VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 02.04.2009 - 8 A 1132/07.A - asyl.net: M15652
https://www.asyl.net/rsdb/M15652
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Verfolgungsgefahr für Hindus aus Afghanistan.

Schlagwörter: Afghanistan, Hindus, religiös motivierte Verfolgung, Religion, religiöses Existenzminimum, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Existenzminimum, Versorgungslage, Analphabeten, Kabul
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

[...]

In Übereinstimmung mit dem angefochtenen Urteil ist davon auszugehen, dass der Kläger zwar unverfolgt aus Afghanistan ausgereist ist, im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland aber mit Verfolgung rechnen muss, weil er der Religionsgemeinschaft der Hindus angehört. [...]

Eine direkt vom afghanischen Staat ausgehende oder ihm unmittelbar zurechenbare Verfolgung von Hindus findet allerdings zur Zeit im Herkunftsland des Klägers offenbar nicht statt. [...]

Hindus müssen jedoch in Afghanistan derzeit höchstwahrscheinlich mit politischer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c rechnen, ohne dass eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht.

Die wenigen noch in Afghanistan lebenden Hindus sind ihrer wirtschaftlichen Grundlage beraubt und haben keine Möglichkeit, wirtschaftlich auch nur in geringem Umfang Fuß zu fassen. Nach den vorliegenden Auskünften stellt sich die Lage für die dort früher privilegierten Hindus schon seit Anfang der 1990er Jahre als bedroht dar. Damals war nach der Machtübernahme der Mudschaheddin der überwiegende Teil der Hindus aus Afghanistan ausgereist, weil es damals zu Übergriffen gekommen war. So wird von der Tötung zahlreicher Hindus, Geiselnahmen zum Zwecke der Lösegelderpressung, Vergewaltigungen von Frauen, Beschlagnahme von Häusern und sonstigem Eigentum und der Zerstörung von Häusern und Tempeln berichtet (vgl. dazu u.a. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. Juni 2008 - 20 A 4676/06.A -, juris Rdnrn. 19 ff.). Überwiegende Ursache dafür war der wirtschaftliche Wohlstand afghanischer Hindus. Die wohlhabenden Hindu-Familien - darunter wohl auch die Eltern und vier Geschwister des Klägers - verließen in dieser Zeit das Land.

Aufgrund der vorliegenden Auskünfte bestehen keine Zweifel an der zutreffenden Einschätzung der derzeitigen Verfolgungssituation durch das Verwaltungsgericht Wiesbaden.

Derzeit leben nur noch sehr wenige Hindus in Afghanistan, und zwar unter Umständen, die der Gutachter Dr. Danesch in einem Schreiben an das Verwaltungsgericht Wiesbaden vom 13. Januar 2006 wie folgt darstellt: "Die Hindus und Sikhs in Afghanistan sind heute in der Tat einer expliziten religiösen Diskriminierung ausgesetzt, die eindeutig zum Ziel hat, sie als religiöse und kulturelle Minderheit innerhalb kürzester Zeit auszulöschen. Ihre Schulen sind geschlossen. Hindus berichteten mir, sie hätten sich nach dem Antritt der Regierung Karsai an das Bildungsministerium gewandt und gebeten, wieder eigene Schulen für ihre Kinder einzurichten und mit Finanzen und Lehrern auszustatten; jedoch ohne die geringste Reaktion".

Die aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse der Hindus in Afghanistan sind außerordentlich schwierig.

