OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 03.03.2009 - 2 Bs 22/09 - asyl.net: M15700
https://www.asyl.net/rsdb/M15700
Leitsatz:

Der Ausschluss von der Altfallregelung gem. § 104 a Abs. 3 AufenthG für Familienangehörige von straffälligen Ausländern ist verfassungsgemäß; die Altfallregelung des § 104 a AufenthG stellt keine spezielle Regelung gegenüber dem Schutz des Privatlebens gem. § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK dar; der Schutz des Privatlebens kann auch dann ein Ausreisehindernis gem. § 25 Abs. 5 AufenthG begründen, wenn der Aufenthalt in Deutschland nicht rechtmäßig war.

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Duldung, Zumutbarkeit, Altfallregelung, Straftat, Familienangehörige, Verfassungsmäßigkeit, Minderjährige, Kinder, Aufenthaltsdauer, Ausreisepflicht, Ausreisehindernis, Privatleben, EMRK, Integration, Situation bei Rückkehr, Verschulden, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 60a Abs. 2; AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 6; AufenthG § 104a Abs. 3; AufenthG § 25 Abs. 5; EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

1. Die zulässige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Die Antragstellerinnen haben in ihrer Beschwerdebegründung zutreffend dargelegt, dass das Verwaltungsgericht die rechtliche Prüfung, ob ihnen ein Anspruch nach § 104a AufenthG zusteht, nicht erst im Hauptsacheverfahren anstellen darf. Andernfalls würde nämlich im Eilverfahren kein effektiver Rechtsschutz gewährt. Somit ist das Beschwerdegericht berechtigt und verpflichtet, ohne die Beschränkung des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO über die Beschwerde zu entscheiden.

 

Die Beschwerde ist danach begründet, da der Erlass einer einstweiligen Anordnung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile von den Antragstellerinnen abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Die Antragstellerinnen haben einen Anspruch auf Erteilung einer (weiteren) Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, da ihre Abschiebung zurzeit aus rechtlichen Gründen unmöglich ist. Denn Vieles spricht dafür, dass ihnen der mit der Klage (17 VG 3990/07) geltend gemachte Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zustehen wird. Die begehrte vorläufige Regelung in Form einer (weiteren) Duldung ist für sie außerdem dringlich. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass die Antragsgegnerin die alsbaldige Abschiebung der Antragstellerinnen betreibt, so dass diese den Ausgang des Klageverfahrens im Ausland abzuwarten hätten.

 

Dies ist ihnen aber nicht zumutbar, da sich gerade jene Folgen einstellen würden, aufgrund derer ihnen ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zustehen kann. [...]

 

2. Den Antragstellerinnen steht kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß §§ 104a, 104b AufenthG zu der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zugunsten der Antragstellerin zu 1. wird § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG entgegenstehen, da sie in den Jahren 2002 und 2003 jeweils einmal wegen im Bundesgebiet begangener vorsätzlicher Straftaten zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. [...]

 

