SG Hildesheim

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Zitieren als:
SG Hildesheim, Beschluss vom 26.05.2009 - S 12 SF 18/09 E - asyl.net: M15718
https://www.asyl.net/rsdb/M15718
Leitsatz:

Eine im Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren angefallene Geschäftsgebühr wird nicht auf die Verfahrensgebühr für die anwaltliche Tätigkeit im einstweiligen Rechtsschutzverfahren angerechnet.

Schlagwörter: Rechtsanwaltsgebühren, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Verfahrensgebühr, Widerspruchsverfahren, Verwaltungsverfahren, Geschäftsgebühr, Untätigkeitsklage, Streitgegenstand, Rahmengebühr, Mittelbebühr, billiges Ermessen
Normen: VV RVG Nr. 3102; VV RVG Nr. 3103; RVG § 17 Nr. 1; RVG § 3; RVG § 14
Auszüge:

[...]

Die zulässige Erinnerung ist teilweise begründet.

1. Entgegen der Entscheidung des Urkundsbeamten ist die Verfahrensgebühr bei einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren stets nach der Nr. 3102 VV RVG zu berechnen.

Zwar geht die Kammer weiterhin davon aus, dass die Tätigkeit des Rechtsanwalts im vorausgegangen Verwaltungsverfahren oder Widerspruchsverfahren auch die Durchführung des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens erleichtert. Denn ein Rechtsanwalt, der bereits im Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren tätig war, ist bereits mit dem Sachverhalt vertraut. Eine Anwendung des Gebührentatbestandes Nr. 3103 W RVG zur Berechnung der Verfahrensgebühr für eine anwaltliche Tätigkeit in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist dennoch aus gesetzessystematischen Gründen ausgeschlossen.

Die Nr. 3103 VV RVG muss im Zusammenhang mit der für die Wertgebühren geltenden Regelung der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG ausgelegt werden. Dies ergibt sich aus der Gesetzesbegründung, wonach mit beiden Vorschriften der Tatsache Rechnung getragen werden soll, dass durch die Vorbefassung mit der Streitsache in einem behördlichen Verfahren die Tätigkeit eines Rechtsanwalts im anschließenden Gerichtsverfahren erleichtert wird und die Vergütung in verwaltungsrechtlichen Mandaten durch die neue Regelung des § 17 Nr. 1 RVG, die den bisherigen § 119 Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO) ersetzt, verbessert wurde (vgl. BT-Drucks. 15/1971, S. 209 und S. 212; so auch das LSG NRW, aaO.). Unter der Geltung des § 119 Abs. 1 BRAGO bildeten das Verwaltungsverfahren und das dem Rechtsstreit vorausgehende Widerspruchsverfahren eine Angelegenheit. Allerdings wurde die Geschäftsgebühr, die der Rechtsanwalt für seine Tätigkeit in dem behördlichen Verfahren erhielt, beim Übergang in ein gerichtliches Verfahren nicht angerechnet, § 118 Abs. 2 Satz 1 BRAGO. Mit der Einführung des § 17 Nr. 1 RVG hat der Gesetzgeber jedoch insoweit einen Systemwechsel vorgenommen. Nunmehr stellen das Verwaltungsverfahren und das der Überprüfung des Verwaltungsakts dienende Widerspruchsverfahren jeweils eine Angelegenheit dar, mit der Folge, dass jeweils eine Geschäftsgebühr für die Tätigkeiten ausgelöst wird. Zum Ausgleich dieser Verbesserung der anwaltlichen Vergütung in verwaltungsrechtlichen Mandaten hat der Gesetzgeber zugleich jedoch die Regelungen der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG (für anwaltliche Tätigkeiten, die sich nach Wertgebühren bemessen) und der Nr. 3103 VV RVG (für anwaltliche Tätigkeiten, die sich nach Betragsrahmengebühren bemessen) eingeführt (vgl. BT-Drucks. 15/1971, S. 209 und S. 212). In beiden Fällen soll zum einen dem Umstand Rechnung getragen werden, dass dem Rechtsanwalt durch die Vorbefassung mit der Sache in einem behördlichen Verfahren die Durchführung des nachfolgenden gerichtlichen Verfahrens erleichtert wird (BT-Drucks. 15/1971, S. 209 und S. 212). Zum anderen soll die Verfahrensgebühr aber vor allem auch vor dem Hintergrund der verbesserten außergerichtlichen Vergütung der anwaltlichen Tätigkeit reduziert werden, um die Bereitschaft zur außergerichtlichen Erledigung zu fördern (so ausdrücklich zur Vorbemerkung 3 Abs. 4 in BT-Drucks. 15/1971; S. 209).

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) hat zur Berechnung der Verfahrensgebühr für eine Untätigkeitsklage überzeugend ausgeführt, dass bei Wertgebühren eine Anrechnung der außergerichtlich verdienten Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr nach der Vorbemerkung 3 Abs.4 VV RVG bei der Untätigkeitsklage nicht in Betracht kommt, da es sich bei dem vorangegangenen Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren und der Untätigkeitsklage nicht um denselben Gegenstand handelt (LSG NRW, Beschluss vom 5. Mai 2008, Az. L 19 B 24/08 AS).

