Die Streichung von armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan und ihrer Familienangehörigen aus den Melderegistern stellt eine faktische Ausbürgerung dar, die an die armenische Volkszugehörigkeit anknüpft und daher als Verfolgung zu werten ist; keine interne Fluchtalternative in Berg-Karabach für fünfköpfige Familie ohne Beziehungen in Berg-Karabach.
Die Streichung von armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan und ihrer Familienangehöriger aus den Melderegistern stellt eine faktische Ausbürgerung dar, die an die armenische Volkszugehörigkeit anknüpft und daher als Verfolgung zu werten ist; keine interne Fluchtalternative in Berg-Karabach für fünfköpfige Familie ohne Beziehungen in Berg-Karabach.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Der Bescheid des Bundesamtes vom 27. Oktober 2006 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO), soweit ihnen die begehrte Feststellung nach § 60 Abs. 1 AufenthG und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft versagt worden ist. [...]
Bei der Prüfung den Klägern drohender Verfolgungsmaßnahmen war vorliegend allein auf Aserbeidschan abzustellen und nicht etwa auf die Russische Föderation, wo sich die Kläger vor der Einreise in das Bundesgebiet aufgehalten haben. Dem steht nicht entgegen, dass die Kläger - wie noch auszuführen sein wird - nicht bzw. nicht mehr im Besitz der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit sind. Zwar ist bei Asylsuchenden ohne bzw. mit ungeklärter Staatsangehörigkeit die Frage einer politischen Verfolgung grundsätzlich nach den Verhältnissen in dem Land zu beurteilen, in dem sie vor der Einreise ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten (§ 3 AsylVfG) (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 08. Februar 2005 - 1 C 29.03 -, BVerwGE 122, 376 (383)).
Als Land des gewöhnlichen Aufenthalts kommt jedoch nur ein Staat in Betracht, in dem der Asylsuchende sich mit Billigung der staatlichen Behörden aufgehalten hat. Von einer Billigung des Aufenthalts der Kläger durch die russischen Behörden kann jedoch nicht ausgegangen werden. [...]
Es kann offen bleiben, ob - wofür vieles spricht - die Kläger zu 1) und 2) aufgrund der kurz vor der Ausreise aus Aserbaidschan erlittenen Repressalien (Niederbrennen des Hauses, Schläge durch Aserbaidschaner) bereits als vorverfolgt angesehen werden müssen, da sämtlichen Klägern im Falle einer Rückkehr nach Aserbaidschan jedenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht.
Es ist davon auszugehen, dass die Kläger wegen der armenischen Volkszugehörigkeit des Klägers zu 1) bzw. - bezüglich der Klägerin zu 2) bis 4) - wegen ihrer familiären Verbundenheit mit einem armenischen Volkszugehörigen trotz ihrer aserbaidschanischen Herkunft nicht als aserbaidschanische Staatsangehörige anerkannt werden und ihnen die Wiedereinreise verwehrt wird.
Eine Entziehung - bzw. Verweigerung der Zuerkennung - der Staatsangehörigkeit und eine staatliche Verweigerung der Wiedereinreise erscheint jedenfalls überwiegend wahrscheinlich. Dies ist nach den in Aserbaidschan herrschenden Gesamtumständen als Akt politischer Verfolgung zu werten.
Nach den dem Gericht vorliegenden Auskünften ist es Praxis der Behörden in Aserbaidschan, Personen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Staatsangehörigkeitsrechts am 01. Januar 1998 im Ausland lebten, aus den Melderegistern zu streichen (Lageberichte (Aserbeidschan des Auswärtigen Amtes vom 17. Juni 2008, S. 20 und vom 07. Mai 2007, S. 19).
Die Streichung führt dabei aber nach der aserbaidschanischen behördlichen Praxis nicht zwingend zum Verlust der Staatsangehörigkeit, da die zahlreichen im Ausland (Russland) lebenden Aseris weiterhin als Staatsangehörige angesehen werden und von den Konsulaten im Ausland auch aserbaidschanische Pässe erhalten und den konsularischen Schutz in Anspruch nehmen können. Dagegen wird die Streichung mutmaßlich armenischer Volkszugehöriger im Melderegister, insbesonderer nach dem 01. Oktober 1998, wie ein Verlusttatbestand bezüglich der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit gehandhabt (Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 17. Juni 2008 und vom 07. Mai 2007, a.a.O.).