Da die Antragstellerin zu 1., die in häuslicher Gemeinschaft mit ihren beiden Töchtern lebt, Straftaten i.S.d. § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG begangen hat, wird gemäß Absatz 3 Satz 1 der Vorschrift auch ein Anspruch der minderjährigen Antragstellerinnen zu 2. und 3. ausscheiden. Eine unzulässige "Sippenhaft" der Kinder für von ihren Eltern begangene Straftaten dürfte darin nicht zu sehen sein. Denn diese Folge ist lediglich Ausdruck der grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers (mit Ausnahme in § 104b AufenthG), minderjährigen Kindern nach § 104a AufenthG nur ein von der Aufenthaltserlaubnis der Eltern bzw. eines Elternteils abhängiges Aufenthaltsrecht zu geben (siehe BT-Drs. 16/5065 S. 202; BR-Drs. 224/07 S. 368), Aus welchem konkreten Grunde den Eltern oder einem Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104a AufenthG nicht zusteht, ist dabei unerheblich. Gegen diese Regelung bestehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken (ebenso Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 104a Rn. 35, 56). Sie dient vielmehr der nach Art. 6 Abs. 1 GG gebotenen Wahrung der Familieneinheit (dazu Robbers in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 4, Aufl, 1999, Art. 6 Abs. 1 Rn, 91), die vorsieht, dass Eltern im Rahmen der elterlichen Sorge auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihr Kind zusteht (§§ 1626 Abs. 1, 1631 Abs. 1 BGB). Minderjährige Kinder teilen damit grundsätzlich aufenthaltsrechtlich das Schicksal der Eltern. Vor diesem Hintergrund ist es zweifelhaft, ob die Ausnahmevorschrift des § 104a Abs. 3 Satz 2 AufenthG, wie die Antragstellerinnen meinen, entsprechend auf minderjährige Kinder anzuwenden ist, denen überhaupt kein eigenständiger Erteilungsanspruch nach § 1O4a AufenthG zusteht. Selbst wenn aber der Ausschlusstatbestand des § 104a Abs. 3 AufenthG verfassungswidrig wäre, so stünde den Antragstellerinnen deshalb nicht unmittelbar ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu. Denn soweit die Bundesrepublik Deutschland nicht aufgrund von Verfassungsrecht oder Völkervertragsrecht (Art. 8 EMRK) verpflichtet ist, ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, steht es in ihrem Ermessen, ob sie überhaupt ein Bleiberecht für sog. Altfälle einräumt (Funke-Kaiser, a.a.O.. Rn. 58). [...]

 

3. Für die Antragstellerinnen zu 2. und 3. kommt ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 und 2 AufenthG ernstlich in Betracht, da ihre Ausreise gemäß Art. 8 EMRK aus rechtlichen Gründen unmöglich sein kann, mit dem Wegfall dieses Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen sein dürfte und ihre Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist. Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person des Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhinderung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten Anderer. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (Urt. v. 16.9.2004, NVwZ 2005 1046 ff. [Ghiban] Urt. v. 7.10.2004, NVwZ 2005, 1043 ff. [Dragan] garantiert Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht das Recht eines Ausländers, in einen bestimmten Staat einzureisen oder sich dort aufzuhalten oder nicht ausgewiesen zu werden. Die Vorschrift darf auch nicht so verstanden werden, als verbiete sie allgemein die Abschiebung eines Ausländers nur deshalb, weil er sich eine bestimmte Zeit im Hoheitsgebiet des betreffenden Vertragsstaats aufgehalten habe. Die Vertragsstaaten haben vielmehr nach allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen das Recht, über die Einreise, den Aufenthalt und die Abschiebung fremder Staatsangehöriger zu entscheiden. Zum Schutzbereich des Privatlebens i.S.d. Art. 8 Abs. 1 EMRK gehört aber andererseits die Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen den niedergelassenen Einwanderern und der Gemeinschaft, in der sie leben (EGMR, Urt. v. 18.10.2006, NVwZ 2007, 1279 ff. [Üner]). Dem Menschenrechtsschutz unterliegen ihre gewachsenen persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Bindungen in dem Staat, in dem sie geboren oder aufgewachsen sind (EGMR, Urt. v, 26.3.1992, EuGRZ 1993, 556 ff. [Beldjoud]). Im Einzelfall kann sich hieraus die rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise ergeben und damit ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Dies kommt für die Antragstellerinnen zu 2. und 3. entgegen der Annahme der Antragsgegnerin in Betracht.

 

Der Antragsgegnerin kann nicht darin gefolgt werden, dass die Vorschriften der §§ 104a, 104b AufenthG bezogen auf die Fälle langjährig geduldeter Ausländer eine spezielle Regelung bildeten, die für die Anwendung von § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art, 8 EMRK keinen Raum mehr ließe. Denn bei Art. 8 EMRK handelt es sich um ein Individualrecht, dessen Schutzwirkung nur im Einzelfall bestimmt werden kann und das sich deshalb einer generellen gesetzlichen Regelung entzieht. Keine Zustimmung verdient auch der Einwand der Antragsgegnerin, dass der Schutzbereich des Privatlebens i.S.v. Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht eröffnet sei, weil der Aufenthalt der Antragstellerinnen zu 2. und 3. im Bundesgebiet nicht rechtmäßig gewesen sei. Diese Betrachtungsweise würde nämlich zu einer generellen Schutzbereichsverengung führen, die es ausschließt, die Gründe für den Aufenthalt im Bundesgebiet daraufhin zu überprüfen, ob sie Elemente eines schutzwürdigen Vertrauens beinhalten oder nicht (ebenso Eckertz-Höfer, ZAR 2008, 41, 44 f.). Dem entspricht es, wenn der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (Urt. v. 16.9.2004, a.a.O., 1046) in derartigen Fällen davon ausgeht, dass der Aufenthalt des Ausländers eine ausreichende Grundlage für die Annahme eines Privatlebens bildet, das mit dem Recht der Vertragsstaaten zur Einwanderungskontrolle abzuwägen ist.

