VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 19.05.2009 - 5 K 531/06.KS.A - asyl.net: M15717
https://www.asyl.net/rsdb/M15717
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Frauen, Zwangsehe, häusliche Gewalt, Ehrenmord, alleinstehende Frauen, alleinerziehende Frauen, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Feststellung des Vorliegens des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei. [...]

Eine extreme Gefahrenlage im oben beschriebenen Sinne ist im Falle der Klägerin anzunehmen. Zunächst geht das Gericht davon aus, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr in die Türkei dort nicht auf einen funktionierenden Familien- oder Stammesverband zurückgreifen kann, der gerade für Kurden aus dem Südosten der Türkei typisch ist. Die Klägerin hat glaubhaft vorgetragen, dass weder ihre Eltern, noch ihre Verwandtschaft die Entscheidung, mit ihrem Lebensgefährten, einem libyschen Staatsangehörigen eine Familie zu gründen, toleriert haben. Stattdessen ist es noch während des Aufenthaltes in den Niederlanden, wie die Klägerin unwidersprochen vorträgt, zu handfesten Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter gekommen. Die Klägerin hat darüber hinaus vorgetragen, dass sie immer wieder versucht habe, mit ihren Eltern Kontakt aufzunehmen, um die Situation zu bereinigen, doch von beiden Seiten habe sie nur Ablehnung erfahren. Ein größerer Teil ihrer Familie lebt ohnehin nicht mehr in der Türkei. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Klägerin, sofern sie in die Türkei zurückkehrt, von der restlichen dort noch verbliebenen Familie ebenfalls in keiner Weise unterstützt wird, sondern vielmehr gegebenenfalls noch drangsaliert wird. Inwieweit die Drohung eines Onkels, die ihr hinterbracht worden ist, sie im Falle der Rückkehr lebendig zu begraben, ernst zu nehmen ist, vermag das Gericht letztlich nicht zu klären. Gleichwohl geht das Gericht, wie auch das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 11.09.2008 davon aus, dass nach wie vor die Hälfte der Frauen im Osten und Südosten der Türkei bei der Auswahl des Ehepartners nicht nach ihrer Zustimmung gefragt werden. Zwar bestimmt Art. 10 der türkischen Verfassung, dass Männer und Frauen gleiche Rechte haben, die gesellschaftliche Wirklichkeit hinkt jedoch in weiten Teilen der Türkei weit hinter den gesetzlichen Entwicklungen her. In ländlichen Gebieten, vor allem der Zentral- und Osttürkei, woher auch die Klägerin stammt, ist die Gesellschaft noch traditionell konservativ streng patriarchalisch strukturiert. Frauen werden dort noch oft Opfer familiärer Gewalt. Die Rolle der Frau wird nach wie vor traditionell gesehen, als Hausfrau und Mutter, deren Ehre gleichbedeutend mit der Familienehre ist. Daher kommt es auch in der Türkei nach wie vor zu sogenannten Ehrenmorden, insbesondere der Frauen und Mädchen, die des sogenannten schamlosen Verhaltens verdächtigt werden. Es ist nicht auszuschließen, dass die in der Türkei lebende Verwandtschaft ihre Verbindung zu einem aus dem arabischen Raum stammenden Mann als solches ansieht. Ob es dabei zu körperlichen Übergriffen kommt, mag dahingestellt sein, jedoch ist es durchaus denkbar, dass die minderjährigen Kinder der Klägerin in der Gefahr sind, von diesem Familienverband vereinnahmt zu werden.

Darüber hinaus ist das Gericht der festen Überzeugung, dass die Klägerin ohne die Hilfe eines Familienverbandes in ihrem Heimatort im Falle einer Rückkehr mit zwei minderjährigen Kindern nicht in der Lage ist, eine wirtschaftliche und finanzielle Existenz aufzubauen.

Die Klägerin käme in ein Land zurück, das sie letztmalig im Alter von 12 Jahren gesehen hat und mit dessen Lebensumständen sie kaum noch vertraut sein dürfte. Die Lebensverhältnisse in der Türkei sind weiterhin durch ein starkes West-Ost-Gefälle geprägt. Dies führt gerade dazu, dass der Auswanderungsdruck aus dem Südosten der Türkei in das Ausland weiterhin anhält. Die Klägerin kommt aber gerade aus dieser Region. Die Klägerin kann auch nicht darauf vertrauen, im Falle der Rückkehr mit ihren beiden minderjährigen Kindern, staatliche Hilfe zu erhalten. Die Türkei kennt bisher keine staatliche Sozialhilfe nach EU-Standard. Vielmehr gibt es Sozialleistungen nur in äußerst beschränkter Form, allenfalls für die Dauer von neun bis zwölf Monaten, wobei die Gewährung solcher Sozialleistungen durch vereinzelte Stiftungen erfolgt. Das Gericht sieht daher für die Klägerin auch keine Perspektiven, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit sicherzustellen, da sie über keine Berufsausbildung verfügt und ihre beiden Kinder im Alter von 4 und 6 Jahren auf die Fürsorge ihrer alleinstehenden Mutter angewiesen wären. Angesichts der in dem Lagebericht. des Auswärtigen Amtes vom 11.09.2008 geschilderten Erkenntnis zur Situation der Frau in der Türkei kann nicht davon ausgegangen werden, dass es der Klägerin gelänge, eine erforderliche Erwerbstätigkeit zu finden, die sich in Einklang mit der Versorgung ihrer Kinder bringen ließe, insbesondere wenn man das traditionelle Rollenverständnis der Frau in ihrer Heimatregion, wie bereits geschildert, unterstellt. [...]