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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 04.06.2009 - Vatsouras und Koupatantze, C-22/08 u.a. - asyl.net: M15679
https://www.asyl.net/rsdb/M15679
Leitsatz:

Der Ausschluss von Sozialhilfe an Unionsbürger, die sich zur Arbeitssuche in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, gem. Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie verstößt nicht gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 12 i.V.m. Art. 39 EG; unter Sozialhilfe sind aber nicht finanzielle Leistungen zu verstehen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen; Art. 12 EG steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten von Sozialhilfeleistungen ausschließt, die Drittstaatsangehörigen gewährt werden.

Schlagwörter: D (A), Unionsbürger, Grundsicherung für Arbeitssuchende, Arbeitssuche, Diskriminierungsverbot, Gemeinschaftsrecht, Unionsbürgerrichtlinie, Arbeitnehmer, geringfügige Beschäftigung, kurzfristige Beschäftigung, Sozialhilfe, Asylbewerberleistungsgesetz
Normen: RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2; EG Art. 12; EG Art. 39; RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 3; RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 1; SGB II § 7 Abs. 1; AsylbLG § 1 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Vorbemerkungen [...]

24 Wie der Vorlageentscheidung zu entnehmen ist, sind die vorgelegten Fragen auf die Annahme gestützt, dass die Herren Vatsouras und Koupatantze zur Zeit der in den Ausgangsverfahren maßgebenden Ereignisse nicht die "Arbeitnehmereigenschaft" im Sinne von Art. 39 EG hatten.

25 Das vorlegende Gericht hat bei Herrn Vatsouras eine "kurze und nicht existenzsichernde geringfügige" Beschäftigung und bei Herrn Koupatantze eine "wenig mehr als einen Monat dauernde" Beschäftigung festgestellt.

26 Insoweit ist daran zu erinnern, dass der Begriff "Arbeitnehmer" im Sinne von Art. 39 EG nach ständiger Rechtsprechung ein Begriff des Gemeinschaftsrechts ist, der nicht eng auszulegen ist. Als "Arbeitnehmer" ist jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. u. a. Urteile vom 3. Juli 1986, Lawrie-Blum, 66/85, Slg. 1986, 2121, Randnrn. 16 und 17, sowie vom 11. September 2008, Petersen, C-228/07, Slg. 2008, I-0000, Randnr. 45).

27 Weder die begrenzte Höhe der Vergütung noch die Herkunft der Mittel für diese Vergütung kann irgendeine Auswirkung auf die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Gemeinschaftsrechts haben (vgl. Urteile vom 31. Mai 1989, Bettray, 344/87, Slg. 1989, 1621, Randnr. 15, sowie vom 30. März 2006, Mattern und Cikotic, C-10/05, Slg. 2006, I-3145, Randnr. 22).

28 Dass die Bezahlung einer unselbständigen Tätigkeit unter dem Existenzminimum liegt, hindert nicht, die Person, die diese Tätigkeit ausübt, als Arbeitnehmer im Sinne des Art. 39 EG anzusehen (vgl. Urteile vom 23. März 1982, Levin, 53/81, Slg. 1982, 1035, Randnrn. 15 und 16, sowie vom 14. Dezember 1995, Nolte, C-317/93, Slg. 1995, I-4625, Randnr. 19), selbst wenn der Betroffene die Vergütung durch andere Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts wie eine aus öffentlichen Mitteln des Wohnortmitgliedstaats gezahlte finanzielle Unterstützung zu ergänzen sucht (vgl. Urteil vom 3. Juni 1986, Kempf, 139/85, Slg. 1986, 1741, Randnr. 14).

29 Zudem führt hinsichtlich der Dauer der ausgeübten Tätigkeit der bloße Umstand, dass eine unselbständige Tätigkeit von kurzer Dauer ist, als solcher nicht dazu, dass diese Tätigkeit vom Anwendungsbereich des Art. 39 EG ausgeschlossen ist (vgl. Urteile vom 26. Februar 1992, Bernini, C-3/90, Slg. 1992, I-1071, Randnr. 16, und vom 6. November 2003, Ninni-Orasche, C-413/01, Slg. 2003, I-13187, Randnr. 25).

30 Folglich lässt sich unabhängig von der begrenzten Höhe der Vergütung und der kurzen Dauer der Berufstätigkeit nicht ausschließen, dass diese aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses von den nationalen Stellen als tatsächlich und echt angesehen werden kann und somit erlaubt, dem Beschäftigten die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne von Art. 39 EG zuzuerkennen.

31 Sollte das vorlegende Gericht hinsichtlich der von Herrn Vatsouras und Herrn Koupatantze ausgeübten Tätigkeiten zu einem solchen Ergebnis gelangen, wäre deren Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten geblieben, sofern die in Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind. Solche Tatsachenwürdigungen fallen jedoch allein in den Verantwortungsbereich des innerstaatlichen Gerichts.