 

Diese gebotene Abwägung fällt mit hoher Wahrscheinlichkeit zugunsten der Antragstellerinnen zu 2. und 3. aus. Die Antragsgegnerin räumt dabei zutreffend ein, dass beide in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert sind. Die Antragstellerin zu 2. lebt seit ihrem dritten Lebensjahr und die Antragstellerin zu 3. seit der dritten Woche nach ihrer Geburt im Bundesgebiet. Dieser über dreizehn Jahre lange Aufenthalt ist geeignet, eine schutzwürdige Erwartung auf eine mögliche spätere Legalisierung zu begründen. Denn er stellt sich im Wesentlichen als eine Folge der epileptischen Erkrankung der Antragstellerin zu 1. dar, weshalb diese jahrelang - unabhängig von ihrer Passlosigkeit - wegen festgestellter Reiseuntauglichkeit nicht abgeschoben werden konnte. Die Antragstellerinnen zu 2. und 3. haben die Dauer des Aufenthalts deshalb nicht zu vertreten. [...] Die Antragstellerin zu 2. besucht die Staatliche Handelsschule und die Antragstellerin zu 3. mit sehr gutem Erfolg die Förderschule. Trotz des negativen Vorbilds ihrer Mutter sind die Antragstellerinnen zu 2. und 3. nicht straffällig geworden und haben sich rechtstreu verhalten. Für eine gelungene Integration spricht nicht zuletzt auch die Tatsache, dass dem älteren Bruder der Antragstellerinnen zu 2. und 3. bereits eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist. Soweit die Antragsgegnerin in Anlehnung an die Regelung in § 32 Abs. 3 AufenthG generell annehmen will, dass ein minderjähriges Kind, das das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat - was ohnehin nur noch auf die Antragstellerin zu 3. zuträfe -, als reintegrationsfähig anzusehen sei, überzeugt dies schon deshalb nicht, weil Art. 8 EMRK eine Einzelfallprüfung verlangt und die Lebensverhältnisse in Armenien nicht mit denen in der Bundesrepublik Deutschland vergleichbar sind, wo insbesondere die Integration von Ausländern stark gefördert wird. Hinzu kommt, dass es im vorliegenden Zusammenhang nicht allein darauf ankommt, dass überhaupt eine Reintegrationsmöglichkeit besteht, sondern auf welches Maß an Schwierigkeiten Kinder bei einer Rückkehr in das Heimatland stoßen. Da die Antragstellerinnen zu 2. und 3. nach den gegenwärtig aktenkundigen Umständen aber von ihrem Heimatland völlig entwurzelt sind, ist gemessen an den Belangen des Kindeswohls nicht davon auszugehen, dass eine Reintegration in Armenien erfolgreich wäre. Hierbei dürfte auch zu berücksichtigen sein, dass die Antragstellerinnen zu 2. und 3. wegen ihres Geschlechts und Alters besonderen Schwierigkeiten ausgesetzt wären.

 

Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis dürften voraussichtlich nicht die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 4, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG entgegenstehen. Zwar steht die Anwendung der Absätze 1 und 2 des § 5 AufenthG in den Fällen des § 25 Abs. 5 AufenthG gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG im pflichtgemäßen Ermessen der Antragsgegnerin, jedoch sieht die Weisung Nr. 1/2005 (i.d.F. v. 4.10.2005) der Behörde für Inneres in Nr. 2 für die Fälle des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG vor, dass insoweit grundsätzlich von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG abzusehen ist. [...]