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Zitieren als:
, Beschluss vom 13.05.2009 - 2 Wx 44/09 - asyl.net: M15742
https://www.asyl.net/rsdb/M15742
Leitsatz:

Das Amtsgericht hat auf einen Antrag auf Haftaufhebung gem. § 10 FEVG auch darüber zu entscheiden, ob die bisherige Haft rechtswidrig war (Änderung der Rechtsprechung des Senats); das gilt jedenfalls dann, wenn die Beschwerdefrist der Haftanordnung noch nicht abgelaufen ist.

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, Aufhebungsantrag, Feststellungsantrag, Rechtsschutzinteresse, Feststellungsinteresse, Fortsetzungsfeststellungsantrag, Rehabilitierungsinteresse, Rechtskraftwirkung, Beschwerde, Beschwerdefrist, Zuständigkeit, instantielle Zuständigkeit, Amtsgericht, Anhörung, Ehegatte, Dolmetscher
Normen: AufenthG § 62 Abs. 2; FEVG § 10; GG Art. 19 Abs. 4; FEVG § 5 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Die gegen die Zurückweisung der Beschwerde durch den Beschluss vom 7. April 2009 am 17. April 2009 eingelegte sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen ist zulässig und begründet. [...]

Das Landgericht hat zur Begründung der Entscheidung ausgeführt, für einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit bestehe nur dann ein Rechtsschutzbedürfnis, wenn anders - insbesondere wegen zwischenzeitlich eingetretener Erledigung - keine Entscheidung möglich sei; soweit im Beschwerdeverfahren noch über die Aufhebung der Haftanordnung entschieden werde, sei ein daneben gestellter Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Haftanordnung - etwa wegen in der Zwischenzeit geheilter Verfahrensfehler - ebenfalls unstatthaft. Dieser Begründung kann unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung nicht zugestimmt werden. Nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung hat der Betroffene einen Anspruch darauf, dass nicht nur eine künftige unrechtmäßige Freiheitsentziehung vermieden, sondern auch die Rechtmäßigkeit der bereits durchgeführten Freiheitsentziehung überprüft wird (BayObLG FG Prax02, 281, zitiert nach juris).

Allgemein anerkannt ist, dass gemäß Art. 19 Abs. 4 GG ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels fortbestehen kann, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist. Dies kann insbesondere bei einem Rehabilitierungsinteresse des Betroffenen der Fall sein. Ein solches Fortsetzungsfeststellungsinteresse kommt insbesondere bei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in Betracht und ist für den Fall einer Erledigung durch Entlassung aus der (vollzogenen) Abschiebungshaft ausdrücklich zu bejahen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG NJW 02, 2456, zitiert nach juris) ist mit der Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung, die schwerwiegend in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG eingreife, die notwendig an das zurechenbare Verhalten des Ausländers anknüpfende Feststellung verbunden, der Betroffene werde ohne die Inhaftierung seine Abschiebung wesentlich erschweren oder vereiteln oder er werde versuchen, unterzutauchen, implizit beinhalte eine richterliche Haftanordnung damit den Vorhalt, der betroffene Ausländer habe sich in einer Weise gesetzwidrig verhalten - oder drohe sich so zu verhalten -, die seine Inhaftierung rechtfertige; die Haftanordnung sei damit auch geeignet, das Ansehen des Betroffenen in der Öffentlichkeit herabzusetzen; die Gewährung von Rechtsschutz könne im Hinblick auf das bei Freiheitsentziehungen bestehende Rehabilitierungsinteresse weder vom konkreten Ablauf des Verfahrens und dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme noch davon abhängen, ob in Abschiebungshaftfällen Rechtsschutz typischerweise noch vor Beendigung der Haft erlangt werden könne. Im Hinblick darauf ist im Beschwerdeverfahren über einen ausdrücklichen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit auch neben einer Aufhebung der Haftanordnung zu entscheiden (vg). BayObLG FGPrax 02, 281 für eine Unterbringungsmaßnahme; OLG Celle, Beschluss v. 9. Oktober 2008, 22 W 45/08,bei Melchior, Abschiebungshaft, Anhang). Soweit der Senat in einer früheren Entscheidung (Beschluss vom 23. Juli 2008, 2 Wx 55/08 und 2 Wx 71/08) den Standpunkt vertreten hat, dem Interesse des Betroffenen werde genügt, wenn im Beschwerdeverfahren - vor Erledigung der amtsgerichtlichen Haftanordnung - in der Sache über die Aufrechterhaltung einer noch fortbestehenden freiheitsentziehenden Maßnahme entschieden wird, hält er daran nicht fest.

