VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 30.03.2009 - W 6 K 08.30037 - asyl.net: M15869
https://www.asyl.net/rsdb/M15869
Leitsatz:

Für die Annahme einer ernsthaften individuellen Bedrohung gem. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG allein wegen der Anwesenheit in einem Gebiet des Herkunftslandes, in dem ein bewaffneter Konflikt herrscht, ist nicht eine so große Gefahrendichte erforderlich wie für die Bejahung einer Gruppenverfolgung; in der afganischen Provinz Daikundi herrscht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG; kein interner Schutz im Raum Kabul ohne verwandtschaftliche Beziehungen vor Ort.

Schlagwörter: Afghanistan, Folgeantrag, Änderung der Sachlage, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, ernsthafter Schaden, willkürliche Gewalt, bewaffneter Konflikt, allgemeine Gefahr, Gefahrendichte, Daikundi, Taliban, Sicherheitslage, Stammesfehden, Übergriffe, Anschläge, Beduinen, Nomaden, Kutschi, Paschtunen, Hazara, interner Schutz, Kabul, Versorgungslage, Existenzminimum, alleinstehende Personen, Krankheit, psychische Erkrankung
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c; RL 2004/83/EG Art. 8
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens und auf die Feststellung, dass aufgrund seiner individuellen Situation ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG hinsichtlich einer Abschiebung nach Afghanistan vorliegt. [...]

Für den in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG genannten Fall der Bedrohung der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts, der vorrangig zu prüfen ist (BVerwG, U. v. 24.06.2008, NVwZ 08, 1241), ist ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit erforderlich. Ein innerstaatlicher Konflikt muss nicht landesweit herrschen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe. Örtlich und zeitlich begrenzte Bandenkriege (kriminelle Gewalt) fallen regelmäßig nicht darunter. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil vom 26. Juni 2008 (a.a.O.) die Merkmale des "europarechtlichen" Abschiebungsverbotes unter Heranziehung der Qualifikationsrichtlinie näher präzisiert. Danach ist der Begriff eines "internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts" unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts anhand der vier Genfer Konventionen von 1949 auszulegen, die durch Zusatzprotokolle ergänzt worden sind. Darunter fallen alle bewaffneten Konflikte, die im Hoheitsgebiet eines Staates zwischen dessen Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des staatlichen Hoheitsgebietes ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen, während innere Unruhen und Spannungen, wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen, nicht als ein derartiger bewaffneter Konflikt gelten. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts i.S.v. Art. 15c QRL nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss hierfür aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerilla-Kämpfe. Ob die Konfliktparteien einen so hohen Organisationsgrad erreichen müssen, wie er für die Erfüllung der Verpflichtungen nach der Genfer Konvention von 1949 und für den Einsatz des internationalen Roten Kreuzes erforderlich ist, hat das Bundesverwaltungsgericht offen gelassen und kann auch hier unentschieden bleiben. Die Orientierung an den Kriterien des humanitären Völkerrechts findet jedenfalls dort ihre Grenze, wo ihr der Zweck der Schutzgewährung für in Drittstaaten Zufluchtsuchende nach Art. 15c QRL widerspricht. Kriminelle Gewalt wird bei der Feststellung, ob eine innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, jedenfalls dann nicht berücksichtigt, wenn sie nicht von einer der Konfliktparteien begangen wird. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt erfordert insbesondere auch keine landesweite Konfliktsituation, sondern liegt auch schon dann vor, wenn die oben genannten Voraussetzungen nur in einem Teil des Staatsgebiets erfüllt sind. Dies ergibt sich bereits gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG, der für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auf die Regeln über den internen Schutz nach Art. 8 QRL verweist, wonach ein aus seinem Herkunftsstaat Geflohener nur dann auf eine landesinterne Schutzalternative verwiesen werden kann, wenn diese außerhalb des Gebietes eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts liegt. Auch nach den völkerrechtlichen Bestimmungen genügt, dass die bewaffneten Truppen Kampfhandlungen in einem "Teil des Hoheitsgebiets" durchführen. Allgemeine mit dem bewaffneten Konflikt im Zusammenhang stehende Gefahren genügen allein nicht. Es muss für den Betroffenen eine ernsthafte individuelle Bedrohung für Leib oder Leben gegeben sein (Art. 15c QRL). Eine Verletzung der genannten Rechtsgüter muss gleichsam unausweichlich sein (BT-Drucks. 16/5065 zu Nr. 48 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007, BGBl. 1, S. 1970, S. 187, zu § 60 Buchst. d AufenthG) und es darf keine innerstaatliche Schutzalternative bestehen. Eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit der Person, die subsidiären Schutz beantragt, setzt dabei nach dem Urteil des EUGH vom 17. Februar 2009 (C-465/07, InfAuslR 2009, S. 138) nicht voraus, dass die Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umstände spezifisch betroffen ist. Das Vorliegen einer solchen Bedrohung kann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Eine individuelle ernsthafte Bedrohung kann damit bei einer hohen Dichte der Gewaltakte (vergleichbar einer Gruppenverfolgung) vorliegen oder bei persönlichen Gefahr erhöhenden Umständen. Eine so hohe Gefahrendichte, wie sie i.S.d. Rechtsprechung zur Feststellung einer Gruppenverfolgung erforderlich ist, wonach Verfolgungsschläge so dicht und eng gestreut sein müssen, dass jeder Gruppenangehörige zu jeder Zeit damit rechnen muss, selbst Opfer zielgerichtete Verfolgungsschläge zu werden, ist zur Überzeugung des Gerichts im Falle willkürlicher Gewalt nicht zu erfordern, da willkürliche Gewalt nicht auf ein bestimmtes Ziel gerichtet oder beschränkt ist, sondern wahllos und gleichsam blind sich ihre Opfer sucht. Das subjektive Gefährdungs- und Unsicherheitsgefühl von Betroffenen kann deshalb bereits dann eine Rückkehr unzumutbar machen, wenn die Zahl der Anschläge hinter der erforderlichen Dichte zur Bejahung einer Gruppenverfolgung zurückbleibt, da willkürliche Gewalt jederzeit jeden treffen kann.

