VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 25.05.2009 - 3 K 1000/08.KS.A - asyl.net: M15728
https://www.asyl.net/rsdb/M15728
Leitsatz:

In der afghanischen Provinz Loghar herrscht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG; ein paschtunischer Mann im wehrfähigen Alter, der sich der drohenden Zwangsrekrutierung durch die Taliban entzogen hat, kommt in den Genuss der Beweislastumkehr des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie; angesichts der schlechten Versorgungslage stellt Kabul auch für junge alleinstehende Männer keine zumutbare Schutzalternative gem. Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie dar.

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, bewaffneter Konflikt, willkürliche Gewalt, Paktia, Loghar, Sicherheitslage, Taliban, allgemeine Gefahr, Männer, Paschtunen, Zwangsrekrutierung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, ernsthafter Schaden, interner Schutz, Kabul, Existenzminimum, Versorgungslage, medizinische Versorgung, Zumutbarkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat Anspruch darauf, dass das Bundesamt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in Bezug auf Afghanistan feststellt, der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO). [...]

Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben u.a. im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt wäre. Das ist hier der Fall.

Zwar ist auch nach dem neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 10. Februar 2009 noch nicht ganz Afghanistan von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt erfasst. Eine landesweite Konfliktsituation ist jedoch auch nicht erforderlich. Es genügt, wenn sie in einem Teil des Staatsgebiets besteht (BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198).

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Urteil vom 11. Dezember 2008 - 8 A 611/08.A - bezüglich der Provinz Paktia einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt bejaht; diese Ausführungen gelten für die im Süden Afghanistans im sogenannten Paschtunengürtel gelegene und an Pakistan angrenzende Provinz Loghar - die Heimatprovinz des Klägers - entsprechend. [...]

Von dem in seiner Heimatprovinz herrschenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ginge für den Kläger als Angehörigen der Zivilbevölkerung im Falle einer Rückkehr dorthin auch eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bzw. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit im Sinne von Art. 15 Buchst. c) QRL aus.

Zu der letztgenannten Vorschrift hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 17.02.2009 in der Rechtssache C-465/07 - (Elgafaji gegen Staatssecretaris van Justitie) entschieden, dass das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person nicht in jedem Falle ein spezifisches Betroffensein des Einzelnen aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen voraussetzt, sondern dass das Vorliegen einer solchen Bedrohung ausnahmsweise auch dann als gegeben angesehen werden kann, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson werde bei einer Rückkehr allein durch ihre Anwesenheit im betreffenden Gebiet tatsächlich Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein.

Ob der Grad willkürlicher Gewalt in der Provinz Loghar ein Maß erreicht hat, das für jeden dort anwesenden Zivilangehörigen die Gefahr einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person bestünde, kann hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls würden sich die für eine Vielzahl von Zivilpersonen bestehenden Gefahren in der Person des Klägers so verdichten, dass eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben anzunehmen wäre. Dabei ist zu seinen Gunsten im Sinne einer Beweislastumkehr der herab gemilderte Prognosemaßstab nach § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 QRL heranzuziehen, wonach die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprächen gegen diese Annahme.

Ausweislich der Angaben des Klägers im Asylerstverfahren ist sein Bruder von den Taliban getötet worden, nachdem sie ihren Heimatort Ende 2003/Anfang 2004 wegen familiärer Erbstreitigkeiten verlassen und sich in Khost der Aufforderung der Taliban zur Zusammenarbeit widersetzt hatten. Der damals erst 16 Jahre alte Kläger hat daraufhin das Land verlassen. Danach ist davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die pashtunische Stammesgesellschaft seiner Heimatregion wegen seiner Vorgeschichte von einer Bestrafung oder jedenfalls wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe pashtunischer Männer im wehrfähigen Alter von einer Zwangsrekrutierung durch die mit großen Rückhalt der dortigen Bevölkerung agierenden Taliban bedroht wäre. Stichhaltige Gründe im Sinne von § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 QRL, die gegen eine solche Gefahr sprechen, sind weder erkennbar noch vorgetragen worden (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 11. Dezember 2008 - 8 A 611/08.A -).

Der Kläger kann schließlich auch nicht gern. § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 8 QRL auf einen internen Schutz in einem anderen Teil seines Herkunftslandes verwiesen werden. Voraussetzung dafür wäre, dass für ihn dort keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, bestünde und von ihm nach den dortigen allgemeinen Gegebenheiten und seinen persönlichen Umständen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Dabei kommt es insbesondere darauf an, ob für ihn am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage bestünde und jedenfalls sein Existenzminimum gesichert wäre. Das ist bei dem Kläger in anderen Landesteilen Afghanistans, insbesondere in dem wohl allein für einen internen Schutz in Frage kommenden Bereich der Hauptstadt Kabul angesichts der angespannten Arbeitsmarktsituation, der schlechten Sicherheits- und unzureichenden Versorgungslage nicht der Fall.

