VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 16.12.2008 - W 6 K 06.30070 - asyl.net: M15662
https://www.asyl.net/rsdb/M15662
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines afghanischen Staatsangehörigen wegen Konversion zum Christentum; § 28 Abs. 2 AsylVfG steht der Flüchtlingsanerkennung im Folgeverfahren nicht entgegen, wenn das den subjektiven Nachfluchtgrund bildende Verhalten auf einer ernsthaften inneren, identitätsprägenden Überzeugungsbildung beruht.

Schlagwörter: Afghanistan, Konversion, Apostasie, Christen, Folgeantrag, freies Wiederaufgreifen, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Glaubwürdigkeit, religiös motivierte Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Übergriffe, interne Fluchtalternative, Kabul, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, atypischer Ausnahmefall, Zeugen Jehovas, Baptisten
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 5; VwVfG § 48 Abs. 1; VwVfG § 49 Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 2
Auszüge:

[...] Der Kläger hat Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG. [...]

Nach § 71 Abs. 1 AsylVfG ist ein weiteres Asylverfahren bzw. ein Verfahren zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylverfahrens auf Antrag hin nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Daneben besteht ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach Ermessen gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48 Abs. 1 Satz 1, 49 Abs. 1 VwVfG (BVerwG, Info Ausländerrecht 2000, 410 ff.). Unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) hat der Kläger einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG. Der Kläger ist wegen seiner Konversion zum christlichen Glauben bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer landesweiten Verfolgung ausgesetzt. Insoweit hat sich die Rechtslage seit Abschluss des ersten Asylverfahrens nachträglich zu Gunsten des Klägers geändert und es liegen nunmehr Umstände vor, die zumindest im Wege der Ermessensreduzierung auf Null die begehrte Entscheidung gebieten (§ 114 VwGO). § 28 Abs. 2 AsylVfG steht hierbei der begehrten Entscheidung nicht entgegen. [...]

Das Gericht geht nach Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung davon aus, dass dieser glaubhaft und in ernsthafter und nachhaltiger Weise von seinem moslemischen Glauben abgefallen und einen Glaubenswechsel zum christlichen Glauben vollzogen hat. Zur Überzeugung des Gerichts handelt es sich bei der Konversion des Klägers um einen lebensgeschichtlich nachvollziehbaren Glaubenswechsel aus innerer Überzeugung, der lebensgeschichtlich ("Errettung aus Abschiebehaft" bzw. "Bewahrung vor weiterer Abschiebung") und auch im körperlichen Erleben des Klägers verankert ("Linderung von Kopfschmerzen") ist. Das Gericht ist deshalb und angesichts der weiteren Einlassungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung der Überzeugung, dass der Glaubenswechsel des Klägers nicht lediglich asyltaktisch motiviert ist, sondern auf einer aus einem inneren Bedürfnis heraus erfolgten Gewissensentscheidung beruht, somit identitätsprägend ist und deshalb auch davon auszugehen ist, dass der Kläger seinen neuen Glauben bei einer Rückkehr in sein Heimatland leben und praktizieren wird. Nach den in das Verfahren eingeführten Auskünften ist davon auszugehen, dass die vom moslemischen Glauben abgefallenen und zum Christentum konvertierten Afghanen bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr durch staatliche und nichtstaatliche Akteure ausgesetzt sind. Angesichts der in den Auskünften geschilderten Verhältnisse in Afghanistan ist nicht davon auszugehen. dass dem Kläger eine private und diskrete Ausübung des christlichen Glaubens im häuslich-privaten Bereich, auch nicht in der Hauptstadt Kabul, möglich sein wird.

Nach den in das Verfahren eingeführten Auskünften sind afghanische Moslems, die zum Christentum konvertiert sind, bei Rückkehr in ihre Heimat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit schwersten Übergriffen auf ihre Person i.S. des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) bis hin zum Tode ausgesetzt, wenn ihr Abfall vom islamischen Glauben und der Übertritt zum christlichen Glauben im Familienverbund oder in der Nachbarschaft bekannt wird. Das OVG Nordrheinwestfalen hat in seinem Urteil vom 19. Juni 2008 (InfAuslR 2008, 411) die Überzeugung gewonnen, dass in Auswertung des vorliegenden (auch im vorliegenden Verfahren relevanten) Auskunftsmaterials bei der für die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefährdung eines ernsthaften Konvertiten vom Islam zum Christentum gebotenen Gewichtung und Abwägung aller in diesem Zusammenhang maßgebenden Umstände, den für eine relevante Verfolgung sprechenden Umständen ein größeres Gewicht beizumessen sei als den dagegen sprechenden Umständen (in diesem Sinne auch Hessischer Verwaltungsgerichtshof, U.v. 18.09.2008, 8 UE 858/06.A - juris). Das Gericht schließt sich den dortigen Ausführungen an. Auch die weiteren in das Verfahren eingeführten Auskünfte stützen diese Sicht der Dinge. Der vom Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung übergebene Bericht der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) vom 27.02.2008 ("Situation christlicher Konvertiten in Afghanistan") geht zusammenfassend davon aus, dass Afghanen, deren Abwendung vom Islam entdeckt wird, in ihrer Heimat mit erheblicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht. Gleichzeitig bestehe eine erhebliche Gefährlichkeit für die Verfolgung durch "nichtstaatliche Akteure" i.S. des § 60 Abs. 1 c AufenthG. Für Konvertierten zum Christentum sei die Aufrechterhaltung eines religiösen Existenzminimums auch im privaten Bereich ausgeschlossen. Um der Entdeckung zu entgehen, seien Konvertiten gezwungen, ihren Glauben zu verleugnen und regelmäßig an islamischen Riten teilzunehmen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative existiere nicht, auch nicht in Kabul. Entdeckten ehemaligen Muslimen drohe in Afghanistan die Ermordung durch Angehörige der eigenen Familie, des eigenen Clans oder durch Angehörige extremistischer islamischer Gruppen. Werde in Afghanistan die Abkehr eines Muslims von seinem bisherigen Glaubens den Behörden bekannt, drohe dem Betroffenen mit erheblicher Wahrscheinlichkeit Verhaftung, Misshandlung und extralegale Hinrichtung oder förmliche Verurteilung zum Tod. Der Kläger wäre somit bei Rückkehr in seine Heimat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten Gefährdungen infolge seiner Konversion ausgesetzt.