In der Person des Klägers liegt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nach Afghanistan vor. In der Herkunftsregion des Klägers (Provinz Daikundi) haben sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 2 AsylVfG) die nach den Auskünften zunehmenden Attentate, Überfälle und Übergriffe sowie Auseinandersetzungen internationaler Kräfte mit den wiederstarkten Taliban sowie sonstigen Akteuren eine Intensität erreicht, die den Konflikt als innerstaatlichen bewaffneten Konflikt darstellten. Der Kläger wäre diesem bei Rückkehr als Angehöriger der Zivilbevölkerung und aufgrund bestimmter individueller Gefährdungsmerkmale in einer Weise ausgesetzt, die sich zu einer erheblichen individuellen Gefahr bzw. einer ernsthaften individuellen Bedrohung i.S.d. Art. 15c QRL (i.V.m. deren Erwägungsgrund Nr. 26) und damit zu einer extremen Gefahrenlage verdichten. Eine Fluchtalternative, insbesondere in den Raum Kabul, besteht derzeit für den Kläger nicht. Eine Rückkehr dorthin ist ihm aufgrund seiner individuellen Lage nicht zumutbar (§ 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 8 QRL).

Die Provinz Daikundi ist eine Provinz in Zentralafghanistan. Sie wurde am 28. März 2004 als 33. Provinz des Landes durch die Abtrennung des nördlichen Teils der Provinz Uruzgan gebildet. Sie grenzt an die Provinzen Ghor, Bamyan, Gazni, Uruzgan und Helmand. Das Auswärtige Amt berichtet in seinen jüngsten Lageberichten über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 7. März 2008 und 3. Februar 2009, dass die Sicherheitslage regional sehr unterschiedlich ist. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Akteuren (staatliche Sicherheitskräfte und internationale Stabilisierungstruppe ISAF, regierungsfeindliche Gruppen, rivalisierende Milizen, bewaffnete ethnische Gruppen sowie organisierte Drogenbanden) dauern in etlichen Provinzen an und können jederzeit wieder aufleben. Seit Frühjahr 2007 ist vor allem im Süden, Südosten und Osten des Landes, aber auch im zentralen Bereich Afghanistans sowie im Norden und Westen des Landes, ein Anstieg gewaltsamer Übergriffe regruppierter Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte zu verzeichnen. Die Zahl der Selbstmordanschläge und Angriffe mit Sprengfallen von regierungsfeindlichen Kräften haben auch 2008 weiter zugenommen. In weiten Teilen Afghanistans - hauptsächlich im Süden, Südwesten, Südosten und Osten des Landes - finden nach wie vor gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen regierungsfeindlichen Kräften einerseits sowie afghanischen und internationalen Gruppen andererseits statt. Diese Auseinandersetzungen haben im letzten Jahr auch auf Gebiete übergegriffen, die bislang nicht bzw. kaum betroffen waren. Verhandlungen der Regierung Karzai mit aufständischen Kräften waren bisher nicht erfolgreich. Die Polizei trägt in Afghanistan neben der Armee die Hauptlast bei der Bekämpfung der Aufstandsbewegungen im Süden und hat hohe Verluste zu beklagen, über 1200 Tote im Jahr 2007, ca. 1200 Tote im Jahr 2008. Zur Sicherheitslage im Süden und Südosten des Landes führt der jüngste Lagebericht des Auswärtigen Amtes aus, dass die Antiterrorkoalition die radikal islamischen Kräfte vor allem im Süden, Südosten und Osten des Landes bekämpft. Die Infiltration islamistischer Kräfte (u.a. Taliban) aus dem pakistanischen Pashtunengürtel nach Afghanistan ist ungebrochen, dass Rekrutierungspotenzial in afghanischen Flüchtlingslagern auf pakistanischen Territorium scheint noch immer unerschöpflich. Vor allem im Süden, auch im Südosten wurde auch 2008 ein deutlicher Anstieg von Anschlägen auf Einrichtungen der Provinzregierungen und Hilfsorganisationen verzeichnet. Gleichzeitig halten Kämpfe zwischen rivalisierenden Milizen weiter an. Dies schließt Feten zwischen Ethnien ein, die u.a. für die pashtunisch geprägten Gebiete des Südens