Ist eine 76 Jahre alte Ausländerin auf den Beistand und die Betreuung durch ihren im Bundesgebiet lebenden deutschen Sohn angewiesen, verdichtet sich das behördliche Ermessen in § 25 Abs. 1 Satz 1 und § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu einem Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis.
Ist eine 76 Jahre alte Ausländerin auf den Beistand und die Betreuung durch ihren im Bundesgebiet lebenden deutschen Sohn angewiesen, verdichtet sich das behördliche Ermessen in § 25 Abs. 1 Satz 1 und § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu einem Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. [...]
Die Klägerin ist entgegen der Ansicht der Beklagten auch die Ausreise aus rechtlichen Gründen unmöglich. Der Begriff Ausreise umfasst nach gefestigter Rechtsprechung sowohl die Abschiebung und damit die erzwungene Ausreise als auch die freiwillige Ausreise. Stehen der Abschiebung rechtliche Hindernisse entgegen, zumindest in aller Regel auch die freiwillige Ausreise nicht angesonnen werden können (BVerwG, Urt. v. 27.06.2006, BVerwGE 126, 192, 196/ 197; Nds. OVG, Urt. v. 10.12.2008, 13 LB 13/07). Im vorliegenden Fall liegt ein rechtliches Ausreisehindernis vor, weil der in Art. 6 Abs. 1 GG garantierte Schutz der Familie einer Abschiebung der Klägerin in den Irak und damit auch ihrer freiwilligen Ausreise in den Irak entgegen steht.
Art. 6 Abs. 1 GG gewährt zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf einen Aufenthalt im Bundesgebiet. Die Ausländerbehörde hat jedoch bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, etwa bei Ermessensentscheidungen, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über den Aufenthalt seine Bindungen an im Bundesgebiet berechtigterweise lebende Familienangehörige angemessen berücksichtigen (BVerfG, Beschl. v. 09.01.2009, 2 BvR 1064/08; Beschl. v. 01.08.1996, NVwZ 1997, 479; Beschl. v. 18.04.1989; BVerfGE 80, 81, 93; BVerwG, Urt. v. 09.12.1997, BVerwGE 106, 13, 17/18; Nds. OVG, Urt. v. 10.12.2008, 13 LB 13/07). Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei eine Betrachtung des Einzelfalles geboten ist. Die familiären Bindungen zwischen der Klägerin und ihrem Sohn, dem Zeugen B. C., stehen im vorliegenden Fall einer - auch freiwilligen - Ausreise der Klägerin entgegen. Art. 6 Abs. 1 GG erfasst auch die familiären Bindungen eines volljährigen Kindes zu seinen Eltern. Diesen Bindungen wird zwar dann nicht notwendigerweise der Vorrang vor einwanderungspolitischen Belangen einzuräumen sein, wenn es sich - wie häufig - um eine bloße Begegnungsgemeinschaft handelt und deshalb kein weitgehender familienrechtlicher Schutz angezeigt ist. Aus Art. 6 Abs. 1 GG sind aber nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 01.08.1996, NVwZ 1997, 479; Beschl. v. 25.10.1995, NVwZ 1996, 1099; Beschl. v. 14.12. 1989, NJW 1990, 895; Beschl. v. 18.04.1989, BVerfGE 80, 81; ebenso Nds. OVG, Urt. v. 10.12.2008, 13 LB 13/07; Beschl. v. 01.11.2007, 10 PA 96/07; OVG Münster, Urt. v. 24.02.1999, OVGE 47, 132)weitergehende Schutzwirkungen abzuleiten, wenn ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe des anderen Familienmitgliedes angewiesen ist und sich diese Hilfe nur in der Bundesrepublik Deutschland erbracht werden kann. Bei einer solchen, von der Rechtsprechung als Beistandsgemeinschaft bezeichneten Fallgestaltung drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, im Regelfall einwanderungspolitische Belange mit der Folge zurück, dass grundsätzlich eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist.
Die zwischen der Klägerin und ihrem Sohn B. C. bestehenden familiären Bindungen begründen eine Beistandsgemeinschaft, die nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders schutzwürdig ist.
Die Klägerin ist in erheblichem Umfange auf fremde Betreuungsleistungen angewiesen. Dafür sprechen bereits das von der Beklagten eingeholte amtsärztliche Gutachten vom 24.07.2006 und die dort festgestellten Erkrankungen. [...]
