VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 21.04.2009 - 3 K 1530/08.KS.A - asyl.net: M15729
https://www.asyl.net/rsdb/M15729
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung einer afghanischen Frau wegen Gefahr des "Ehrenmordes", die sich der Zwangsheirat durch Flucht zusammen mit ihrem Partner entzogen hat, mit dem sie seitdem in nichtehelicher Lebensgemeinschaft zusammenlebt und von dem sie ein Kind empfangen hat; keine Flüchtlingsanerkennung des männlichen Partners, aber Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 7 AufenthG wegen drohender "Todesstrafe" wegen Übertretung der islamischen Moralgesetze oder drohender Inhaftierung wegen "Entführung" seiner Partnerin; in Kabul und der Provinz Herat herrscht kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt gem. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG.

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, soziale Gruppe, Familienehre, Zwangsheirat, außerehelicher Geschlechtsverkehr, nichteheliches Kind, Glaubwürdigkeit, Ehrenmord, Schutzbereitschaft, interner Schutz, Männer, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, Kabul, Herat, Sicherheitslage, Taliban, Islamisten, Todesstrafe, Hinrichtung, nichteheliche Lebensgemeinschaft
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

[...]

Der Klägerin zu 2. ist wegen der im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Verfolgung durch ihre Familienangehörigen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. [...]

Leben und körperliche Unversehrtheit der Klägerin zu 2. sind bei einer Rückkehr nach Afghanistan bedroht, weil sie sich dem Wunsch ihres Vaters nach Heirat eines von ihm bestimmten Ehekandidaten widersetzend mit dem Kläger zu 1. ins Ausland geflohen ist, dort unverheiratet mit ihm zusammen gelebt und dabei ein Kind von ihm empfangen hat. Die von ihrem Bevollmächtigten mit Schriftsatz vom 10.12.2008 detailliert vorgetragene und von den Klägern in ihrer informatorischen Anhörung vor Gericht wiederholte entsprechende Sachverhaltsdarstellung ist glaubhaft. Zwar haben sie bei ihrer Befragung zu ihrem Einreisebegehren durch die Bundespolizei am Frankfurter Flughafen und bei ihrer informatorischen Anhörung durch das Bundesamt hiervon abweichend erklärt, sie hätten in Afghanistan ohne Erlaubnis des Vaters der Klägerin zu 2. die Ehe geschlossen und seien deshalb von deren Familie verfolgt worden. Später haben sie zugegeben, dass sie bis heute nicht verheiratet sind, in Afghanistan nicht zusammen gelebt haben und auch von den Angehörigen der Klägerin zu 2. nicht mehrfach beschimpft, geschlagen und mit dem Tode bedroht wurden. Ihre falschen Angaben unmittelbar nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet waren ihrem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung zufolge durch die Angst bedingt, andernfalls hier getrennt zu werden; der Kläger zu 1. befürchtete zusätzlich, wegen Entführung der Klägerin zu 2. angeklagt zu werden. Zumindest die Befürchtung, für die Dauer des Asylverfahrens getrennt zu werden, wenn sie angegeben hätten, nicht miteinander verheiratet zu sein, war begründet. Es ist glaubhaft, dass ihnen eine solche Trennung unerträglich erscheinen musste, wobei auch ihre damalige Jugend und Unerfahrenheit sowie ihre Unkenntnis der westlichen Kultur und der deutschen Sprache eine Rolle gespielt haben mögen. Gegen die Glaubwürdigkeit der Kläger spricht auch nicht die Eintragung eines gemeinsamen Familiennamens und einer gemeinsamen Wohnanschrift in ihren Passanträgen vom 09.11.2007. Die Kläger haben in der mündlichen Verhandlung glaubhaft versichert, dass der anwesende Dolmetscher die Formulare ausgefüllt habe und sie die Anträge ohne Prüfung unterschrieben hätten. Dass die entsprechenden Einträge nicht von ihnen stammen, ist offensichtlich. Insbesondere können die linken Spalten der beiden Formblätter nicht von den Klägern ausgefüllt worden sein, denn sie beherrschen keine lateinischen Schriftzeichen.

Dass sich die Klägerin zu 2. dem Wunsch ihres Vaters widersetzt und einen Mann ihrer Wahl als Lebens- und zukünftigen Ehepartner gewählt hat, gilt in der islamischen Gesellschaft als schwere Verletzung der Familienehre, die zur Gewaltanwendung durch männliche Familienmitglieder bis hin zum "Ehrenmord" führen kann. Mädchen und Frauen aus der Region Herat, aus der die Klägerin zu 2. stammt, sind dabei aufgrund eines ausgeprägten traditionellen Verhaltenskodex besonders gefährdet (AA, Lagebericht vom 03.02.2009).

Die Gefahr körperlicher Misshandlung wegen Verletzung der Familienehre ist als geschlechtsspezifische Verfolgung zu werten, denn sie droht nur weiblichen Familienmitgliedern Schutz durch den afghanischen Staat kann die Klägerin zu 2. nicht erwarten. Gewaltanwendung gegen Frauen wegen Verletzung der Familienehre bleibt schon aufgrund des desolaten Zustands des Sicherheits- und Rechtssystems häufig ungeahndet. Der Versuch einer Anzeige endet unter Umständen mit der Inhaftierung der Frau, sei es aufgrund unsachgemäßer Anwendung von Beweisvorschriften oder zum Schutz vor der eigenen Familie. Viele Frauen sind sogar wegen sogenannter Sexualdelikte inhaftiert, weil sie sich beispielsweise einer Zwangsheirat durch Flucht zu entziehen versuchten oder ihnen vorgeworfen wurde, ein uneheliches Kind geboren zu haben. Mit effektivem Schutz durch internationale Organisationen könnte die Klägerin zu 2. nicht rechnen. Auch eine innerstaatliche Fluchtalternative bestünde nicht. Die Klägerin zu 2. müsste im Falle ihrer Rückkehr im gesamten Land mit einer Verfolgung durch ihre Angehörigen rechnen. Die von ihr begangene Verletzung der Familienehre wiegt aus deren Sicht so schwer, dass ihre Familie versuchen wird, ihrer überall habhaft zu werden.

