VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 29.04.2009 - 4 A 676/07.A - asyl.net: M15737
https://www.asyl.net/rsdb/M15737
Leitsatz:

Es besteht weiterhin Verfolgungsgefahr für türkische Staatsangehörige, die sich im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation betätigt haben (hier: beachtliche Verfolgungsgefahr für bekannten kurdischen Sänger und Mitarbeiters des kurdischen Roten Halbmonds).

Schlagwörter: Türkei, Kurden, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Grenzkontrollen, Misshandlung, Folter, Menschenrechtslage, Verdacht der Unterstützung, PKK, Separatisten, Terrorismus, Reformen, politische Entwicklung, exilpolitische Betätigung, Haftbefehl, Musiker, Sänger, kurdischer Roter Halbmond
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die durch Beschluss vom 26. März 2007 zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung der Kläger zu 1) und 2) ist begründet, denn die Kläger haben einen Anspruch auf die von ihnen mit ihrer Klage verfolgte Asylanerkennung. [...]

Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Kläger im Jahr 1993 unverfolgt ausgereist sind. [...] Unter Berücksichtigung des danach anzulegenden Maßstabs droht dem Kläger zu 1. bei seiner Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung in der Gestalt, dass er im Rahmen der Einreisekontrolle mit einer Überstellung an die politische Abteilung der Polizei verbunden mit der Gefahr von Misshandlung und Folter rechnen muss.

Nach der Rechtsprechung der für die Asylverfahren türkischer Asylbewerber zuständigen Senate des Hess. VGH (vgl. etwa Urteil des 6. Senats vom 2. März 2005 - 6 UE 972/03.A - sowie Urteil des 4. Senats vom 17. Dezember 2007 - 4 UE 570/05.A -) muss ein als Asylbewerber identifizierter Rückkehrer bei der Einreise regelmäßig damit rechnen, dass er zunächst festgehalten und einer intensiven Überprüfung unterzogen wird. Dies gilt insbesondere, wenn gültige Reisedokumente nicht vorgewiesen werden können. In diesem Fall erfolgt regelmäßig eine genaue Personalienfeststellung (unter Umständen Kontaktaufnahme mit der Personenstandsbehörde und Abgleich mit dem Fahndungsregister) sowie eine Befragung nach Grund und Zeitpunkt der Ausreise aus der Türkei, Grund der Abschiebung, eventuellen Vorstrafen in Deutschland, Asylantragstellung und Kontakten zu illegalen türkischen Organisationen im In- und Ausland. Diese Einholung von Auskünften, während der der Rückkehrer meist in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache festgehalten wird, konnte in der Vergangenheit bis zu mehreren Tagen dauern. In jüngster Zeit sind dem Auswärtigen Amt allerdings Fälle, in denen eine Befragung bei Rückkehr länger als mehrere Stunden dauerte, nicht mehr bekannt geworden (Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 25. Oktober 2007, S. 37). Da den türkischen Behörden bekannt ist, dass viele türkische Staatsbürger aus wirtschaftlichen Gründen mit dem Mittel der Asylantragstellung versuchen, in Deutschland ein Aufenthaltsrecht zu erlangen, werden Verfolgungsmaßnahmen nicht allein deshalb durchgeführt, weil der Betroffene in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 27. Oktober 2007, S. 38). Besteht der Verdacht einer Straftat (z.B. Passvergehen, illegale Ausreise), werden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Wehrdienstflüchtige haben damit zu rechnen, festgenommen, gemustert und ggf. einberufen zu werden und zwar unter Umständen nach Durchführung eines Strafverfahrens (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 27. Oktober 2007, S. 37).

