VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 06.03.2009 - 10 L 53.08 V - asyl.net: M15654
https://www.asyl.net/rsdb/M15654
Leitsatz:

Einstweilige Anordnung auf Visumserteilung gem. § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG an Vater eines ungeborenen deutschen Kindes, um bei der Geburt anwesend sein zu können.

 

Schlagwörter: D (A), Familienzusammenführung, Visum, Schwangerschaft, Vater, Geburt, Geburtstermin, Auslandsvertretung, Antrag, Antragserfordernis, deutsche Kinder, Aufnahme aus dem Ausland, dringende humanitäre Gründe, nicht vorgesehener Aufenthaltszweck, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit, Schutz von Ehe und Familie
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 26 Abs. 1 S. 1 Nr. 3; GG Art. 6 Abs. 1; AufenthG § 22; AufenthG § 7 Abs. 1 S. 3
Auszüge:

Einstweilige Anordnung auf Visumserteilung gem. § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG an Vater eines ungeborenen deutschen Kindes, um bei der Geburt anwesend sein zu können.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Der Antrag des aus der Türkei stammenden Antragstellers, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihn vor dem berechneten Geburtstermin seines Kindes ein Visum zum Zwecke des Familiennachzugs zu erteilen, hat gemäß § 123 Abs. f VwGO Erfolg.

Dem vorliegenden Eilantrag lässt sich nicht entgegenhalten, dass weder vorgetragen noch sonst ersichtlich ist, dass der Antragsteller bislang bei einer zuständigen Auslandsvertretung einen förmlichen Antrag auf Familiennachzug zu seinem vor der Geburt stehenden Kind gestellt hat (§§ 71 Abs. 2, 81 Abs. 1 AufenthG). Auch betrifft das Klageverfahren VG 10 V 60.07 lediglich einen geltend gemachten Anspruch des Antragstellers auf Ehegattennachzug zu seiner deutschen Ehefrau. Die Schwangerschaft der Ehefrau wurde indes zwischen den Beteiligten im Kontext des Klageverfahrens jedenfalls seit September 2008 kommuniziert und war sowohl dem Antragsgegner - der vor diesem Hintergrund eine Visumserteilung für den Fall in Aussicht gestellt hat, dass der Beigeladene zu 1. seine Zustimmung erteilt - wie dem Beigeladenen zu 1. bekannt. Damit ist dem Antragserfordernis genügt.

Dem Antragsteller steht weiter auch ein Anordnungsanspruch zur Seite. Zwar kann ich der Antragsteller nicht mit Erfolg auf § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG berufen. Danach ist dem Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Der Umstand, dass das Kind als Rechtspersönlichkeit noch nicht vollständig existent ist (zur partiellen Rechtsfähigkeit des Nasciturus vgl. Palandt/Heinrichs, BGB, 60. Aufl. 2001, § 1 Rn. 5 ff.) und z.Zt. einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland tatsächlich (noch) nicht begründet hat, steht der Artwendung des § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG entgegen. Die Norm ist auch nicht im Lichte von Art. 6 GG erweiternd dahingehend auszulegen, dass ein Nachzugsanspruch auch zum noch nicht geborenen Kind besteht. Es handelt sich um einen gebundenen Anspruch, der in seiner Gestalt bereits Ausdruck von Art. 6 GG ist und bei dem Auslegungsbedarf nicht besteht.

Zwar kann sich der Antragsteller ferner auch nicht mit Erfolg auf § 22 Satz 1 AufenthG berufen. Danach kann einem Ausländer für die Aufnahme aus dem Ausland aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Es fehlt an den tatbestandlichen Voraussetzungen. Insbesondere liegt kein dringender humanitärer Grund vor. Der Begriff der dringenden humanitären Gründe betrifft Menschen, die sich in lebensgefährlichen Situationen bzw. schicksalhaften Notlagen befinden und spezifisch auf die Hilfe Deutschtands angewiesen sind (vgl. dazu Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht, § 22 Rz. 5 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, § 22 Rz. 8). Dies ist bei dem Antragsteller nicht der Fall. Dessen Wunsch, bei der Geburt seines Kindes seiner Ehefrau beistehen und unterstützen zu können, stellt tatbestandlich keine existentielle Notlage im ausgeführten Sinne dar.

Der Antragsteller kann sich aber mit Erfolg auf § 7 Absatz 1 Satz 3 AufenthG berufen. Danach kann in begründeten Fällen eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen im Aufenthaltsgesetz nicht vorgesehenen Aufenthaltszweck erteilt werden. Der Wunsch des Antragstellers, bei der Geburt des gemeinsamen Kindes zugegen zu sein und seiner Ehefrau beistehen zu können, stellt einen nicht im Aufenthaltsgesetz geregelten Aufenthaltszweck dar. § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 AufenthG setzt - wie ausgeführt - voraus, dass das Kind bereits auf der Welt ist. Auch § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG berücksichtigt nicht die Beziehung zu einem kurz vor der Geburt stehenden Kind. Ein begründeter Fall liegt ebenfalls vor. Die Erteilung des Aufenthaltstitels erscheint sachlich gerechtfertigt (vgl. dazu Hailbronner, a.a.O. § 7 Rz. 17). Der Schutzbereich des Grundrechts in Art 6 Abs. 1 GG, wonach Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen, umfasst sowohl die Beziehung des Antragstellers zu seiner kurz vor der Entbindung stehenden Ehefrau wie auch - damit notwendig und unmittelbar einhergehend - seine Beziehung zu seinem kurz vor seiner Geburt stehenden Kind. Hier ist insbesondere zu berücksichtigen, dass es sich bei der Geburt eines Kindes um ein - bezogen auf das einzelne Kind - einmaliges und nicht wiederholbares Ereignis im Leben sowohl einer Mutter wie eines Vaters handelt.

Das der Antragsgegnerin in dieser Norm eingeräumte Ermessen hat sich im vorliegenden Fall bei summarischer Prüfung auch dahin verdichtet, dass allein die Erteilung des Visums an den Antragsteller als ermessensfehlerfreie Ausübung des Ermessens in Betracht kommt. Zwar gewährt Art 6 Abs. 1 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf einen Aufenthaltstitel, ist aber bei der Ausübung des Ermessens zwingend einzubeziehen. Dabei ist im vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass - zusätzlich zu dem in diese Erwägungen einzustellenden, oben ausgeführten Schutzbereich de Grundrechts - hinzukommt, dass der Antragsteller mit der Geburt des dann deutschen Kindes unmittelbar einen Anspruch gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 .Nr. 3 AufenthG erwirbt. Dies stellt auch die Beigeladene zu 1. nicht in Abrede, sondern erklärt vielmehr, nach der Geburt des Kindes die Zustimmung zur Visumserteilung erteilen zu wollen. Bei Berücksichtigung dieser Umstände entspräche es nicht dem aus Art. 6 Abs. 1 GG resultierenden staatlichen Schutzauftrag, dem Antragsteller die Einreise zur Geburt seines Kindes zur verwehren. Vielmehr erschiene des Fernhalten des Antragstellers von der Geburt als bloße Schikane. Diesem Recht des Antragstellers lässt sich schließlich auch nicht die - statistisch denkbare - Möglichkeit entgegenhalten, dass das Kind die Geburt nicht überlebt. Denn für diesen Fall ist in Ansehung des staatlichen Schutzauftrags zu berücksichtigen, dass dann die Ehefrau des Antragstellers gerade und in besonderem Maße seiner Anwesenheit und seines Beistands bedarf. [...]