Dr. Danesch ist in der öffentlichen Sitzung des Hess. VGH am 27. April 2006 in den Verfahren 8 UE 811/05.A und 8 UE 1263/05.A als Sachverständiger vernommen worden und hat dabei dem Senat die Lage der Hindus wie folgt beschrieben: Aufgrund persönlicher Besuche gehe er davon aus, dass in ganz Afghanistan höchstens noch 2.000 Hindus und Sikhs leben, davon ca. 1.000 bis 1.300 in Kabul, und zwar ausschließlich in ihren Tempeln. Dabei handele es sich um zerstörte Anlagen, in denen die Bewohner bei Temperaturen von bis zu minus 15 Grad Celsius im Winter ohne baulichen Schutz leben müssten. Die in den Tempeln lebenden Kinder besuchten keine Schule und würden als Analphabeten aufgezogen, weil sie in den Schulen von Lehrern und Mitschülern geschlagen würden. Auch würde man dort versuchen, sie zum Islam zu bekehren. Ihm seien in letzter Zeit Zwangsverheiratungen junger Mädchen unter 16 Jahren bekannt geworden, die in drei Fällen auch vom obersten Gericht Afghanistans bestätigt worden seien. Ihm sei bekannt, dass einige Hindus nach Afghanistan abgeschoben worden seien und dort in einem der Tempel lebten. Nach seiner Kenntnis erhielten sie keinerlei Unterstützung von irgendwelcher Seite. Nach seiner Einschätzung sei die Situation der Hindus in Afghanistan noch weitaus schlechter als die ebenfalls schwierige Lage der übrigen Bewohner Afghanistans. Sie seien völlig isoliert und hätten keinen Zugang zur Öffentlichkeit. Dies gelte auch für die medizinische Versorgung. Auch ein regulärer Zugang zum Arbeitsmarkt bestehe für sie nicht, es bestehe allenfalls die Möglichkeit, als Tagelöhner am Bau tätig zu sein (Protokoll der öffentlichen Sitzung des Hess. VGH vom 27. April 2006, Vernehmung des Sachverständigen. Dr. Danesch).

Im jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 03. Februar 2009 heißt es: "Die früher in Kabul lebende Hindu- und Sikh-Minderheit (zusammen deutlich unter ein Prozent der Bevölkerung) gibt sich gegenwärtig praktisch nicht zu erkennen". Weiter wird ausgeführt, nach Angaben des „Dachverbandes der afghanischen Hindus und Sikhs in Deutschland e.V." litten die Gemeinden der Hindus und Sikhs in Afghanistan unter wirtschaftlicher und kultureller Diskriminierung. Im Falle der Zwangsverheiratung von Mädchen und Frauen mit muslimischen Männern sei damit eine automatische Konversion zum Islam verbunden. Solche Fälle seien nicht auszuschließen, zumal von einer allgemeinen gesellschaftlichen Diskriminierung durch die muslimische Mehrheitsbevölkerung auszugehen sei (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 03. Februar 2009, S. 18).

Dr. Danesch stellt in seinem bereits zitierten Schreiben vom 13. Januar 2006 dar, nur in einem Kabuler Stadtteil, im Kart-e Parwan-Tempel, könnten noch religiöse Zeremonien durchgeführt werden, allerdings möglichst verstohlen, um nicht die Aufmerksamkeit der muslimischen Umgebung auf sich zu ziehen (S. 26 ff.). Dieser Tempel sei eine Zuflucht für die Ärmsten geworden. Inmitten des Hofes habe er eine Verbrennungsstätte für die Toten entdeckt, was eigentlich die religiösen Bräuche der Hindus verletze. Ihre traditionellen Verbrennungsplätze außerhalb von Kabul dürften die Hindus aber nicht mehr benutzen. An mehreren Beispielen legt das Gutachten dar, dass - anders, als die Hindus nach dem Amtsantritt der Karsai-Regierung gehofft hatten - auch die heutige Regierung nicht bereit ist, die Enteignungen der Mudschäheddin- und Taliban-Zeit rückgängig zu machen.