Werden Rückkehrer aber wegen konkreter Anhaltspunkte für die Begehung von politischen Straftaten, insbesondere durch Unterstützung der PKK, an die politische Abteilung der Polizei überstellt, ist eine andere Beurteilung geboten. Dass eine derartige Überstellung an die zuständigen Sicherheitsbehörden erfolgt, bestätigt das Auswärtige Amt auch noch in seinem Lagebericht vom 19. Mai 2004 (S. 44). Mit der Überstellung an die politische Polizei war bislang die reale Gefahr von Misshandlung und Folter verbunden (Auswärtiges Amt an VG Wiesbaden vom 02. Februar 1993, S. 2 sowie Lageberichte vom 7.Dezember 1995, S. 10 und vom 7. September 1999). Eine solche Aussage lässt sich den aktuelleren Lageberichten in dieser Ausdrücklichkeit zwar nicht mehr entnehmen. Das Auswärtige Amt bezieht - soweit ersichtlich - erstmals in dem Lagebericht vom 19. Mai 2004 Stellung dazu, dass bei abgeschobenen Personen die Gefahr einer Misshandlung bei Rückkehr in die Türkei "nur aufgrund von vor Ausreise nach Deutschland zurückliegender wirklicher oder vermeintlicher Straftaten auch angesichts der durchgeführten Reformen und der Erfahrungen der letzten Jahre in diesem Bereich äußerst unwahrscheinlich ist". Misshandlung und Folter allein aufgrund der Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, schließt das Auswärtige Amt sogar aus (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyi- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 25. Oktober 2007, S. 38). Die Frage, in welchen Fällen es zu Misshandlung und Folter im Gewahrsam der politischen Abteilung kommen kann, beantwortet das Auswärtige Amt in diesem Zusammenhang allerdings nicht. Auch wenn Folter und körperliche Misshandlung durch türkische Ermittlungsbehörden in den letzten Jahren zurückgegangen sind, so sind sie doch nicht außer Gebrauch geraten. Dies räumt sogar der Menschenrechtsausschuss des türkischen Parlaments ein, der zugleich auf die präventive Wirkung der Untersuchungen und Kontrollen, die die Mitglieder dieses Ausschusses in Haftanstalten und Polizeidienststellen durchführen, hinweist (Deutscher Bundestag, Bericht vom 16. Juni 2003 über die Delegationsreise des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe in den Iran und die Türkei vom 10. bis 16. Mai 2003, S. 14 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 21. Juni 2003, S. 25). Dementsprechend geht auch aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. September 2008 noch hervor, dass es in der Türkei nach wie vor Fälle von Folter und Misshandlung gibt und es der Regierung bislang nicht gelungen ist, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden (S. 25).

Der erkennende Senat hält die in einem neueren, ebenfalls in das vorliegende Verfahren eingeführten Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 17. April 2007 - 8 A 2771/06.A - getroffenen Feststellungen, die ähnlich auch von anderen Obergerichten (s. etwa OVG Niedersachsen vom 18. Juli 2006 - 11 LB 264/05 -) und zuvor vom OVG Nordrhein-Westfalen selbst in der schon mehrfach zitierten Grundsatzentscheidung vom 19. April 2005 getroffen worden sind, für zutreffend. Danach kommt es in der Türkei trotz der umfassenden Reformbemühungen der letzten Jahre, insbesondere der "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter, weiterhin zu Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Art und Intensität, vor allem im Vorfeld offizieller strafrechtlicher Ermittlungen. Folter als Mittel zur Herbeiführung eines Geständnisses oder einer belastenden Aussage gegen Dritte wird allerdings seltener als früher und vorwiegend mit anderen, weniger leicht nachweisbaren Methoden praktiziert. Zur Anwendung kommen nunmehr überwiegend Methoden, die möglichst nicht körperlich nachweisbar sind, wie etwa Schlafentzug, Hinderung am Toilettengang, Verweigerung von Essen und Trinken sowie Demütigungen bis hin zu Todesdrohungen und Scheinhinrichtungen. Die Häufigkeit physischer Misshandlungen in förmlicher Polizeihaft nimmt ab; sie finden eher in Polizeiwagen und bei Durchsuchungen Anwendung. Die aktuellen Entwicklungen in der Türkei geben keinen Anlass, von dieser Bewertung abzurücken. Türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, laufen auch nach aktueller Auskunftslage Gefahr, dass sich die türkischen Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen, wenn sie in die Türkei einreisen. Ziel strafrechtlicher Verfolgung sind insbesondere solche Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten oder als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden. Die Gefahr, im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen Opfer von Folter zu werden, ist aufgrund der zahlreichen Gesetzesänderungen im Zuge der "Null-Toleranz-Politik" gegen Folter, insbesondere durch die Abschaffung der so genannten Incommunicado-Haft und die gesetzlich vorgeschriebenen ärztlichen Untersuchungen inhaftierter Personen auf etwaige Folterspuren, zwar deutlich gesunken, gleichwohl stellen Übergriffe dieser Art nach Auffassung aller Beobachter weiterhin ein von der Türkei nicht in befriedigender Weise bewältigtes Problem dar. Die Gefahr, im Justizvollzug Opfer von Misshandlungen durch Sicherheitskräfte zu werden, wird dagegen als eher unwahrscheinlich eingeschätzt, Misshandlungen außerhalb regulärer Haft finden aber nach wie vor statt. Seit dem erneuten Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen in Südostanatolien und den der PKK zugerechneten Attentaten in Touristenzentren im Jahr 2006 ist sogar wieder ein Anstieg der Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen. Änderungen des Antiterrorgesetzes, die als Reaktion auf die aktuelle Entwicklung im Südosten der Türkei zu werten sind, geben in diesem Zusammenhang nach Auffassung der EG-Kommission Anlass zur Besorgnis, weil sie geeignet sind, die Bemühungen um die Bekämpfung von Folter und Misshandlung zu untergraben. Eine Hauptursache für das Fortbestehen von Folter und Misshandlung wird darin gesehen, dass die Strafverfolgung von Foltertätern immer noch unbefriedigend ist. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass der erforderliche Mentalitätswandel die meist kemalistisch-etatistisch orientierten Staatsanwaltschaften und Gerichte, nach Einschätzung auch des Auswärtigen Amtes bisher noch nicht vollständig erfasst hat. Bemängelt wird ferner die unzureichende Unabhängigkeit der Justiz.