Nach Auffassung der Gutachterin Dr. Savvidis (vgl. Gutachten vom 14. Dezember 2005 an das OVG Mecklenburg-Vorpommern, S. 6) ist das Staatsbürgerschaftsgesetz 1998 so formuliert, dass vor allem die armenischen Volkszugehörigen, die in der Hauptfluchtwelle von 1988 bis 1994 Aserbaidschan verlassen hätten, keine Chance hätten, die Staatsangehörigkeit zu erwerben. Es handele sich de facto um eine Ausbürgerung auf kaltem Wege. Eine Rücknahme dieser dadurch staatenlosen armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan lehne der Staat Aserbaidschan ab. Er verweigere armenischen Volkszugehörigen ausnahmslos die Wiedereinreise.
Zum gleichen Ergebnis gelangt auch das Transkaukasus-Institut (vgl. Gutachten vom 16. April 2005 an das OVG Mecklenburg-Vorpommern, S. 3).
Angesichts einer derartigen Rechtspraxis der aserbaidschanischen Behörden hält es das Gericht für überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger zu 1), obwohl er in Aserbeidschan geboren ist und vor seiner Ausreise im Jahre 1988 im Besitz der Staatsangehörigkeit der sowjetischen Teilrepubiik Aserbeidschan war, aufgrund seines seit 1988 andauernden Auslandsaufhalts wegen seiner armenischen Volkszugehörigkeit im Melderegister gelöscht worden ist und vom aserbaidschanischen Staat nicht als eigener Staatsangehöriger angesehen bzw. ihm die Wiedereinreise verweigert wird.
Im Hinblick auf die abweichende Praxis gegenüber aserischen Volkszugehörigen stellt sich diese Vorgehensweise als eine an die armenische Volkszugehörigkeit anknüpfende politische Verfolgung dar (vgl. auch OVG Thüringen, Urteil vom 28. Februar 2008, a.a.O.; ebenso VG Ansbach, Urteil vom 30. April 2008 - AN 15 K 07.30739 -, Juris; VG Meiningen, Urteil vom 01. Juli 2008 - 2 K 20022/08 -). [...]
Eine inländische Fluchtalternative in der Region von Berg-Karabach besteht für die Kläger im Falle ihrer Rückkehr nach Aserbaidschan nicht. Das Gericht geht davon aus, dass den Klägern - die Erreichbarkeit Berg-Karabachs unterstellt - dort Gefahren bzw. Nachteile drohen, die zum Ausschluss dieses Gebietes als inländische Fluchtalternative führen.
Nach bisheriger höchstrichterlicher Rechtsprechung darf der Zufluchtsuchende in einem verfolgungsfreien Gebiet nicht durch andere Nachteile und Gefahren, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, in eine für ihn ausweglose Lage geraten, soweit diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort nicht ebenfalls besteht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989, a.a.O., Rdn. 66).
Die letztgenannte Einschränkung kann angesichts der nunmehrigen Regelung durch Art. 8 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie nicht mehr aufrechterhalten werden. Nach dieser Vorschrift sind bei der Prüfung des internen Schutzes in einem Teil des Herkunftslandes die dortigen allgemeinen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Damit scheidet eine alternative Betrachtung der Situation im Rest des Heimatlandes aus (vgl. nunmehr auch BVerwG, Urteil vom 29. Mai 2008 - 10 C 11/07 -, Juris Rdn. 31).
Nach Art. 8 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie kommt ein interner Schutz in Betracht, wenn in diesem Teil des Herkunftslandes weder eine begründete Furcht vor politischer Verfolgung noch die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden besteht, und deshalb von dem Betreffenden vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält.
Ob der Klägerin zu 2) als - nach ihrem Vater - aserbaidschanischer Volkszugehöriger in der Region von Berg-Karabach bereits politische Verfolgungsmaßnahmen durch die dortigen Selbstverwaltungsorgane oder die dort ansässige Bevölkerung drohen, kann offenbleiben.
In der Region von Berg-Karabach droht den Klägern jedenfalls die tatsächliche Gefahr, einen sonstigen ernsthaften Schaden zu erleiden. Das Gericht ist davon überzeugt, dass sie dort wirtschaftlich nicht existieren können. Soweit das OVG NRW (vgl. Urteil vom 17. November 2008 - 11 A 4395/04.A -) unter Berufung auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15. Januar 2008 an das VG Düsseldorf davon ausgeht, dass die wirtschaftliche Lage in Berg-Karabach besser einzuschätzen sei als in Armenien und in Berg-Karabach Arbeitskräftemangel herrsche, so dass grundsätzlich arbeitsfähige Asylbewerber nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten eine Beschäftigung erlangen und ihr Existenzminimum sicherstellen könnten, vermag das erkennende Gericht hieraus nicht abzuleiten, dass auch den Klägern des vorliegenden Verfahrens in Berg-Karabach die Schaffung einer ausreichenden Existenzgrundlage gelingen könnte.