Eine geordnete, ungestörte Religionsausübung ist Hindus in Afghanistan, insbesondere in Kabul, nicht mehr möglich. Die wenigen in Afghanistan verbliebenen Hindus reagieren darauf mit "ausgeprägten Vermeidungsstrategien" (OVG Sachsen, a.a.O.), die in dessen zitiertem Urteil vom 26. August 2008 zutreffend beschrieben werden und folgende Auswirkungen für die religiöse Identität der Glaubensgemeinschaft haben (juris Rdnrn. 35 ff.).:

"Die Auskünfte gehen übereinstimmend davon aus, dass die noch in Afghanistan verbliebenen Hindus versuchen, sich nicht als solche zu erkennen zu geben (...). Die meisten Hindu-Mitglieder verzichteten auf das Anbringen des roten Punktes auf der Stirn, damit sie auf der Straße nicht sofort als Personen hinduistischer Religions- und Volkszugehörigkeit erkennbar sind. Zudem verzichteten sie in der Öffentlichkeit aus eben diesem Grund auf den Gebrauch ihrer Sprache (...). Diese Vermeidungsstrategie ist insoweit erfolgreich, als es in den letzten Jahren zu keinen allein an die Ethnie anknüpfenden Übergriffen der muslimischen Bevölkerung gekommen sein soll.

Eine Vermeidungsstrategie afghanischer Hindus wird auch für die Feier von religiösen Festen berichtet. Von dem formalen Recht zur Religionsausübung wird wegen fehlender Toleranz der überwältigenden Mehrheit von Moslems und mangels erreichbarem staatlichen Schutz vor Übergriffen kein Gebrauch gemacht (...). Dies wird damit erklärt, dass es bei größeren Feierlichkeiten zu Ausschreitungen gegenüber den Hindus kam (...). Sofern religiöse Feste in der Öffentlichkeit durchgeführt werden, beschränken sich auf ein Minimum. So hätten in dem Jahr 2005 und 2006 ein oder zwei religiöse Feiern im öffentlichen Raum stattgefunden. Die Feierlichkeiten hätten sich aber dabei auf einen kurzen Straßenabschnitt beschränkt. Eine gemeinsame Durchführung des Visak-Festes in Jalalabad ist heute aus Sicherheitsgründen und aus Angst vor Übergriffen nicht mehr möglich. Es wird daher in jeder Provinz für sich gefeiert. Dabei werden die Feierlichkeiten zudem aus Angst vor Übergriffen zeitlich von 15 Tagen auf einen Tag reduziert. Das Divolifest wird nicht öffentlich begangen (...). Die Durchführung dieser Feste mag im Einzelnen gewissen Variationen unterliegen. Sie werden jedoch traditionell öffentlich begangen und sind ein zentraler Bestandteil der Religionsausübung (...). Der von der moslemischen Mehrheitsgesellschaft faktisch erzwungene Verzicht auf ihre (öffentliche) Durchführung oder auch die massive räumliche und zeitliche Beschränkung dieser Feste als Ausdruck einer Vermeidungsstrategie einer Minderheit stellt eine schwerwiegende Verletzung der afghanischen Hindus in ihrem Recht auf eine freie öffentliche Religionsausübung dar, weil hierdurch massiv in ihr religiöses Selbstverständnis eingegriffen wird (...). Ihre Religionsausübung wird im Wesentlichen nur soweit geduldet, als sie für die moslemische Mehrheitsgesellschaft nicht wahrnehmbar ist."

Demgegenüber bewertet das OVG Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 19. Juni 2008 (a.a.O.) bei im Wesentlichen gleicher Tatsachen- und Erkenntnisgrundlage die Situation der Hindus in Afghanistan aufenthaltsrechtlich anders, weil eine durch systematische Vermeidungsstrategien verhinderte politische Verfolgung der potentiellen Opfer nicht relevant sei:

"Derartige Vermeidungstechniken einer Minderheit mit dem Ziel, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, erreichen nicht ohne Weiteres das Gewicht einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte... (juris, Rdnr. 33).

