VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 05.05.2009 - 13 S 819/09 - asyl.net: M15707
https://www.asyl.net/rsdb/M15707
Leitsatz:

Eine Anfechtungsklage gegen die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit gem. § 6 Abs. 1 FreizügG/EU hat aufschiebende Wirkung gem. § 80 Abs. 1 VwGO; Familienangehörige eines Unionsbürgers kommen auch dann in den Genuss der Freizügigkeit nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 FreizügG/EU, wenn der Unionsbürger zugleich die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt; der Begriff des Ehegatten in der Unionsbürgerrichtlinie ist in einem streng formalen Sinne zu verstehen und daher bis zur rechtskräftigen Scheidung zu bejahen.

Schlagwörter: D (A), Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Feststellungsbescheid, Freizügigkeit, Anfechtungsklage, Unionsbürger, Familienangehörige, doppelte Staatsangehörigkeit, Deutschverheiratung, Ehegatte, Scheinehe, Getrenntleben, Unionsbürgerrichtlinie
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; VwGO § 80 Abs. 1; FreizügG/EU § 11 Abs. 1; AufenthG § 84; EG Art. 18 Abs. 1; FreizügG/EU § 1; FreizügG/EU § 6 Abs. 1; FreizügG/EU § 2 Abs. 1 Nr. 6
Auszüge:

[...]

Die zulässige, insbesondere rechtzeitig erhobene (§ 147 Abs. 1 VwGO) und begründete (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) Beschwerde hat Erfolg, Der Senat legt den Antrag des Antragstellers auf "Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung" im Hinblick auf sein erkennbar gewordenes Rechtsschutzziel sachdienlich (§§ 122, 88 VwGO) dahin gehend aus, dass dieser aufgrund der von ihm geltend gemachten Freizügigkeit als Familienangehöriger eines Unionsbürgers in erster Linie auf die Feststellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die in Ziffer 2 des Bescheids der Antragsgegnerin ergangene Entscheidung, ihm stehe ein Recht auf Freizügigkeit nicht zu, gerichtet ist (siehe zur Auslegung von Anträgen in vorläufigen Rechtsschutzverfahren insbesondere mit ausländerrechtlichem Bezug näher, Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO, 4. Aufl., 2007, § 80 Rn 68). Da der Antragsteller schon allein mit einer Feststellung der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs entsprechend 80 Abs. 5 VwGO sein Ziel erreicht, vorläufig im Bundesgebiet verbleiben zu können, geht der Senat davon aus, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage hinsichtlich Ziffer 1 der Verfügung vom 23.12.2008 nur für den Fall beantragt ist, dass sein primärer Antrag erfolglos bleibt.

Der Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung hat Erfolg. Der Antragsteller dürfte jedenfalls derzeit noch freizügigkeitsberechtigter Familienangehöriger eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers sein. Der Klage des Antragstellers gegen Ziffer 2 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 23.12.2008, mit dem unter anderem festgestellt worden ist, dass der Antragsteller nicht im Besitz des Rechts nach § 2 FreizügG/EU (Recht auf Freizügigkeit) war und ist, kommt daher insoweit nach § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung zu; diese ist entsprechend § 80 Abs. 5 VwGO festzustellen. § 11 Abs. 1 FreizügG/EU enthält keine Verweisung auf § 84 AufenthG über die Wirkungen von Widerspruch und Klage im allgemeinen Ausländerrecht. Es bleibt daher für den Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU bei der allgemeinen Regel des § 80 Abs. 1 VwGO, dass Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben. Aus § 11 Abs. 2 FreizügG/EU ergibt sich für den hier vorliegenden Fall, in dem das Recht auf Freizügigkeit umstritten ist, nichts anderes (Harms, in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms, Kommentar zum Zuwanderungsrecht, § 11 FreizügG/EU Rn 7, siehe auch VG Münster, Beschl. v. 22.10.2008 - 8 L 481/08 -, juris).