typisch sind. Ein zunehmender Teil der Afghanen scheut die Rückkehr auch aus Furcht vor den sich intensivierenden Kampfhandlungen oder wegen der Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlagen (Lagebericht v. 03.02.2009, S. 5, 7, 11, 13 und 28). UNHCR berichtete in seiner Stellungnahme vom September 2003 ("Aktualisierte Darstellung der Lage in Afghanistan - Sicherheit, Menschenrechte, humanitäre Situation"), dass die Streitkräfte der Koalition, die in erster Linie mit dem "Krieg gegen den Terrorismus" beschäftigt sind, sich aktiv im Südosten (Khost, Paktia und Paktika), im Osten (besonders Kunar und Nangahar), der Süd- und Zentralregion (speziell Helmand, Kandahar, Farah, Bamyan und Uruzgan) aufhalten und auch eine starke militärische Präsens in der Provinz Kandahar unterhalten. Sie seien in Kampfhandlung mit "extremistischen Gruppen" in jeder der genannten Region verwickelt gewesen. Die Stützpunkte der Koalition in den Provinzen Kunar und Paktia seien zum Ziel von wiederholten Raketenangriffen geworden.

Kampfhandlungen zwischen der Koalition und bewaffneten Gruppen hätten den Zugang humanitärer Hilfsorganisationen in diese Gebiete häufig behindert. Zusammenstöße zwischen Gruppierungen und Stämmen hätten Vertreibungen von Zivilisten nach sich gezogen. Die Militarisierung und der hohe Verbreitungsgrad von Waffen seien Merkmale der Regionen. Es gebe einen deutlich erkennbaren Zusammenhang zwischen der Kontrolle des Militärs bzw. von Milizen über ein Gebiet mit Übergriffen gegen Zivilisten in Form von Gelderpressungen und Plünderungen, Verschleppung von Frauen, Entführungen und Erpressung von Lösegeld, Besetzung von Land und illegale Kontrollen über Wasserressourcen. UNHCR führt in seiner Stellungnahme vom 6. Oktober 2008 zur Sicherheitslage in Afghanistan mit Blick auf die Gewährung ergänzenden Schutzes aus, dass mittlerweile alle Distrikte der Provinzen Helmand, Kandahar, Uruzgan und Kabul und die in diese Gebiete führenden Straßen als unsicher eingestuft werden, des Weiteren die gesamte Provinz Ghor mit Ausnahme der Provinzhauptstadt und im Zentrum des Landes die gesamte Provinz Gazni, einschließlich der Straßen von Kandahar nach Gazni und von Kabul nach Gazni, die gesamte Provinz Maidan-Wardak und die Straßen innerhalb der Provinz. Auch in der Provinz Daikundi werden die Distrikte Kidi und Kijran und die Straße von Uruzgan nach Daikundi als unsicher eingestuft, neben weiteren Provinzen und Distrikten im Süden, Südosten und Osten des Landes, sowie bereits auch im Nordosten und Westen in bestimmten Bereichen. Die Einstufung als unsicher erfolge dann, wenn mehrere der folgenden Bedrohungen laufend in den vergangenen Monaten beobachtet und berichtet wurden (systematische Akte der Einschüchterung, einschließlich willkürlicher Tötungen, Entführungen und anderer Bedrohungen des Lebens, der Sicherheit und der Freiheit durch regierungsfeindliche Elemente und lokale Kriegsherren, militärische Kommandeure und kriminelle Gruppen; Anschläge regierungsfeindlicher Elemente, einschließlich ausländischer Kämpfer, u.a. durch den erhöhten und systematischen Gebrauch von Taktiken der asymmetrischen Kriegsführung wie unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen an Straßen, Raketenangriffe, Bomben- und Selbstmordanschläge, Anschläge auf "weiche Ziele" wie Schulen, Lehrpersonal, Kirchenvertreter, Einrichtungen der Gesundheitsversorgung und Personal von Hilfsorganisationen; militärische Operationen an Orten, wo regierungsfeindliche Gruppen gemeldet wurden oder eine Präsens aufgebaut haben; religiöse Konflikte und Stammeskonflikte sowie Konflikte über die Nutzung von Weideland und unzureichende Reaktionen der Zentralregierung, gegen die Gewalt vorzugehen und Zivilisten zu schützen; illegale Landbesetzungen und Enteignungen mit eingeschränkten Möglichkeiten, dagegen vorzugehen). [...]