Für die Beurteilung der Rückkehrgefährdung sind in Bezug auf den Kläger zu 1. mehrere individuelle Gesichtspunkte maßgeblich, die möglicherweise zwar nicht jeder für sich, aber jedenfalls in ihrem Zusammentreffen in der Person des Klägers zu 1. eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für die Gefahr von Folterungen und Misshandlungen durch die politische Abteilung der Polizei voraussichtlich bereits bei der Einreiseüberprüfung begründen. Ein Grund für das Interesse der türkischen Sicherheitskräfte an der Person des Klägers zu 1. verbunden mit der Gefahr der Überstellung an die politische Abteilung der Polizei liegt einmal darin, dass bezüglich des Klägers zu 1) ein Festnahmebefehl der Republikanischen Oberstaatsanwaltschaft Idil existiert, an dessen Gültigkeit auch im Hinblick auf die vom Auswärtigen Amt bescheinigte Echtheit der Anklageschrift vom 16. Dezember 2003 keine Zweifel bestehen. Auch wenn man zu Lasten des Klägers davon ausgeht, dass eine ihm drohende Bestrafung wegen Verstoßes gegen Art. 301 des Türkischen Strafgesetzbuches asylrechtlich ohne Belang ist, besteht doch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger zu 1) als bekannter Sänger, der regelmäßig im kurdischsprachigen Fernsehen auftritt, den türkischen Sicherheitsbehörden als militanter Gegner des türkischen Staates aufgefallen ist, der über zahlreiche Kontakte zu kurdischen Vereinen in der Bundesrepublik Deutschland verfügt. Hierfür sprechen auch die glaubhaften Bekundungen des Zeugen ..., der widerspruchsfrei und detailliert dargelegt hat, dass er im Rahmen einer Überprüfung bei einer Reise in seinen Heimatort von türkischen Sicherheitskräften u.a. nach dem Kläger zu 1) intensiv befragt worden sei, wobei deutlich geworden sei, dass der befragende Offizier seinerseits bereits zuvor weitreichende Kenntnisse, über den Kläger und dessen politisch engagierte Lieder besessen habe. Es kommt hinzu, dass der Kläger als Verantwortlicher des kurdischen Roten Halbmonds für Gießen und Umgebung Gelder sammelt, die u.a. an die Bewohner der Lagers Maxmur weitergeleitet werden. Auch insoweit können die türkischen Sicherheitskräfte bei dem Kläger genaue Kenntnisse über Organisationsstrukturen PKK-naher Vereinigungen in der Bundesrepublik Deutschland erwarten. Somit treffen in der Person des Klägers zu 1) mehrere Umstände zusammen, die insgesamt ein besonderes Interesse der türkischen Sicherheitskräfte und zuvor bereits der politischen Abteilung der Polizei bei der Einreise des Klägers wecken werden, so dass eine intensive Befragung des Klägers mit der beachtlich wahrscheinlichen Gefahr der Anwendung von Foltermaßnahmen bzw. schwerer Misshandlung anzunehmen ist, die ihren Grund in der politischen Einstellung des Klägers betreffend der Situation der Kurden in der Türkei finden.

Für den Kläger zu 1. sind auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen, da diese in dem hier maßgeblichen Umfang mit denen des Art. 16a GG übereinstimmen (vgl. BVerwG, 18.1.1995 - 9 C 48.92 -, NVwZ 1994, 497, dazu Anmerkung Renner, ZAR 1994, 85). [...]