Der Kläger zu 1. kann dagegen nicht verlangen, als Flüchtling anerkannt zu werden, denn die Gefahr, wegen der oben genannten Verletzung der Familienehre misshandelt oder getötet zu werden, droht in der traditionellen islamischen Gesellschaft nur den betreffenden weiblichen Familienmitgliedern. Für ihre männlichen Partner bestehen zwar ebenfalls Gefahren; diese knüpfen jedoch nicht an ihr Geschlecht, sondern an ihr ehrenrühriges Verhalten an und sind deshalb nicht als geschlechtsspezifische Verfolgung zu werten.

Der Kläger zu 1. hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines gegenüber den nationalen Abschiebungsverbot gemäß § 60 7 S. 1 AufenthG vorrangigen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 -, NVwZ 2008, 1246) europarechtlich determinierten Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970). [...]

Weder in ganz Afghanistan noch in der Hauptstadt Kabul, in der der Kläger zu 1. geboren wurde, oder in der Provinz Herat, in der er zuletzt gelebt und eine eigene Schneiderei betrieben hat, herrscht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Dieser Begriff ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts anhand der vier Genfer Konventionen von 1949 auszulegen, die durch Zusatzprotokolle ergänzt worden sind. Darunter fallen alle bewaffneten Konflikte, die im Hoheitsgebiet eines Staates zwischen dessen Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des staatlichen Hoheitsgebietes ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen, während innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen nicht als ein derartiger bewaffneter Konflikt gelten. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts nicht von vornherein aus. Er muss hierfür aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe. Von dem völkerrechtlichen Begriff des "bewaffneten Konflikts" sind nur Auseinandersetzungen von einer bestimmten Größenordnung an erfasst. Ob die Konfliktparteien einen so hohen Orga-nisationsgrad erreichen müssen, wie er für die Erfüllung der Verpflichtungen nach den Genfer Konventionen von 1949 und für den Einsatz des Internationalen Roten Kreuzes erforderlich ist, kann hier dahingestellt bleiben. Die Orientierung an den Kriterien des humanitären Völkerrechts findet jedenfalls dort ihre Grenze, wo ihr der Zweck der Schutzgewährung für in Drittstaaten Zuflucht Suchende widerspricht. Kriminelle Gewalt wird bei der Feststellung, ob ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, jedenfalls dann nicht berücksichtigt, wenn sie nicht von einer der Konfliktparteien begangen wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008, a.a.O. und Hess. VGH, Urteil vom 11.12.2008, 8 A 611/08.A).

Nach diesen Kriterien und den vorliegenden Erkenntnisquellen ist davon auszugehen, dass (noch) nicht das gesamte Land, sondern (bisher) nur der Süden und (Süd)Osten Afghanistans von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt erfasst ist. Zwar ist auch in westlichen Provinzen wie Herat eine Reinfiltration der Taliban bzw. Islamisten zu verzeichnen (AA, Lagebericht vom 03.02.2009). Auch dort kommt es wie in Kabul zu Anschlägen gegen Polizei und sonstige Sicherheitskräfte, bei denen Zivilisten zu den Opfern zählen (vgl. ai vom 17.01.2007 an Hess. VGH). Insgesamt ist die Sicherheitslage im Westen und Norden Afghanistans aber nach den vorliegenden Erkenntnisquellen noch nicht so angespannt wie im Süden und (Süd)Osten des Landes. In Kabul wird sie sogar vom Auswärtigen Amt noch nach wie vor als im regionalen Vergleich zufriedenstellend bezeichnet (AA, Lagebericht vom 03.02.2009).

Der Kläger zu 1. hat jedoch Anspruch auf Feststellung eines im Verhältnis zu § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG nachrangigen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Nach jüngsten Medienberichten (u.a. HNA vom 15.04.2009) ist in der Provinz Nimros ein junges Paar von einem Klerikalrat wegen Übertretung der islamischen Moralgesetze zum Tode verurteilt und von Talibankämpfer hingerichtet worden. Die Gefahr, wegen Übertretung der islamischen Moralgesetze getötet zu werden, droht auch dem Kläger zu 1.. Er hat gegen diese Gesetze verstoßen, in dem er gegen den Willen ihres Vaters mit der Klägerin zu 2. ins Ausland geflohen und dort "in wilder Ehe" zusammengelebt hat. Dass er deswegen in Gefahr geraten könnte, ist im Hinblick auf die zunehmende Islamisierung und Talibanisierung der afghanischen Gesellschaft hinreichend wahrscheinlich. Zumindest läuft er Gefahr, wegen Entführung der Klägerin zu 2. inhaftiert zu werden, wobei es für die Verwirklichung dieses Delikts nicht auf die Zustimmung der Frau, sondern nur auf den entgegenstehenden Willen ihres Vaters ankommt. [...]