, 14 52>; 98, 365 385>; stRspr). Aus ihm ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für die Ausübung öffentlicher Gewalt, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen (vgl. BVerfGE 88, 5 12>; 88, 87 96>; 101, 54 101>; 107, 27 45>). Der allgemeine Gleichheitssatz wendet sich nicht nur an den Gesetzgeber, sondern bindet auch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. Allerdings zieht Art. 3 Abs. 1 GG der Rechtsprechung bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts - im Sinne eines Willkürverbots - nur gewisse äußerste Grenzen (vgl. BVerfGE 42, 64 73>; 62, 189 192>). Nicht jede fehlerhafte Anwendung des einfachen Rechts stellt daher auch einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz dar. Von Willkür kann nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes entbehrt (vgl. BVerfGE 87, 273 278 f.>; 96, 189 203>). Ein Richterspruch ist jedoch willkürlich und verstößt damit gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wenn er unter keinem rechtli­chen Aspekt vertretbar ist (vgl. BVerfGE 70, 93 97>; 96, 189 203>).

b) Das Urteil des Verwaltungsgerichts hält einer Überprüfung an diesem Maßstab nicht stand.

aa) Das Verwaltungsgericht überträgt - insoweit im Einklang mit höchstrichterlicher Rechtsprechung - die asylrechtliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Recht der Staaten, Terrorismus mit Mitteln des Strafrechts zu bekämpfen, auf die Anwendung von § 60 Abs. 1 AufenthG und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3-Abs. 1 AsylVfG (vgl. zu § 51 Abs. 1 AuslG: BVerwG, Urteil vom 10. Januar 1995 - 9 C 276.94.-, NVwZ 1996, S. 86 88 f.>). Nach dieser Rechtsprechung liegt eine asylbegründende Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale dann nicht vor, wenn die staatliche Maßnahme allein dem - grundsätzlich legitimen - staatlichen Rechtsgüterschutz, etwa im Bereich der Terrorismusbekämpfung, dient (vgl. - BVerfGE 80, 315 339>) oder wenn sie nicht über das hinausgeht, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt wird (vgl. BVerfGE 81, 142 151>). Das Asylgrundrecht gewährt keinen Schutz vor drohenden (auch massiven) Verfolgungsmaßnahmen, die keinen politischen Charakter haben. Auch eine danach nicht asylerhebliche Strafverfolgung kann freilich in politische Verfolgung im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet (sog. Politmalus; vgl. BVerf­GE 80, 315, 336 ff.>;. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Februar 2008 - 2 BvR 2141/06 -, NVwZ-RR 2008, S. 643 644>). Das Verwaltungsgericht nimmt weiter zu Recht an, dass eine besondere Intensität der Verfolgungsmaßnahmen Indiz für das Vorliegen eines Politmalus sein kann. Die vom Verwaltungsgericht zitierte Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen führt an, dass körperliche Misshandlungen im Polizeigewahrsam ein Indiz für eine für den Flüchtlingsschutz relevante strafrechtliche Verfolgung sein können (Urteil vom 27. März 2007 - 8 A 4728/05.A -, juris; zur möglichen Indizwirkung von Folter für das Vorliegen eines Politmalus im Rahmen von Art. 16a Abs. 1 GG vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Februar 2008, a.a.O.).

bb) Es ist von diesem zutreffenden Ansatz aus jedoch unter keinem rechtlichen Aspekt mehr vertretbar, wenn das Verwaltungsgericht für die- Annahme einer besonders intensiven, einen Politmalus indizierenden Verfolgungsmaßnahme bleibende Schäden aufgrund von Folter fordert und dann ohne Zuhilfenahme eines medizinischen Sachverständigen feststellt, dass der Beschwerdeführer keine bleibenden psychischen oder physischen Schäden davon getragen habe.

(1) Die Rechtsprechung zur Indizwirkung besonders intensiver Verfolgungsmaßnahmen für ein Umschlagen einer flüchtlingsrechtlich irrelevanten Strafverfolgung von Terroristen in eine im Lichte des Flüchtlingsrechts relevante Verfolgung stellt allein auf die Intensität der Verfolgungsmaßnahme und nicht auf Art und Dauer ihres Weiterwirkens bei dem der Strafverfolgung Unterworfenen ab. Für das Anliegen des Flüchtlingsschutzes, dem von Ausgrenzung aus der Friedensordnung des Staates Betroffenen Schutz zu gewähren, kann es nicht auf die Dauer etwaiger gesundheitlichen Beeinträchtigungen infolge einer Maßnahme ankommen, sondern auf die Maßnahme selbst. Der Ansatz des Verwaltungsgerichts verfehlt dieses Anliegen grundlegend.

(2) Sollte das Verwaltungsgericht aus fehlenden bleibenden psychischen oder physischen Schäden in Zusammenschau mit weiteren Feststellungen, insbesondere dass der Beschwerdeführer sich nicht um ärztliche Atteste bemüht habe und nach seiner Freilassung im November 2001 bis zu seiner Ausreise unbehelligt geblieben sei, auf die Unglaubhaftigkeit des Vortrags zur behaupteten Folter schließen wollen, was nach den Urteilsgründen in Betracht zu ziehen ist, so erwiese sich dieses Vorgehen ebenfalls als unter keinem rechtlichen Aspekt vertretbar. Das Verwaltungsgericht hat keine eigene medizinische Sachkunde zur Beurteilung der Fragen, ob die vom Beschwerdeführer geschilderten Foltermaßnahmen zwingend bleibende Schäden hinterlassen und ob solche bleibenden Schäden entstanden sind. Es hat sich mit dieser Problematik nicht einmal ansatzweise befasst (vgl. zur grundsätzlich fehlenden eigenen Sachkunde von Verwaltungsgerichten für die Beurteilung medizinischer Sachverhalte in Verfahren nach dem Asylverfahrensgesetz, BVerwGE 129, 251 257>).

3. Das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts beruht auf der Grundrechtsverletzung. Es ist nicht auszuschließen, dass das Verwaltungsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Insbesondere steht die grundsätzlich gegebene Möglichkeit, gegen nicht mehr mit innerstaatlichen Rechtsbehelfen angreifbare Entscheidungen türkischer Strafgerichte den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit einer Individualbeschwerde und der Begründung anzurufen, sie beruhten auf mittels Folter erwirkten Geständnissen, der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund bereits erlittener Verfolgung nicht entgegen. [...]