Die weiterhin aufgezeigten Beeinträchtigungen und Erschwernisse für Hindus stellen sich ... als eine dem Minderheitenstatus entsprechende Steigerung der allgemeinen Notlagen dar, bei der schon eine klare Zuordnung zu den Verfolgungsgründen sei es über Rasse, Religion oder soziale Gruppe nicht mehr verlässlich möglich ist. Jedenfalls kann auch unter Berücksichtigung der Möglichkeit einer Verfolgungshandlung durch Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) der Qualifikationsrichtlinie, vor dem Hintergrund der insgesamt sehr unsicheren und unzulänglichen Verhältnisse in Afghanistan noch nicht mit dem erforderlichen Grad der Überzeugungsbildung von einer jeden Hindu wegen dieser seiner Eigenschaft treffenden Bedrohung ausgegangen werden. Dabei ist nochmals auf die obigen Ausführungen zum Auf und Ab der Lebensumstände der afghanischen Hindus im Lauf der Jahrzehnte hinzuweisen. Sie haben sich, wenn auch in wechselnder Stärke, aber jedenfalls durchweg als Minderheit unter unterschiedlichsten Bedingungen im Lande gehalten und als solche selbst die Zeit der vollsten Machtentfaltung der Taliban noch überstanden. Die Rahmenbedingungen sind derzeit jedenfalls nicht belastbar schlechter. Das gilt eindeutig für die Behandlung von Regierungsseite. Aber auch für den Bereich der Übergriffe von Privatpersonen, die im Rahmen der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft beachtlich sind, ist eine einschneidende Verschlechterung gegenüber den früheren Verhältnissen nicht festzustellen. Zwar mag zu erwägen sein, dass zahlreiche Afghanen, die ins benachbarte Ausland geflohen waren und sich nach ihrer Rückkehr in Kabul niedergelassen haben, nicht aus Kabul stammten und die städtischen Üblichkeiten einschließlich des Zusammenlebens mit Hindus nicht kennen und von daher eher zu einer Verachtung der Hindus und Übergriffen gegen sie geneigt sein könnten; Anhaltspunkte für ein solches Gefährdungspotential wegen Auflösung alter nachbarschaftliches Strukturen ergeben sich aus dem Informationsmaterial aber nicht." (juris Rdnr. 34).

Diese Ausführungen des OVG Nordrhein-Westfalen überzeugen nicht. Sie verwechseln Ursache und Wirkung. Zudem gehen sie ungeprüft und stillschweigend von der nicht tragfähigen These aus, die als Vermeidungsstrategien erkannten Verhaltensweisen der hier betroffenen religiösen und ethnischen Minderheit seien ihr trotz ihrer identitätsvernichtenden Wirkungen auch unter Geltung des nunmehr maßgebenden Schutzstandards des Art. 10 Abs. 1 lit. b QRL auf Dauer zumutbar. Der erkennende Senat teilt diese Einschätzung nicht und schließt sich deshalb der überzeugend begründeten Auffassung des OVG Sachsen in dessen mehrfach zitierten Urteil vom 26. August 2008 an.

Wie bereits das Verwaltungsgericht Wiesbaden zutreffend dargelegt hat, dürfen afghanische Hindus weder in Kabul noch in anderen Orten die rituellen Vorschriften ihres Glaubens über die Verbrennung der Toten in nennenswertem Umfang befolgen. Darüber hinaus fristen sie ein Leben in unsäglichem Elend, was von Regierung und Behörden durchaus in Kauf genommen wird. Der Kläger wäre deshalb im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch akut in den Rechtsgütern Leben und Freiheit wegen seiner Religion und seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit bedroht. [...]

Die Revision ist zuzulassen, denn die Rechtssache hat hinsichtlich der Folgen der Neufassung des § 60 Abs. 1 AufenthG für den Umfang des Schutzbereichs dieser Norm bei drohender Verfolgung aus religiösen Gründen grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), zumal mit den zitierten Urteilen des OVG Nordrhein-Westfalen vom 19. Juni 2008 - 20 A 4676/06.A - und des OVG Sachsen vom 26. August 2008 - A 1 B 499/07 - divergierende Entscheidungen zweier Oberverwaltungsgerichte zur Verfolgungssituation von Hindus in Afghanistan aus jüngerer Zeit vorliegen. [...]