VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 30.03.2009 - W 6 K 09.30032 - asyl.net: M15880
https://www.asyl.net/rsdb/M15880
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Folgeantrag, Änderung der Sachlage, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, ernsthafter Schaden, willkürliche Gewalt, bewaffneter Konflikt, allgemeine Gefahr, Gefahrendichte, Kunar, Taliban, Sicherheitslage, Stammesfehden, Übergriffe, Anschläge, interner Schutz, Kabul, Versorgungslage, Existenzminimum, alleinstehende Personen
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c; RL 2004/83/EG Art. 8
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens und auf die Feststellung, dass aufgrund seiner individuellen Situation ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG hinsichtlich einer Abschiebung nach Afghanistan vorliegt.. [...]

Für den in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG genannten Fall der Bedrohung der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts, der vorrangig zu prüfen ist (BVerwG, U. v. 24.06.2008, NVwZ 08, 1241), ist ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit erforderlich. Ein innerstaatlicher Konflikt muss nicht landesweit herrschen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe. Örtliche und zeitlich begrenzte Bandenkriege (kriminelle Gewalt) fallen regelmäßig nicht darunter. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil vom 26. Juni 2008 (a.a.O.) die Merkmale des "europarechtlichen" Abschiebungsverbotes unter Heranziehung der Qualifikationsrichtlinie näher präzisiert. Danach ist der Begriff eines "internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts" unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts anhand der vier Genfer Konventionen von 1949 auszulegen, die durch Zusatzprotokolle ergänzt worden sind. Darunter fallen alle bewaffneten Konflikte, die im Hoheitsgebiet eines Staates zwischen dessen Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des staatlichen Hoheitsgebietes ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen, während innere Unruhen und Spannungen, wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen, nicht als ein derartiger bewaffneter Konflikt gelten. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts i.S.v. Art. 15c QRL nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss hierfür aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerilla-Kämpfe. Ob die Konfliktparteien einen so hohen Organisationsgrad erreichen müssen, wie er für die Erfüllung der Verpflichtungen nach der Genfer Konvention von 1949 und für den Einsatz des internationalen Roten Kreuzes erforderlich ist, hat das Bundesverwaltungsgericht offen gelassen und kann auch hier unentschieden bleiben. Die Orientierung an den Kriterien des humanitären Völkerrechts findet jedenfalls dort ihre Grenze, wo ihr der Zweck der Schutzgewährung für in Drittstaaten Zufluchtsuchende nach Art. 15c QRL widerspricht. Kriminelle Gewalt wird bei der Feststellung, ob ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, jedenfalls dann nicht berücksichtigt, wenn sie nicht von einer der Konfliktparteien begangen wird. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt erfordert insbesondere auch keine landesweite Konfliktsituation, sondern liegt auch schon dann vor, wenn die oben genannten Voraussetzungen nur in einem Teil des Staatsgebiets erfüllt sind.

Dies ergibt sich bereits gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG, der für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auf die Regeln über den internen Schutz nach Art. 8 QRL verweist, wonach ein aus seinem Herkunftsstaat Geflohener nur auf eine landesinterne Schutzalternative verwiesen werden kann, wenn diese außerhalb des Gebietes eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts liegt. Auch nach den völkerrechtlichen Bestimmungen genügt, dass die bewaffneten Gruppen Kampfhandlungen in einem "Teil des Hoheitsgebiets" durchführen. Allgemeine mit dem bewaffneten Konflikt im Zusammenhang stehende Gefahren genügen allein nicht. Es muss für den Betroffenen eine ernsthafte individuelle Bedrohung für Leib oder Leben gegeben sein (Art. 15c QRL). Eine Verletzung der genannten Rechtsgüter muss gleichsam unausweichlich sein (BT-Drucks. 16/5065 zu Nr. 48 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007, BGBl. 1, S. 1970, S. 187, zu § 60 Buchst. d AufenthG) und es darf keine innerstaatliche Schutzalternative bestehen. Eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit der Person, die subsidiären Schutz beantragt, setzt dabei nach dem Urteil des EuGH vom 17. Februar 2009 (C-465/07, InfAuslR 2009, S. 138) nicht voraus, dass die Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umstände spezifisch betroffen ist. Das Vorliegen einer solchen Bedrohung kann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Eine individuelle ernsthafte Bedrohung kann damit bei einer hohen Dichte der Gewaltakte (vergleichbar einer Gruppenverfolgung) vorliegen oder bei persönlichen Gefahr erhöhenden Umständen. Eine so hohe Gefahrendichte, wie sie i.S.d. Rechtsprechung zur Gruppenverfolgung erforderlich ist, wonach Verfolgungsschläge so dicht und eng gestreut sein müssen, dass jeder Gruppenangehörige zu jeder Zeit damit rechnen muss, selbst Opfer zielgerichteter Verfolgungsschläge zu werden, ist zur Überzeugung des Gerichts im Falle willkürlicher Gewalt jedoch nicht erforderlich, da willkürliche Gewalt nicht .auf ein bestimmtes Ziel gerichtet oder beschränkt ist, sondern wahllos und gleichsam blind sich ihre Opfer sucht. Das subjektive Gefährdungs- und Unsicherheitsgefühl von Betroffenen kann deshalb bereits dann eine Rückkehr unzumutbar machen, wenn die Zahl der Anschläge hinter der erforderlichen Dichte zur Bejahung einer Gruppenverfolgung zurückbleibt, da willkürliche Gewalt jederzeit jeden treffen kann.

In der Person des Klägers liegt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nach Afghanistan vor. In der Herkunftsregion des Klägers (Provinz Kunar) haben im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 2 AsylVfG) die nach den Auskünften zunehmenden Attentate, Überfälle und Übergriffe sowie Auseinandersetzungen internationaler Kräfte mit den wiederstarkte Taliban sowie sonstigen Akteuren eine Intensität erreicht, die den Konflikt als innerstaatlich bewaffneten Konflikt darstellt. Der Kläger wäre diesem bei Rückkehr als Angehöriger der Zivilbevölkerung und aufgrund bestimmter individueller Gefährdungsmerkmale in einer Weise ausgesetzt, die sich zu einer erheblichen individuellen Gefahr bzw. einer ernsthaften individuellen Bedrohung i.S.d. Art. 15c QRL (i.V.m. deren Erwägungsgrund Nr. 26) und damit zu einer extremen Gefahrenlage verdichten. Eine Fluchtalternative, insbesondere in den Raum Kabul, besteht für den Kläger nicht. Eine Rückkehr dorthin ist ihm aufgrund seiner individuellen Lage nicht zumutbar (§ 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 8 QRL). [...]