Allerdings kann bei einer Ausweitung des Verfahrensgegenstandes auf die Frage der Rechtmäßigkeit der Haftanordnung für zurückliegende Zeiträume die formelle Rechtskraft des Beschlusses entgegenstehen. Während das OLG München (FGPrax 05, 276, zitiert nach juris) entschieden hat, dass nicht in vorangegangene und durch Zeitablauf überholte Haftentscheidungen eingegriffen werden kann, und das Kammergericht (Beschluss vom 29. August 2008, 1 W 251/08, zitiert nach juris) in dem Fall, dass ein Haftaufhebungsantrag erst nach Ablauf der Frist für die sofortige Beschwerde gegen den die Haft anordnenden Beschluss gestellt worden ist, es für nahe liegend hält, eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit jedenfalls für die Zeit nach Stellung eines Aufhebungsantrags als zulässig anzusehen, sah das OLG Düsseldorf ( Beschluss vom 24. Juli 2002, bei Melchior, Abschiebungshaft, Anhang) das Gericht im Rahmen eines Aufhebungsantrags während andauernder Abschiebungshaft demgegenüber ohne weitere Prüfung für befugt an, die aktuell zugrundeliegende Haftanordnung nach Erledigung aufzuheben und die vollzogene Abschiebungshaft für von Anfang an rechtswidrig zu erklären. Welcher dieser Auffassungen zu folgen ist, kann im vorliegenden Fall dahin gestellt bleiben. Denn der Betroffene hat seinen Antrag, den Haftbeschluss aufzuheben und die Rechtswidrigkeit der auf dem Beschluss beruhenden Freiheitsentziehung festzustellen noch während der zweiwöchigen Beschwerdefrist gegen den Beschluss des Amtsgerichts gestellt. Hätte er statt des ausdrücklich auf § 10 FEVG gestützten Antrags sofortige Beschwerde eingelegt, wäre nach den obigen Ausführungen der Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der bisherigen Freiheitsentziehung kumulativ neben dem Antrag auf Haftaufhebung zulässig gewesen. Da die formelle Rechtskraft der ursprünglichen Haftanordnung noch nicht eingetreten war und somit einer Überprüfung nicht entgegen stand, ist ihm auch im Falle eines Aufhebungsantrags nach § 10 FEVG effektiver Rechtsschutz zur gleichzeitigen Überprüfung der Rechtmäßigkeit der vollzogenen Freiheitsentziehung zu gewährleisten.

Zweifelhaft könnte sein, ob bereits das Amtsgericht zuständig war, auf den Feststellungsantrag die Rechtmäßigkeit der eigenen Haftanordnung zu überprüfen. Da das Gesetz mit der Vorschrift des § 10 FEVG - abweichend von der Regelung des § 18 Abs. 2 FGG - eine Überprüfung der der sofortigen Beschwerde unterliegenden Entscheidung in der Eingangsinstanz ermöglicht, erscheint es aus Gründen der Verfahrensökonomie zweckmäßig, wenn das Amtsgericht gleichzeitig mit der Entscheidung über die Haftaufhebung auch über einen Feststellungsantrag zu befinden hat, sofern dieser - wie hier - ausdrücklich gestellt worden ist. Ist man anderer Auffassung wäre in dem Feststellungsantrag eine insoweit eingeschränkte sofortige Beschwerde gegen den ursprünglichen Beschluss zu sehen. Auch in diesem Fall wäre das Landgericht aufgerufen gewesen, über den Feststellungsantrag in der Sache zu entscheiden.

In der Sache war dem Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der auf dem Beschluss vom 2. Februar 2009 beruhenden Freiheitsentziehung stattzugeben. Die Anordnung erfolgte, ohne die in § 5 Abs. 3 FEVG vorgeschriebene vorherige Anordnung des nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten und war daher verfahrensfehlerbehaftet. Zwar war es zur Festnahme des Betroffenen aufgrund einer Anzeige der Ehefrau gekommen, was den Schluss auf erhebliche eheliche Konflikte und auch auf eine Trennung naheliegend erscheinen lässt, ein dauerndes Getrenntleben der Eheleute war aber nicht festgestellt worden. Die Voraussetzungen, unter denen nach der Vorschrift die vorherige Anhörung des Ehegatten unterbleiben kann, dass die Anhörung nicht ohne erhebliche Verzögerung und nicht ohne erhebliche Kosten möglich ist, waren ebenfalls nicht gegeben. Die durch die erforderliche Zuziehung eines Dolmetschers entstehenden Kosten können nicht als erheblich im Sinne der Vorschrift gewertet werden. [...]

Die Anhörung der Ehefrau war auch nicht etwa entbehrlich, weil von ihr eine Sachaufklärung zu maßgeblichen Fragen nicht zu erwarten war. Abgesehen davon, dass in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertreten wird, dass § 5 Abs. 3 FEVG auf die Erheblichkeit von Angaben des Ehegatten nicht abstellt. (vgl. OLG Celle InfAuslR 05, 423; OLG München , Beschluss v. 18.09.2006, 34 Wx 113/06, zitiert nach juris), kam es hier für die Feststellung des Haftgrundes nach § 62 Abs. 2 AufenthG auf die Art und Intensität der familiären Bindungen an, unabhängig davon, ob nur der Haftgrund nach Abs. 2 Satz 1 Ziff. 5 (Sicherung der Abschiebung wegen des begründeten Verdachts, dass der Betroffene sich der Abschiebung entziehen will) oder auch der - seitens des Amtsgerichts im Aufhebungsbeschluss offen gelassene nach Abs. 2 Satz 1 Ziff. 1 (Sicherung der Abschiebung bei vollziehbarer Ausreisepflicht wegen unerlaubter Einreise) einschlägig war, denn bei letzterem ist nach Satz 3 bei Glaubhaftmachung durch den Betroffenen, dass er sich der Abschiebung nicht entziehen will, von der Haft abzusehen. Auch wenn der Umstand, dass die Ehefrau durch ihre Anzeige die Inhaftierung des Betroffenen verursacht hatte, nach der Lebenserfahrung die Schlussfolgerung nahe legte, dass familiäre Bindungen, die einem Untertauchen entgegenstehen würden, nicht gegeben waren, waren Erkenntnisse in Bezug auf die Haftgründe oder die Verhältnismäßigkeit der Haft möglich. Nach allgemeiner Meinung soll die Regelung des § 5 Abs. 3 FEVG einen Mindeststandard der nach § 12 FGG gebotenen Sachaufklärung sicherstellen und gehört zu den Vorschriften, ohne deren Beachtung eine Freiheitsentziehung nicht zulässig ist (OLG Düsseldorf, Beschluss v. 03.06.96, 3 Wx 191/96,zitiert nach juris; OLG München a.a.O.; OLG Celle a.a.O.). [...]