Der Zeuge hat dazu in der mündlichen Verhandlung am 11.12.2008 bekundet, dass er täglich von 15:00 - 20:30 Uhr sowie zusätzlich am Montag, Mittwoch und Freitag von 9:00 - 10:30 Uhr als Reinigungskraft arbeite. Außerdem sei er am Wochenende bei Bedarf als G. tätig. Dies steht nach der Rechtsprechung des (BVerfG, Beschl. v. 14.12.1989, NJW 1990, 895) und entgegen der noch im Schriftsatz der Beklagten vom 02.12.2008 geäußerten Ansicht dem Vorliegen einer dem besonderen Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG unterfallenden Beistandsgemeinschaft nicht entgegen. Das BVerfG hat dazu im Beschluss vom 14.12.1989 ausgeführt:
"Für die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG kommt es auch nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied erbrachte Lebenshilfe von anderen Personen erbracht werden kann. Eine andere Auffassung ließe unberücksichtigt, daß Kinder bereits von Gesetzes wegen ihren Eltern Beistand zu leisten haben, wenn diese darauf angewiesen sind (§ 1618 a BGB). Eine Familie erfüllt die Funktion einer Beistandsgemeinschaft nicht erst dann, wenn die Hilfe nur von einem bestimmten Familienmitglied, nicht dagegen auch von anderen Personen erbracht werden kann. Vielmehr entsteht eine Beistandsgemeinschaft, sobald ein Familienmitglied auf Lebenshilfe angewiesen ist und ein anderes Familienmitglied diese Hilfe tatsächlich regelmäßig erbringt.
cc) Aus den vorgenannten Gründen kann eine Familie auch dann die Funktion einer Beistandsgemeinschaft erfüllen, wenn das die Lebenshilfe erbringende Familienmitglied berufstätig ist und deshalb die Hilfe nur während seiner Freizeit leisten kann. Eine Beistandsgemeinschaft liegt allerdings nur vor, wenn die wesentliche Hilfe von dem Familienmitglied und nicht von anderen Personen geleistet wird."
Die von einem Familienmitglied geleisteten Hilfeleistungen sind entgegen der ebenfalls noch im Schriftsatz der Beklagten vom 02.12.2008 geäußerten Ansicht nicht erst dann wesentlich, wenn sie über die Begleitung bei Arzt- und Behördenbesuchen hinausgehen und täglich einen längeren Zeitraum erfordern. Das BVerfG (Beschl. v. 25.10.1995, NVwZ 1996, 1099; ebenso Nds. OVG, Urt. v. 10.12.2008, 13 LB 13/07) hat dazu bereits vor längerer Zeit entschieden, dass die Lebenshilfe auch die Hilfe bei der Bewältigung der Probleme des täglichen Lebens umfassen kann und es nicht darauf ankommt, ob die von einem Familienmitglied erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden kann. Dementsprechend ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 05.07.1999, InfAuslR 1999, 414) bereits entschieden worden, dass das betreute Familienmitglied nicht im Sinne von §§ 14, 15 SGB XI pflegebedürftig sein muss, um eine Beistandsgemeinschaft annehmen zu können. Ein entsprechender Feststellungsantrag nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB XI ist im vorliegenden Fall nicht gestellt worden. Das Nds. OVG hat in dem bereits wiederholt zitierten Urteil vom 10.12.2008 (13 LB 13/07) im Hinblick auf die seit längerer Zeit gefestigte Rechtsprechung des BVerfG zur familiären Lebenshilfe ausgeführt:
"Unter den Begriff der familiären Lebenshilfe fallen die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen bei pflegebedürftigen Personen (z.B. Übernahme oder Hilfe bei der Körperpflege, Zubereitung und Verabreichung von Speisen, Hilfe beim Aufstehen, Gehen, Einkaufen, Wäschereinigung) sowie weitere Leistungen wie etwa die Beschaffung und Verabreichung von Medikamenten und die Übernahme sonstiger notwendiger Besorgungen einschließlich des erforderlichen Brief- und Schriftverkehrs. Auch wenn ein Teil der Pflegeleistungen von anderen Personen übernommen wird, ist ein Angewiesensein auf die familiäre Lebenshilfe zu bejahen, wenn der betreffende Familienangehörige die wesentlichen Betreuungs- und Unterstützungsleistungen im Übrigen erbringt. Dazu gehören auch die alltäglichen Versorgungsaufgaben und die Lebenshilfe im geistig-seelischen Bereich ..."