Wirtschaft und soziale Absicherung in Berg-Karabach sind im Wesentlichen durch landwirtschaftliche Subsistenzwirtschaft in Familienbetrieben geprägt (vgl. Transkaukasus-Institut vom 16. April 2005, a.a.O., S. 14).
Gewerbe, Handel und Dienstleistungen haben demgegenüber nur eine sehr geringe Bedeutung. Außerhalb der Landwirtschaft gibt es fast ausschließlich Klein- und Kleinstunternehmen, Arbeitsplätze für Außenstehende ohne enge Beziehungen stehen weder in der Landwirtschaft noch in Handel und Gewerbe zur Verfügung. Der Erwerb einer landwirtschaftlichen Immobilie oder eines kleinen Handwerksbetriebes ist für Außenstehende hingegen prinzipiell möglich. Jedoch wäre hierfür ein Betrag von jeweils etwa 6.000,- Euro aufzuwenden (Vgl. Transkaukasus-Institut vom 16. April 2005, a.a.O., S. 14 und 16).
Im Übrigen fördert Berg-Karabach zwar die Zuwanderung. Die Nachfrage übersteigt jedoch die Möglichkeiten bei weitem; gefördert werden deshalb nur kinderreiche Familien mit mindestens fünf Kindern. Eine Zuwanderung in die nur rudimentären Sozialsysteme ist nicht möglich, dazu ist Berg-Karabach weder willens noch in der Lage (vgl. Gutachten des Transkaukasus Instituts vom 18. Oktober 2005 an das OVG Mecklenburg-Vorpommern).
Dr. Savvidis führt in ihrem Gutachten vom 11. November 2004 darüber hinaus zur Existenzgrundlage in Berg-Karabach für aus Aserbeidschan stammende Armenier aus: "Allerdings verstehen wir nicht, wieso Personen, die niemals in Berg-Karabach gelebt haben, hierherkommen und leben sollen oder wollen. Hier besteht fortgesetzt die Gefahr des Krieges. Die Wirtschaft ist zerstört und liegt darnieder, es läuft gar nichts. Die Leute, die man zu uns zu schicken beabsichtigt, haben früher in Städten gelebt. Nun schicken wir sie in noch nicht wieder hergestellte ländliche Gebiete ohne staatliche Unterstützung. Man fragt sich: Wie sollen sie dort existieren? - Die Republik Berg-Karabach besitzt die Pflicht, in erster Linie die eigenen von hier stammenden Flüchtlinge zurück nach Hause zu holen und zu reintegrieren."
Vor dem Hintergrund dieser Auskunftslage vermag das Gericht nicht davon auszugehen, dass die Kläger sich bei einer Einreise nach Berg-Karabach eine ausreichende wirtschaftliche Existenzgrundlage aufbauen könnten. Wie sich aus Art. 8 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie ergibt, sind bei Beantwortung der Frage der Sicherung der Existenzgrundlage zusätzlich die persönlichen Umstände der Kläger zu berücksichtigen. Da es sich um eine Familie mit drei Kindern handelt, wäre die Familie auf eine alleinige Erwerbstätigkeit des Klägers zu 1) angewiesen, da die Klägerin zu 2) mit der Beaufsichtigung der Kinder befasst wäre. Der Kläger zu 1) hat indes nach dem Schulabschluss keinen Beruf erlernt und während seines Aufenthalts in Russland lediglich Gelegenheitsarbeiten u.a. als Heizer und auf dem Bau ausgeübt. Da er in Berg-Karabach über keinerlei persönliche Beziehungen und auch nicht über berufliche Erfahrungen in der Landwirtschaft verfügt, dürfte es ihm kaum möglich sein, eine Beschäftigung zu finden, mit der er eine fünfköpfige Familie ernähren könnte.
Der Erwerb einer selbständigen Landwirtschaft (oder auch eines selbständigen Handwerksbetriebs) wäre den Klägern schon angesichts ihrer Mittellosigkeit nicht möglich und angesichts der fehlenden fachlichen Kenntnisse des Klägers zu 1) auch nicht zur Existenzsicherung der Familie geeignet.
Schließlich kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Kläger Unterstützung aus den Zuwanderungsprogrammen der Republik Berg-Karabach erhalten würden, da nach der oben geschilderten Auskunftslage nur kinderreiche Familien mit mindestens fünf Kindern gefördert werden. [...]