Von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt geht auch der Hess. VGH in seinem Urteil vom 11. Dezember 2008 (6 A 611/08.A) für die Provinz Paktia aus, die von Hilfsorganisationen oder ausländischen Militärs inzwischen als eine der gefährlichsten Gegenden der Welt bezeichnet wird. BBC-News (Asylmagazin 3/2009) berichtet von einem Anstieg ziviler Opfer im Jahr 2008 um beinahe 40 % gegenüber dem Vorjahr; nach UN-Angaben seien über 2.100 Zivilisten bei Kampfhandlungen getötet worden, 39 % durch Streitkräfte der Regierung sowie von USA und NATO.

Von diesen innerstaatlich bewaffneten Konflikten in der Provinz Daikundi gehen für eine Vielzahl von Zivilpersonen Gefahren aus, die sich in der Person des Klägers im Falle seiner Rückkehr so verdichten würden, dass sie für ihn als Angehörigen der Zivilbevölkerung eine "erheblich individuelle Gefahr für Leib oder Leben" gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bzw. "eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit" gemäß Art. 15c QRL begründen. Der Kläger und seine Familie waren bereits in der Vergangenheit durch die Beschlagnahme von Land, anlässlich der auch ein Onkel zu Tode gekommen war und durch einen Gefängnisaufenthalt des Klägers in Kandahar durch die Taliban (15.04.1998 bis 28.03.1999) sowie durch seine sozialen Dienste für die Partei Hezbe e Wahdat in das Blickfeld von Konfliktparteien geraten. [...] Des Weiteren hat er ausgeführt, dass sich in seinem Herkunftsgebiet mächtige Beduinen- bzw. Nomadenstämme aufhalten, die Ländereien gegen den Willen der Eigentümer für ihr Vieh nutzen würden. In diesem Zusamenhang komme es zu Konflikten. In letzter Zeit habe es unter den Dorfbewohnern seines Herkunftsortes wegen dieser Konflikte mit Beduinen einige Tode und Verletzte gegeben. Dies sei auch im Jahr 2008 so gewesen. Vor dem Hintergrund der dargestellten Situation in den eingeführten Erkenntnismitteln erscheinen diese Befürchtungen dem Gericht nachvollziehbar. Der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 3. Februar 2009 (Seite 17) berichtet, dass die Volksgruppe der Hazaras traditionell in Afghanistan diskriminiert sei, wenn sich auch ihre Gesamtsituation zwischenzeitlich verbessert habe. Hergebrachte Spannungen zwischen den Ethnien bestünden jedoch in lokal unterschiedlicher Intensität fort und würden auch immer wieder aufleben. Im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Gruppe der Nomaden (Kutschi), die mehrheitlich Paschtunen sind, wird berichtet, dass in den Sommermonaten wiederkehrende Migration von Kutschis in fruchtbare Weidegebiete der sesshaften Hazaras in der Provinz Wardak 2008 immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen geführt habe und zu erwarten sei, dass im Frühsommer 2009 diese Konflikte wieder aufflammen.