Die vom Sohn, dem Zeugen B. C., seiner Mutter geleistete Lebenshilfe umfasst - wie bereits dargelegt - die Begleitung bei Arztbesuchen und bei Behördengängen sowie den Einkauf von Kleidung und Lebensmitteln. Außerdem erledigt er für seine Mutter, die ihm eine Vollmacht erteilt hat, Behördengänge. Er begleitet sie auch bei Spaziergängen, wobei seine Mutter auf einen Rollator oder die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen ist. Unabhängig davon hat der Zeuge seiner Mutter bereits mit der Aufnahme in die Hausgemeinschaft Schutz und Unterkunft gewährt. Diese Hilfeleistungen sind nach der angeführten Rechtsprechung des BVerfG und des Nds. OVG als wesentlich anzusehen und rechtfertigen deshalb die Annahme einer durch Art. 6 Abs. 1 GG besonders geschützten Beistandsgemeinschaft. Auch die Vertreterin der Beklagten hat in der mündlichen Verhandlung letztlich nicht mehr geltend gemacht, dass die vom Zeugen B. C. selbst erbrachten oder durch Aufnahme in die Hausgemeinschaft organisierten Hilfeleistungen nach Art und Umfang für die Annahme einer nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdigen Beistandsgemeinschaft nicht ausreichen.
Die von dem Zeugen E. F. seiner Mutter, der Klägerin, geleistete Lebenshilfe kann nur in der Bundesrepublik Deutschland erbracht werden. Der Zeuge ist durch Urkunde der Landeshauptstadt Hannover vom 26.08.2005 eingebürgert und damit deutscher Staatsangehöriger geworden. Als deutscher Staatsangehöriger kann ihm nicht angesonnen werden, seine Mutter in den Irak zu begleiten und dort die notwendigen Hilfeleistungen zu erbringen. Davon geht auch die Beklagte aus. Die gegenteilige Annahme im Urteil des VG Münster vom 10.02.2006 (10 K 4/05.A) beruht erkennbar darauf, dass dem Gericht von den Beteiligten, insbesondere der auch damals anwaltlich vertretenen Klägerin, nicht mitgeteilt worden ist, dass ihr Sohn deutscher Staatsangehöriger geworden ist. Dass die Klägerin im Irak andere Verwandte hat, die sie betreuen bzw. die notwendige Lebenshilfe leisten können, ist weder ersichtlich noch vorgetragen worden. Das Bundesamt ist bereits in dem später aufgehobenen Bescheid vom 04.02.2000 davon ausgegangen, dass die Klägerin keine Verwandten im Irak hat, die sie betreuen könnten. Auch die Beklagte hat nicht aufgezeigt, dass die Klägerin im Irak Verwandte hat, die sie nicht aufnehmen könnten.
Dass zwischen der Klägerin und ihrem Sohn eine nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders schutzwürdige Beistandsgemeinschaft besteht und ihr deshalb aus rechtlichen Gründen die Ausreise aus dem Bundesgebiet nicht angesonnen werden kann, ist von der Beklagten im Rahmen dieses ausländerrechtlichen Verfahrens und nicht vom Bundesamt zu beachten. Es handelt sich dabei um ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, weil es seine Ursache in den im Bundesgebiet bestehenden familiären Bindungen der Klägerin hat und nicht in den Verhältnissen ihres Heimatlandes Irak. Die Kammer hat dazu bereits im Urteil vom 23.05.2007 (6 A 6403/04) unter Hinweis auf den Beschluss des Nds. OVG vom 27.02.2003 (AuAS 2003, 153) ausgeführt, dass die Trennung von betreuenden, im Bundesgebiet lebenden Angehörigen und eine daraus resultierende existenzielle Gefahr bei einer Rückkehr in das Heimatland kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, sondern ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis begründet, das nicht von dem Bundesamt, sondern von der zuständigen Ausländerbehörde zu beachten ist. Dementsprechend hat die Kammer bereits wiederholt entschieden, dass nicht vom Bundesamt im Rahmen eines Asylverfahrens, sondern von der zuständigen Ausländerbehörde - hier der Beklagten - zu prüfen ist, ob der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG der Abschiebung einzelner Familienmitglieder entgegen steht (vgl. z.B. Urt. v. 23.05.2007, 6 A 6403/04; Urt. v. 07.06.2006, 6 A 1383/02).
Angesichts des Alters und des auch amtsärztlich festgestellten Gesundheitszustandes der Klägerin ist mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Es ist weder ersichtlich noch vorgetragen worden, dass sich der Gesundheitszustand der jetzt 76 ½ Jahre alten Klägerin soweit bessern wird, dass sie alleine und ohne unterstützende Hilfeleistung im Irak leben kann. [...]