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist hierbei nicht nach § 28 Abs. 1 a, Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen. [...] Zwar ist strittig, ob dieser Regelung die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie) entgegensteht und ob der Beachtung des sog. Refoulementverbot (Art. 33 GFK) auch durch die Zuerkennung von Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG Rechnung getragen werden kann (in diesem Sinne BayVGH v. 05.03.2007, 2 B 06.31019 - juris; OVG Sachsen-Anhalt vom 19.12.2006, 1 L 319/04 - juris; OVG der Freien Hansestadt Bremen vom 20.07.2006 - juris, Funke/Kaiser, GK-Asylverfahrensgesetz, § 28, Rd.Nr. 48.1). Dies kann letztlich dahinstehen, da das Gericht für den vorliegenden Fall einen bereits nach dem Gesetzeswortlaut möglichen Ausnahmefall als gegeben ansieht. Soweit das Gericht in früheren Entscheidungen (z.B. U.v. 23.05.2007, W 6 K 05.30480) einen solchen Ausnahmefall für die Flüchtlingsanerkennung im Falle der Folgenantragstellung lediglich dann gesehen hat, wenn der Entschluss zum Übertritt zum christlichen Glauben bereits einer im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung des Klägers i.S. des § 28 Abs. 1 Satz 1 bzw. Abs. 1 a AsylVfG entsprach, wird hieran nicht mehr festgehalten. Bereits vom Wortlaut der Vorschrift her sind darüber hinausgehende Ausnahmeregelungen möglich. Zwar soll durch die Regelung des § 28 Abs. 2 AsylVfG der Anreiz genommen werden, nach unverfolgter Ausreise und abgeschlossenen Asylverfahren aufgrund neu geschaffener (subjektiver) Nachfluchtgründe ein Asylverfahren zu betreiben, um damit einen dauerhaften Aufenthalt zu erlangen (BT-Drucks. 15/420 (109 f.) zu Abs. 2, zitiert in GK-Asylverfahrensgesetz, § 28. S. 2.1). Hinter dieser Regelung steht somit der Gedanke der Missbrauchsabwehr. Ausnahmen sind jedoch über den gesetzlich geregelten Fall einer bereits im Herkunftsland erkennbar getätigten Überzeugung dann gerechtfertigt, wenn das den subjektiven Nachfluchtgrund bildende Verhalten auf einer ernsthaften inneren Überzeugungsbildung beruht, die identitätsprägend ist (in diesem Sinne Funke/Kaiser, GK-Asylverfahrensgesetz, § 28 Rd.Nr. 67 ff.; Hessischer VGH, U.v. 18.09.2008, 8 UE 858.06.A; OVG NRW, U.v. 19.06.2008, a.a.O.; OVG Rheinland-Pfalz, U.v. 29.08.2007, 1 A 10074/06; a.a.O.; BayVGH, U.v. 23.10.2007, 14 B 06.30315). Von einem Missbrauch kann dann nicht ausgegangen werden.

Ein solcher Ausnahmefall ist vorliegend gegeben. Der Kläger hat sich im Sinne der zitierten Rechtsprechung zur Überzeugung des Gerichtes glaubhaft dem christlichen Glauben zugewandt. Dem liegt eine ernsthafte Gewissensentscheidung, die auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel mit einer identitätsprägenden festen Überzeugung beruht, zugrunde. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung Fragen des Gerichtes schlüssig und nachvollziehbar beantwortet. Er hat dargestellt, dass sein Glaubenswechsel auf einem länger andauernder Bewusstseinswandel beruht, beginnend mit seinen ersten Kontakten zu einer christlichen Gemeinschaft in Finnland im Jahre 2004, über den gemeinsamen Weg mit den Zeugen Jehovas nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland und schließlich in die Kontakte mit der baptistischen Gemeinde in Aschaffenburg mündend, vermittelt durch einen Bekannten, der dieser Gemeinschaft angehört. Der Kläger hat hierbei einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. [...]

Dass verschiedene Glaubensrichtungen für den aus einem fremden Kulturkreis stammenden Kläger nicht überschaubar und sofort erkennbar waren, hat der Kläger eingeräumt. Dies ist nachvollziehbar und spricht für seine Glaubwürdigkeit. Erschien gerade der Wechsel von den Zeugen Jehovas zu den Baptisten zunächst den Verdacht der Asyltaktik des Glaubenswechsels zu untermauern, spricht gerade dieser Punkt aber letztlich für die Glaubwürdigkeit des Klägers. Insgesamt hat der Kläger überzeugend dargelegt, dass der Glaube für ihn eine "Herzensangelegenheit" ist, die im eigenem Erleben verankert und aus der heraus eine Überzeugungsgewissheit erwachsen ist, die für in seinem Leben Bestätigung fand und findet insofern ist auch zu erwarten, dass der Kläger seinen neuen christlichen Glauben aus einem inneren Bedürfnis heraus weiterhin leben wird, auch bei einer nach Rückkehr in seine Heimat. [...]