Der Antragsteller dürfte als Ehemann einer freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgerin ein gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht erworben haben, das ihm - da die Ehe nach wie vor formal besteht - auch jetzt noch zusteht. Die Ehefrau des Antragstellers ist eine im Bundesgebiet geborene deutsche Staatsangehörige, die jedoch auch - dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig - die italienische Staatsangehörigkeit besitzt. Das Verwaltungsgericht ist unter Berufung auf den Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen v. 17.03.2008 (- 18 B 191/08 -, InfAuslR 2008, 237) der Auffassung, dass der Antragsteller nicht als Ehemann einer freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgerin ein gemeinschaftliches Aufenthaltsrecht erworben hat, da das Freizügigkeitsgesetz/EU auf die Ehefrau des Antragstellers keine Anwendung finde. Diese halte sich nämlich nicht - wie von § 1 FreizügG/EU verlangt - als Unionsbürgerin in einem anderen Mitgliedstaat auf, sondern als (zugleich) deutsche Ehefrau im Staat ihrer Staatsangehörigkeit. Diese Auffassung dürfte jedoch voraussichtlich nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Einklang stehen. Ist ein deutscher Unionsbürger zwar - wie dies wohl für die in Deutschland geborene Ehefrau des Antragstellers zutrifft - seit seiner Geburt in der Bundesrepublik ansässig, besitzt jedoch zugleich die Staatsangehörigkeit eines weiteren Mitgliedstaats, so steht drittstaatsangehörigen Familienmitgliedern unter Berufung auf die Grundfreiheiten ein Aufenthaltsrecht im Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgers zu. Denn auch in diesem Fall sind die Vertragsbestimmungen über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, betroffen. Es ist nicht Sache eines Mitgliedstaats, die Wirkung der Verleihung der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats dadurch zu beschränken, dass er eine zusätzliche Voraussetzung für die Anerkennung dieser Staatsangehörigkeit im Hinblick auf die Ausübung der im Vertrag vorgesehenen Grundfreiheiten verlangt; darauf, ob der Unionsbürger (zuvor) selbst von seinem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 18 Abs. 1 EG (i.V.m. Art. 6 der Richtlinie 2004/38/EG Gebrauch gemacht hat, kommt es nicht an (vgl. etwa EuGH, Urt. v. 02.10.2003 - Rs. C-148/02 -, Rn 21 ff. [Garcia Avello], DVBl 2004, 183; Urt, v. 07.07.1992 - C-369/90 -, juris [Micheletti]; Urt. v. 07.07.1992 - C-370/90 -, juris [Singh]; Epe, GK-AufenthG, § 1 FreizügG/EU, Rn 25 f. mwN; vgl. auch Frank, Die Entscheidung des EuGH in Sachen Garcia Avello und ihre Auswirkungen auf das internationale Namensrecht, StAZ 005, 5. 161, 162, Fischer-Lescano, Nachzugsrechte von drittstaatsangehörigen Familienmitgliedern deutscher Unionsbürger, ZAR 205, 5. 288, 289, 294).

Mit der Eheschließung am 11.05.2006 und der Aufnahme der Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet dürfte daher dem Antragsteller als Ehegatte einer Unionsbürgerin das Recht auf Aufenthalt in Deutschland nach der Unionsbürgerrichtlinie materiell zugestanden haben. Dieses Recht dürfte auch derzeit noch bestehen, da die Ehe noch nicht geschieden ist. Der Begriff des Ehegatten in der Unionsbürgerrichtlinie ist in einem streng formalen Sinne zu verstehen und daher bis zur rechtskräftigen Scheidung zu bejahen (näher Epe, GK-AufenthG, § 3 FreizügG/EU Rn 11). Ob - wie von der Ehefrau des Antragstellers in ihrem Antrag auf Ehescheidung vom 23.07.2008 behauptet - der Antragsteller nur deshalb geheiratet habe, um in den Genuss eines Aufenthaltsrechts zu kommen und daher ein Missbrauchsfall in Gestalt einer Scheinehe vorliegen könnte, muss der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. [...]