VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 29.05.2009 - 9 K 44/08 - asyl.net: M15886
https://www.asyl.net/rsdb/M15886
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Altfallregelung, Schulbesuch, Schulpflicht, Ausreisehindernis, Privatleben, Integration, Duldung
Normen: AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 3; SchulG § 34 Abs. 6; SchulG § 38 Abs. 3; AufenthG § 25 Abs. 5; EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Die erhobene Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1, 2. Alt. der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO) ist zulässig, aber nicht begründet. Den Klägern steht kein Anspruch auf Erteilung humanitärer Aufenthaltserlaubnisse zu. [...]

§ 104a Abs.1 Nr. 3 AufenthG setzt voraus, dass "er", d.h. der geduldete Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach dieser Norm begehrt, für Kinder im schulpflichtigen Alter den tatsächlichen Schulbesuch nachweist. Die Regelung der Schulpflicht obliegt den Ländern, so dass insoweit auf das Schulgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (SchulG) zurückzugreifen ist. Gemäß § 34 Abs. 6 Satz 2 SchulG besteht die Schulpflicht für ausreisepflichtige ausländische Kinder und Jugendliche bis zur Erfüllung ihrer Ausreisepflicht. Die Schulpflicht umfasst in der Primarstufe und in der Sekundarstufe I die Pflicht zum Besuch einer Vollzeitschule (Vollzeitschulpflicht) und in der Sekundarstufe II die Pflicht zum Besuch der Berufsschule oder eines anderen Bildungsgangs des Berufskollegs oder einer anderen Schule der Sekundarstufe II (§ 34 Abs. 2 SchulG). Die (Vollzeit-)Schulpflicht in der Primar- und der Sekundarstufe I dauert zehn Schuljahre, am Gymnasium neun (§ 37 Abs. 1 Satz 1 SchulG). Die Schulpflicht in der Sekundarstufe II beginnt nach dem Ende der Vollzeitschulpflicht (§ 38 Abs. 1 SchulG) und dauert für Jugendliche ohne Berufsausbildungsverhältnis bis zum Ablauf des Schuljahres, in dem sie das achtzehnte Lebensjahr vollenden (§ 38 Abs. 3 Satz 1 SchulG). Aus der Zusammenschau dieser Vorschriften folgt eine Schulpflicht für Jugendliche ohne Schulabschluss und ohne Berufsausbildungsverhältnis - wie hier der Kläger zu 3. - bis zum Ablauf des Schuljahres, in dem sie achtzehn Jahre alt werden. Die in der mündlichen Verhandlung seitens der Prozessbevollmächtigten geäußerte Auffassung, der Kläger zu 3., der am 27. November 2009 volljährig wird und derzeit die Klasse 10 einer Förderschule mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache, Emotionale und soziale Entwicklung besucht, sei deshalb nicht mehr schulpflichtig, weil er eine Klasse wiederholt habe und sich somit im elften Schulbesuchsjahr befinde, mag bezüglich der Vollzeitschulpflicht richtig sein - vorausgesetzt der Förderschwerpunkt Sprache liegt in der Person des Klägers zu 3. nicht vor, ansonsten gilt nämlich die elfjährige Vollzeitschulpflicht des § 37 Abs. 3 Satz 1 SchulG, die Voraussetzungen für ein vorheriges Ende nach Satz 2 liegen erkennbar nicht vor. Im Übrigen ist der Kläger zu 3. aber in jedem Falle gemäß § 38 Abs. 3 SchulG schulpflichtig. Anhaltspunkte dafür, dass § 104a Abs. 1 Nr. 3 AufenthG nur auf die Vollzeitschulpflicht abstellt, bestehen nicht. Vielmehr spricht die Gesetzesbegründung, die Altfallregelung solle diejenigen begünstigen, die faktisch und wirtschaftlich im Bundesgebiet integriert sind (vgl. Bundestagsdrucksache 16/5065, S. 201 ff, zu § 104a) und die Bedeutung eines Schulabschlusses für die Integration in die hiesigen Verhältnisse, gegen eine enge Auslegung des Begriffs der Schulpflicht (vgl. Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 24. März 2009 - 10 LA 377/08 -, juris).