Der Kläger kann auch nicht gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 8 QRL auf einen internen Schutz in einem anderen Teil seines Herkunftslandes Afghanistan; insbesondere auch nicht im Raum Kabul verwiesen werden. Ein Aufenthalt dort ist ihm nicht zumutbar.

In den neuesten Lageberichten des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 17. März 2008 und 3. Februar 2009 ist dargestellt, dass staatliche soziale Sicherungssysteme nicht bekannt sind. Renten- Arbeitslosen- und Krankenversicherung gibt es nicht. Familien und Stämme übernehmen die soziale Absicherung. Rückkehrer, die außerhalb des Familienverbandes oder nach längerer Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren, stoßen auf größere Schwierigkeiten, als Rückkehrer, die in größeren Familienverbänden geflüchtet sind oder in einen solchen zurückkehren, wenn ihnen das notwendige soziale oder familiäre Netzwerk sowie die notwendigen Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlen. Die medizinische Versorgung in Afghanistan ist aufgrund fehlender Medikamente, Geräte und Ärzte und mangels ausgebildeten Hilfspersonals - trotz mancher Verbesserungen - völlig unzureichend. Die Lebenserwartung der afghanischen Bevölkerung lag 2006 bei etwa 43 Jahren. Auch in Kabul ist keine hinreichende medizinische Versorgung gegeben. Die Wohnraumversorgung ist völlig unzureichend. In seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 31. Januar 2008 berichtet der Sachverständige Dr. Bernd Glatzer ebenso wie der Sachverständige in seinem Gutachten vom 15. Januar 2008 Peter Rieck an das OVG Rheinland-Pfalz übereinstimmend, dass angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in Afghanistan für ungelernte bzw. unqualifizierte Rückkehrer ohne Rückhalt in einem intakten familiären und verwandtschaftlichen Unterstützernetz nur geringe Chancen bestehen, in Kabul eine die Existenz sichernde Arbeit zu finden. Auch UNHCR berichtet in seinen UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom Januar 2008, dass zur Frage des Schutzbedarfs das persönliche Profil, Erfahrungen und Aktivitäten des Klägers, ggf. von anderen Personen mit einbezogen werden müssen. Es müssten familiäre, politische und Stammesverbindungen berücksichtigt werden, da diese traditionell entscheidend dafür seien, ob Personen Schutz erhalten und das wirtschaftliche Leben sicherstellen könnten. Schutzbedürftig könnten auch ethnische Minderheiten in bestimmten Gegenden sein. Das OVG Rheinland-Pfalz hat seinem Urteil vom 6. Mai 2008 (Az: 6 A 10749/07.OVG - juris) eine Beweiserhebung zur Frage einer hauptsächlich aus Brot und Tee bestehenden Ernährung zugrunde gelegt, die bei Alleinstehenden ohne besondere Qualifikation angesichts der hohen Arbeitslosigkeit zu erwarten ist. Die befragte medizinische Sachverständige hat festgestellt, dass in diesem Fall unter Berücksichtigung sonstiger unzureichender Verhältnisse (notdürftige oder bzw. nicht winterfeste Unterkunft, fehlende medizinische Versorgung, hygienisch unzureichende Verhältnisse) ein Betroffener bald in einem fortschreitenden Prozess körperlichen Verfalls mit lebensbedrohlichen Folgen infolge der Mangelernährung geraten würde. Weiterhin wird berichtet, dass auch der Weizenpreis im Laufe des Jahres 2007 um durchschnittlich 60 % angestiegen ist und damit die Versorgungslage sich weiter verschlechtert hat (Relief Web/ASP, Bericht v. 10.05.2008 in Asylmagazin 6/2008, S. 14). Im neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 3. Februar 2009 wird berichtet, dass Afghanistan derzeit eine Nahrungsmittelkrise durchlebt. Es gilt als das ärmste Land Asiens. Seit dem Winter 2007/2008 hat sich die Lage mit den weltweit steigenden Nahrungsmittelpreisen, verbunden mit Exportbeschränkungen der Nachbarländer für Weizen und einer Dürre in einigen Landesteilen, noch einmal erheblich verschärft. Eine weitere Verschlechterung der Lage im Winter 2008/2009 und in der folgenden "mageren Jahreszeit" im Frühjahr 2009 wird trotz international angeforderter Nahrungsmittelhilfe als wahrscheinlich bezeichnet. Die Versorgungslage in Kabul hat sich zwar seit 2001 grundsätzlich gebessert, aber wegen teils sinkender oder ganz fehlender Kaufkraft profitiert derzeit nur eine kleine Bevölkerungsschicht davon. Die Inflation beträgt derzeit rund 40%; die Preise vieler Lebensmittel haben sich im Jahresvergleich verdoppelt, teilweise verdreifacht. In den Städten ist angemessener Wohnraum knapp und nur zu hohen Preisen erhältlich. Vormals von der afghanischen Regierung den Flüchtlingen zur Verfügung gestellte öffentliche Gebäude wurden geräumt. Das Afghanische Ministerium für Flüchtlinge und Rückkehrer (MuRR) beabsichtigt eine Ansiedlung dieser Flüchtlinge in Neubausiedlungen für Rückkehrer (sog. "Townships"). Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes wird ein Großteil der vorgesehenen "Townships" als nicht für eine permanente Ansiedlung geeignet angesehen. Es fehlt oft an der Wasserversorgung und häufig befinden sich die vorgesehenen Ansiedlungsorte in abgelegenen Gegenden. Die Ansiedlung der Rückkehrer gleiche daher teilweise einem "Aussetzen in der Wüste". Die Schweizer Flüchtlingshilfe berichtet in ihre Auskunft "Behandlung von Trauma in Kabul" vom 11. März 2009, dass der Zugang zur psychosozialer Traumabehandlung in Afghanistan limitiert bis nicht vorhanden sei, und selbst in Kabul keine Gewähr bestehe, dass die jeweiligen Patienten Zugang zur Behandlung fänden. Ohne Unterstützung der Familie sei die Behandlung nicht möglich.

