VG Saarland

Merkliste
Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 13.05.2009 - 6 K 742/08 - asyl.net: M15827
https://www.asyl.net/rsdb/M15827
Leitsatz:

Hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen der Weigerung, das Dorfschützeramt zu übernehmen.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Dorfschützer, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Verdacht der Unterstützung, Separatisten, PKK
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen der Weigerung, das Dorfschützeramt zu übernehmen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Klage ist unbegründet. [...]

Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG für den Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. waren zum gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gegeben. [...]

Zwar ist der Kläger nach den Feststellungen in dem erwähnten Urteil des Verwaltungsgerichts vorverfolgt ausgereist. Ist die Anerkennung erfolgt, weil der Ausländer in seinem Herkunftsland Verfolgung erlitten hat oder als ihm bevorstehend befürchten musste, so können die Anerkennungsvoraussetzungen nur dann als entfallen angesehen werden, wenn der Betroffene vor künftiger Verfolgung hinreichend sicher ist (vgl. hierzu BVerwG, Urteile vom 24.11.1992 - 9 C 3.92 -; vom 01.11.2005 - 1 C 21.04 - und vom 18. Juli 2006 - 1 C 15.05 -, zitiert nach Juris). [...]

Eine solche hinreichende Sicherheit vor künftiger Verfolgung ist indes im Falle des Klägers nach der Überzeugung des Gerichts gegeben. Der Kläger hat wegen seiner Weigerung, Dorfschützer zu werden, heute keine politische Verfolgung mehr zu vergegenwärtigen. Insoweit haben sich die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse in der Türkei seit dem Erlass des nunmehr aufgehobenen Bescheides maßgeblich zu Gunsten des Klägers geändert (vgl. bereits das Urteil der Kammer vom 22.02.2007 - 6 K 90.06.A -).

Allerdings müssen nach der Rechtsprechung der Kammer Personen, die den türkischen Behörden als Sympathisanten bzw. Unterstützer linksorientierter oder separatistischer Organisationen bekannt geworden bzw. in einen entsprechenden ernsthaften Verdacht geraten sind, im Rahmen von polizeilichen Ermittlungen in der Türkei mit der Anwendung von Folterpraktiken rechnen, die darauf abzielen, sie wegen ihrer politischen Überzeugung zu treffen und die dem türkischen Staat auch zurechenbar sind (vgl. etwa das Urteil der Kammer vom 14.01.2009 - 6 K 437/08 -).

Ein individualisierter, d.h. konkret auf die Person des Klägers bezogener Verdacht der PKK-Unterstützung auf Seiten der türkischen Sicherheitskräfte liegt jedoch nach der Überzeugung des Gerichts nicht vor. Insoweit ist zunächst maßgeblich, dass der Kläger selbst nie behauptet hat, die PKK unterstützt zu haben. Allein deshalb, weil ihm vor seiner Ausreise im Jahr 1995 wegen der Ablehnung des ihm angetragenen Dorfschützeramtes - wie vielen anderen auch - pauschal unterstellt wurde, die PKK zu unterstützen, muss der Kläger heute nicht mehr befürchten, im Falle einer Rückkehr als "Separatist" behandelt und deshalb Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. Von Bedeutung ist hierbei, dass Personen, die das Dorfschützeramt abgelehnt haben, mangels strafrechtlicher Relevanz nicht mit Fahndungsmaßnahmen zu rechnen haben (vgl. hierzu die Stellungnahme von amnesty international an das VG Münster vom 17.12.2004). Hinzu kommt, dass mittlerweile - aufgrund einer Anordnung des türkischen Innenministeriums aus dem Jahr 2000 - keine Dorfschützer mehr rekrutiert werden und sich die Lage auch insofern geändert hat (vgl. dazu die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Münster vom 24.11.2004 (unter Hinweis auf den Lagebericht vom 19.05.2004) sowie das Gutachten von Kaya an das VG Aachen vom 28.01.2007). Unter diesen veränderten Umständen und unter Berücksichtigung des langen Zeitablaufs seit seiner Ausreise rechtfertigt allein die damalige Weigerung des Klägers, das Dorfschützeramt zu übernehmen, nicht die Annahme, für ihn bestehe die konkrete Gefahr, in einem polizeilichen Verhör Misshandlungen ausgesetzt zu werden, weil man ihn verdächtigen würde, die PKK zu unterstützen (so auch VG Ansbach, Urteil vom 03.04.2008 - AN 1 K 05.31304; a.A. VG Arnsberg, Urteil vom 19.05.2008 - 14 K 1184/07.A -, jeweils bei juris). In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass in den Dörfern des Südostens der Türkei auf eine Vielzahl von Personen Druck ausgeübt wurde, um die Übernahme des - angesichts der dort stattfindenden Kampfhandlungen oft mit erheblichen Gefahren verbundenen - Dorfschützeramtes zu erreichen, und viele sich diesem Druck durch Verlassen des Heimatdorfes und Ausreise entzogen haben. [...]