32 Sollten Herr Vatsouras und Herr Koupatantze die Erwerbstätigeneigenschaft behalten haben, hätten sie während des genannten Sechsmonatszeitraums nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 Anspruch auf Leistungen wie die nach dem SGB II gehabt.

Zur ersten Frage

33 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 mit Art. 12 EG in Verbindung mit Art. 39 EG vereinbar ist.

34 Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 sieht eine Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz vor, auf den sich andere Unionsbürger als Arbeitnehmer oder Selbständige, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihre Familienangehörigen, die sich im Hoheitsgebiet eines Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, berufen können.

35 Nach dieser Bestimmung ist der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, u.a. Arbeitsuchenden während des längeren Zeitraums, während dessen sie dort ein Aufenthaltsrecht haben, einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren.

36 Die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung suchen, fallen in den Anwendungsbereich von Art. 39 EG und haben daher Anspruch auf die in Abs. 2 dieser Bestimmung vorgesehene Gleichbehandlung (Urteil vom 15. September 2005, Ioannidis, C-258/04, Slg. 2005, I-8275, Randnr. 21).

37 Außerdem ist es angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft und der Auslegung, die das Recht der Unionsbürger auf Gleichbehandlung in der Rechtsprechung erfahren hat, nicht mehr möglich, vom Anwendungsbereich des Art. 39 Abs. 2 EG eine finanzielle Leistung auszunehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern soll (Urteile vom 23. März 2004, Collins, C-138/02, Slg. 2004, I-2703, Randnr. 63, und Ioannidis, Randnr. 22).

38 Es ist jedoch legitim, dass ein Mitgliedstaat eine solche Beihilfe erst gewährt, nachdem das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt wurde (Urteile vom 11. Juli 2002, D'Hoop, C-224/98, Slg. 2002, I-6191, Randnr. 38, und Ioannidis, Randnr. 30).

39 Das Bestehen einer solchen Verbindung kann sich u. a. aus der Feststellung ergeben, dass der Betroffene während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat gesucht hat (Urteil Collins, Randnr. 70).

40 Folglich können sich die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die auf Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedstaat sind und tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates hergestellt haben, auf Art. 39 Abs. 2 EG berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll.

41 Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls der innerstaatlichen Gerichte, nicht nur das Vorliegen einer tatsächlichen Verbindung mit dem Arbeitsmarkt festzustellen, sondern auch die grundlegenden Merkmale dieser Leistung zu prüfen, insbesondere ihren Zweck und die Voraussetzungen ihrer Gewährung.

42 Wie der Generalanwalt in Nr. 57 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist der Zweck der Leistung nach Maßgabe ihrer Ergebnisse und nicht anhand ihrer formalen Struktur zu untersuchen.

43 Eine Voraussetzung wie die in § 7 Abs. 1 SGB II enthaltene, wonach der Betroffene erwerbsfähig sein muss, könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Leistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern soll.

44 Auf jeden Fall ist die Ausnahme nach Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 im Einklang mit Art. 39 Abs. 2 EG auszulegen.

45 Finanzielle Leistungen, die unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, können nicht als "Sozialhilfeleistungen" im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 angesehen werden.

46 Nach alledem ist zu antworten, dass in Bezug auf das Recht der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die auf Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedstaat sind, die Prüfung der ersten Frage nichts ergeben hat, was die Gültigkeit von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 berühren könnte. [...]

Zur dritten Frage

48 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 12 EG einer nationalen Regelung entgegensteht, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union von den Sozialhilfeleistungen ausschließt, die illegalen Migranten gewährt werden.

49 Das vorlegende Gericht nimmt im Rahmen dieser Frage auf die Bestimmungen des Asylbewerberleistungsgesetzes Bezug, nach dessen § 1 Abs. 1 Nr. 1 Ausländer, die sich tatsächlich im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhalten und die eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylverfahrensgesetz besitzen, leistungsberechtigt sind.

50 Daher ist die Vorlagefrage so zu verstehen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob Art. 12 EG einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten von Sozialhilfeleistungen ausschließt, während diese Drittstaatsangehörigen gewährt werden.

51 Nach Art. 12 Abs. 1 EG ist unbeschadet der Bestimmungen des EG-Vertrags in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.

52 Diese Bestimmung betrifft in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallende Situationen, in denen ein Angehöriger eines Mitgliedstaats nur aufgrund seiner Staatsangehörigkeit gegenüber den Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats diskriminiert wird, findet aber keine Anwendung im Fall einer etwaigen Ungleichbehandlung zwischen Angehörigen der Mitgliedstaaten und Drittstaatsangehörigen.

53 Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 12 EG einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten von Sozialhilfeleistungen ausschließt, die Drittstaatsangehörigen gewährt werden. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1. In Bezug auf das Recht der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die auf Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedstaat sind, hat die Prüfung der ersten Frage nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG berühren könnte.

2. Art. 12 EG steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten von Sozialhilfeleistungen ausschließt, die Drittstaatsangehörigen gewährt werden. [...]