Der Kläger hat glaubhaft dargelegt, dass er in Afghanistan nicht mehr auf verwandtschaftliche Beziehungen zugreifen kann, seine Brüder befinden sich zwischenzeitlich im Iran, den Aufenthaltsort einer Schwester in Massar-e-Sharif kennt er nicht. [...] Auch eigene Ersparnisse aus seiner Tätigkeit in einer Reinigungsfirma in Deutschland hat der Kläger nicht, da er diese für den Eigenverbrauch und zur Unterstützung seiner Familie (Brüder im Iran) verbraucht hat. Er wäre somit mittellos und völlig allein auf sich gestellt. Dass der Kläger durch Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen könnte, erscheint dem Gericht wenig wahrscheinlich. Zwar hat der Kläger nach eigenen Angaben 11 Jahre die Schule besucht und hat während seines Aufenthaltes im Iran gelernt, Fahrzeuge zu reparieren, was ihm möglicherweise ein Auskommen in der Hauptstadt Kabul sichern könnte. Hierbei kann dahingestellt bleiben, inwieweit diese Ausbildung westlichem Standard entspräche. Der Kläger hat ausgeführt, die Ausbildung sei eine Art Privatkurs gewesen, wie eine Fahrschule. Er habe theoretischen und praktischen Unterricht gegeben. Des Weiteren hat der Kläger ausgeführt, dass er keine praktische Übung habe, wenn er sich auch nach einer gewissen Einarbeitungszeit in einer Werkstatt zutrauen würde Fahrzeuge zu reparieren. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in Afghanistan, der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara, insbesondere im Hinblick auf die geringe Belastbarkeit des Klägers infolge seiner psychischen Erkrankung - wie noch darzustellen sein wird - und dem fehlenden familiären Rückhalt, ist jedoch nicht davon auszugehen, dass der Kläger durch Arbeit sein Überleben sichern könnte.

Der Kläger ist durch seine psychische Erkrankung nicht hinreichend belastbar. Bei Rückkehr in seine Heimat droht insbesondere die Gefahr der Retraumatisierung. Laut ärztlichem Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin und Psychotherapie Dr. med. ..., Offenbach, vom 7. Mai 2008 resultiert aus früheren Erlebnissen des Klägers in seiner Heimat eine "sequenzielle Traumatisierung". [...]

Auch aufgrund seiner psychischen Erkrankung erscheint der Kläger dem Gericht für den Überlebenskampf in Afghanistan nicht gerüstet. Aufgrund der allgemeinen Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan und des Umstandes, dass der gesundheitlich belastete Kläger bei Rückkehr nicht auf einen intakten Familienverband zurückgreifen kann, ist zur Überzeugung des Gerichts für ihn ein Überleben in Afghanistan, auch in der Hauptstadt Kabul derzeit nicht möglich, wobei dahinstehen kann, inwieweit Art. 8 QRL ein Auskommen oberhalb des Existenzminimums erfordert. [...]