Es sei zur Bestimmung desselben Gegenstandes im Sinne der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG auf den Streitgegenstandsbegriff abzustellen (LSG NRW aaO. unter Verweis auf das OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 5. Dezember 2007, Az. 1 0 215/07, und den VGH Bayern, Beschluss vom 25. August 2005, Az. 22 V 05.1871). Die Streitgegenstände des Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens einerseits und der Untätigkeitsklage andererseits seien unterschiedlich, weil die Anträge im Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahren auf die Abwehr oder den Erlass eine bestimmten Verwaltungsakts gerichtet seien, bei der Untätigkeitsklage dagegen lediglich auf die Bescheidung eines Antrags oder Widerspruchs durch Verwaltungsakt gleich welchen Inhalts (LSG NRW, aaO.). Da die beiden Bestimmungen (Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG/Nr. 3103 VV RVG) über die Minderung der Verfahrensgebühr im Fall der Vorbefassung eines Rechtsanwalts mit der Sache in einem behördlichen Verfahren denselben Zweck, nämlich eine Berücksichtigung des Synergieeffektes verfolgen würden, sei es nicht gerechtfertigt, bei Anfall einer Verfahrensgebühr als Betragsrahmengebühr eine weitere Anrechnungsmöglichkeit anzunehmen als bei Anfall einer Verfahrensgebühr als Wertgebühr. Auch aus dem unterschiedlichen Charakter der Wertgebühr (Festsetzung nach Streitwert) und der Betragsrahmengebühr (Festsetzung unabhängig vom Streitwert nach einem Gebührenrahmen) ergebe sich kein sachlicher Grund für eine unterschiedliche Bewertung des Tätigwerdens des Rechtsanwalts im Rahmen einer Untätigkeitsklage (LSG NRW, aaO.). Die erkennende Kammer hat sich dieser Rechtsprechung des LSG NRW zur Berechnung der Verfahrensgebühr bei einer Untätigkeitsklage nunmehr angeschlossen (vgl. Beschluss vom 27. Februar 2009, Az. S 12 SF 42/09 E).

Konsequenterweise kann auch nichts anderes bei der Berechnung der Verfahrensgebühr für eine anwaltliche Tätigkeit in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren gelten. Auch hier besteht zwischen dem Verwaltungsverfahren bzw. Widerspruchsverfahren und dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren keine Streitgegenstandsidentität (ebenso SG Lüneburg, Beschluss vom 28. August 2008, Az. S 24 SF 69/08). Zwar liegt sowohl dem Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahren als auch dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren derselbe Lebenssachverhalt zugrunde. Die Zielrichtungen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens einerseits und des Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahrens andererseits sind jedoch verschieden. Das einstweilige Rechtsschutzverfahren ist auf die vorläufige Gewährung von Leistungen oder, sofern die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs oder einer Klage begehrt wird, auf die einstweilige Verhinderung des Vollzugs eines Verwaltungsakts gerichtet (VGH Bayern, aa0.). Das Verwaltungsverfahren bzw. Widerspruchsverfahren ist dagegen auf die Herbeiführung einer endgültigen Entscheidung gerichtet.

2. Der Ansatz der Verfahrensgebühr in Höhe der 1/3-Gebühr ist jedoch nicht zu beanstanden.

Nach §§ 3, 14 RVG bestimmt der Rechtsanwalt die Rahmengebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und der Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen. Ein besonderes Haftungsrisiko ist zu berücksichtigen, § 14 Abs. 1 Satz 3 RVG. Wenn die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen ist, so ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nach § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist.

Ausgangspunkt bei der Bemessung der Gebühr ist dabei die so genannte Mittelgebühr, das heißt die Mitte des gesetzlichen Gebührenrahmens (Hälfte von Höchst- + Mindestgebühr), die anzusetzen ist bei Verfahren durchschnittlicher Bedeutung, durchschnittlichen Schwierigkeitsgrades und in denen die vom Rechtsanwalt/-beistand geforderte und auch tatsächlich entwickelte Tätigkeit ebenfalls von durchschnittlichem Umfang war (SG Hannover, Beschluss vom 30. November 2007, Aktenzeichen S 34 SF 241/07). Denn nur so wird eine einigermaßen gleichmäßige Berechnungspraxis gewährleistet (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24. April 2006, Aktenzeichen L 4 B 4/05 KR SF). Abweichungen nach unten oder oben ergeben sich, wenn auch nur ein Tatbestandsmerkmal des § 14 RVG fallbezogen unter- oder überdurchschnittlich zu bewerten ist, wobei das geringere Gewicht eines Bemessungsmerkmals das überwiegende Gewicht eines anderen Merkmals kompensieren kann (Madert in: Gerold/Schmidt/von Eicken/Madert/Müller-Rabe, Kommentar zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 17. Auflage 2006, § 14 Rdnr. 11).

Vorliegend ist der Urkundsbeamte der Gebührenbemessung des Rechtsanwalts richtigerweise nicht gefolgt, da die Kriterien des § 14 RVG eine Qualifikation der Angelegenheit als durchschnittlich nicht zu rechtfertigen vermögen.

Weder der Umfang noch die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit in dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren waren durchschnittlich. Die Tätigkeit des Erinnerungsführers beschränkte sich darauf, den knapp zwei Seiten langen Antragsschriftsatz einzureichen. Eine Erörterung schwieriger Rechtsfragen erfolgte entgegen der Auffassung des Erinnerungsführers jedenfalls im erstinstanzlichen Verfahren nicht. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob im Beschwerdeverfahren schwierige Rechtsfragen zu erörtern waren. Dies mag zu einer Erhöhung der Gebühren des Beschwerdeverfahrens führen. Im erstinstanzlichen Verfahren hat dies jedoch außer Betracht zu bleiben. Die Bedeutung der Angelegenheit für die Antragstellerin mag zwar überdurchschnittlich gewesen sein. Dies wird jedoch durch die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Antragstellerin kompensiert, die bei ihr als Bezieherin von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz als unterdurchschnittlich einzustufen sind. [...]