Zur allgemeinen Situation in Afghanistan und insbesondere in Kabul hat der Hess. Verwaltungsgerichtshof in seinem Urteil vom 7. Februar 2008 - 8 UE 1913/06.A - Folgendes ausgeführt: [...]

Aus dieser allgemeinen Situation ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung unter Heranziehung weiterer Erkenntnismittel etwa hergeleitet worden, dass ein 1981 geborener, nach wenigen Schuljahren nur in der väterlichen Landwirtschaft tätiger und im Februar 2003 nach Deutschland eingereister Afghane im Falle seiner Abschiebung das zum Leben notwendige an Nahrungsmitteln, Unterkunft und medizinischer Versorgung in Kabul nicht aus eigener Kraft sichern könne, deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit zwangsläufig in einen fortschreitenden Prozess körperlichen Verfalls mit lebensbedrohlichen Folgen geraten würde, so dass er einer extremen allgemeinen Gefahr ausgesetzt wäre, die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einer Abschiebung verfassungsrechtlich unzulässig erscheinen lasse (vgl. OVG Koblenz, Urteil vom 6. Mai 2008 - 6 A 10749/07 -, AuAS 2008, 188). Dem gegenüber ist der Hessische Verwaltungsgerichtshof in dem genannten Urteil vom 7. Februar 2008 davon ausgegangen, das ein junger, allein stehender Afghane ohne nennenswertes Vermögen, ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen im Falle einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland dort zwar keine Eingliederungshilfe durch den afghanischen Staat, ausländische Hilfsorganisationen oder die eigene Familie zu erwarten hätte, aber aufgrund seines Lebensalters und des Fehlens familiärer Bindungen mit den daraus resultierenden Unterhaltslasten wahrscheinlich in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten in Kabul wenigstens ein kümmerliches Einkommen zu erzielen, damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren, obwohl manche von den Gutachtern mitgeteilte Details auch für die gegenteilige Schlussfolgerung sprächen; daraus lasse sich jedoch nicht die für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit ableiten, dass ein solcher Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan verhungern oder ähnlich Existenz bedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre. Der Senat sei vielmehr davon überzeugt, dass in Kabul trotz zahlreicher Todesfälle durch Mangelernährung und anderweitiger Unterversorgung gerade für junge, arbeitsfähige Männer Überlebenschancen bestünden, auch wenn sie nicht durch eine bedarfsgerechte Ausbildung und familiäre oder sonstige Beziehungen begünstigt würden.

Ob dieser Auffassung im Hinblick auf die sich zunehmend verschlechternden Lebensbedingungen in Afghanistan heute noch zu folgen wäre, kann hier dahingestellt bleiben. Darauf, ob der Kläger im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan mit hoher Wahrscheinlichkeit "sehenden Auges in den Tod" geschickt würde, so dass ihm zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke unter Überwindung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren wäre, kommt es im vorliegenden Fall nicht an. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG ist richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass nicht die Fälle erfasst werden, in denen die Voraussetzung für die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c) QRL bzw. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erfüllt sind. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist nur zu prüfen, ob der Betroffene gern. § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 8 QRL internen Schutz finden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 -, a.a.O.). Daran fehlt es hier.

Unter den geschilderten Bedingungen kann von einem Betroffenen vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass er in einem Landesteil Zuflucht sucht, in dem er zwar nicht wie in seiner Heimatprovinz von der Bestrafung und/oder Zwangsrekrutierung durch die Taliban bedroht, dafür aber seine wirtschaftliche Existenz nicht gesichert wäre. Insbesondere sind die Verhältnisse in Kabul als wohl einzigem in Frage kommenden Ort möglichen internen Schutzes nicht so gestaltet, dass ein aus ländlicher Umgebung stammender, ungelernter und seit fünf Jahren in Deutschland lebender alleinstehender Afghane, der wie der Kläger in anderen Gebieten und insbesondere in Kabul nicht über ein familiäres oder soziales Netzwerk oder über Ortskenntnisse verfügt, auch unter Berücksichtigung der allgemeinen Gegebenheiten in Afghanistan ein relativ normales Leben führen könnte. Der Kläger hätte unter Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse auch als Arbeitsfähiger keine realen Möglichkeiten, wirtschaftlich zu überleben (vgl. Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 1 Rn. 187, 191). [...]