Entsprechend wird auch in § 104b Nr. 4 AufenthG für das eigenständige Aufenthaltsrecht integrierter Kinder von geduldeten Ausländern die bisherige Schulausbildung in den Blick genommen - ohne Bezugnahme auf die durch Landesgesetze unterschiedlich geregelte Schulpflicht.

Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass der Kläger zu 3. im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht mehr "im schulpflichtigen Alter" ist, muss aufgrund des integrationspolitischen Zwecks der Altfallregelung zumindest das letzte Schulbesuchsjahr, also die Klasse 9, berücksichtigt werden.

Bezüglich beider Schuljahre steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger zu 3. die Förderschule weder tatsächlich besucht hat noch derzeit besucht.

Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen führt in seinem Beschluss vom 9. Januar 2009 zum Begriff des tatsächlichen Schulbesuchs in § 104a Abs. 1 Nr. 3 AufenthG Folgendes aus:

"In rechtlicher Hinsicht ist ungeklärt, welche inhaltlichen Anforderungen an den Nachweis des tatsächlichen Schulbesuchs zu stellen sind und auf welchen Zeitpunkt dafür abzustellen ist. Ohne dass dies hier abschließend entschieden werden müsste, neigt der Senat insoweit zunächst dazu, allgemein geltenden Grundsätzen zufolge als maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt denjenigen der letzten behördlichen bzw. gerichtlichen Entscheidung zugrunde zu legen, nachdem dem materiellen Recht nicht entnommen werden kann, dass ein anderer Zeitpunkt maßgeblich sein soll. Insbesondere ist nicht eindeutig, dass auch für die in § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 6 AufenthG genannten Voraussetzungen wie für die Voraufenthaltszeit auf den Stichtag 1. Juli 2007 abgestellt werden müsste mit der Folge, dass danach eintretende Entwicklungen unbeachtlich wären. Der Wortlaut spricht vielmehr dagegen ... Im Übrigen spricht mit Blick auf den Regelungszweck Vieles dafür, die Frage der Anforderungen an den Nachweis des tatsächlichen Schulbesuchs folgend dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zu entscheiden, der im Beschluss vom 29. Juli 2008 - 11 S 158/08 - festgestellt hat, der "tatsächliche Schulbesuch" dürfte im Sinne des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nachgewiesen sein, wenn die betreffenden Kinder während ihres schulpflichtigen Alters ohne Unterbrechung in eine Schule aufgenommen gewesen seien und im Sinne der landesrechtlichen Regelungen über die Schulbesuchspflicht am Unterricht teilgenommen hätten. Ob unerlaubtes Fernbleiben vom Unterricht ("Schulschwänzen") den Nachweis des tatsächlichen Schulbesuchs ausschließe, sei eine Frage des Einzelfalls und gemäß dem integrationspolitischen Zweck des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zu beantworten, also danach, ob die Fehlzeiten die aufgrund des jeweiligen Schulbesuchs erwartbare sprachliche wie soziale Integration und das Erreichen des gegebenenfalls angestrebten Schulabschlusses ausschlössen oder ernsthaft in Frage stellten. Insoweit dürfte in Zweifelsfällen die Einholung einer Stellungnahme der Schule angezeigt sein."

Dieser Auffassung schließt sich die Kammer an.

Die Verwaltungsakten dokumentieren, dass der Kläger zu 3. bereits seit Jahren seine Schulpflicht nicht erfüllt und sich die Schule hinreichend bemüht hat, u.a. durch Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens, sowohl auf den Schüler, den Kläger zu 3., als auch auf dessen Eltern, die Klägerin zu 1. und den Kläger zu 2. einzuwirken, im Ergebnis allerdings ohne Erfolg. Aufgrund der eingeholten Stellungnahme des derzeitigen Klassenlehrers des Klägers zu 3. ist weiter davon auszugehen, dass der Kläger zu 3. seine schulische Laufbahn aufgrund seines massiven Schulschwänzens ohne Abschluss beenden wird. [...]