VG Münster

Merkliste
Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 26.05.2009 - 8 K 734/08 - asyl.net: M15892
https://www.asyl.net/rsdb/M15892
Leitsatz:

1. § 114 Satz 2 VwGO lässt eine erstmalige Ermessensausübung im Verwaltungsprozess auch dann nicht zu, wenn erst im Verwaltungsprozess die Ausübung des Ermessens erforderlich wird.

2. Auch europäisches Recht gebietet nicht die Möglichkeit der erstmaligen Ermessensbetätigung im Verwaltungsprozess hinsichtlich der Ausweisung eines Flüchtlings.

3. Eine Ausweisung, die nach § 25 Abs. 2 AufenthG einen Anspruch eines Flüchtlings auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ausschließen soll, muss den Anforderungen des Art. 24 Abs. 1 oder des Art. 21 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG (Qualifikations-Richtlinie) entsprechen.

4. Der Ausschlussgrund der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikations-Richtlinie) stellt nicht substantiell geringere Anforderungen an den Ausschlussgrund als der gleichlautende Ausweisungsgrund nach Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürger-Richtlinie).

5. Art. 24 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG erlauben allein spezialpräventive Erwägungen, nicht aber generalpräventive Ausweisungsziele.

6. Entscheidungserheblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der materiellen Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung ist - wenn diese der Vollziehung einer Ausweisung dient - der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Konventionsflüchtlinge, zwingende Ausweisung, besonderer Ausweisungsschutz, Regelausweisung, atypischer Ausnahmefall, Schutz von Ehe und Familie, Anerkennungsrichtlinie, Verstoß gegen Rechtsvorschriften, Ermessen, Nachschieben von Gründen, zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, Straftat, Generalprävention, Spezialprävention, Wiederholungsgefahr, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Gefahr für die Allgemeinheit, Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland
Normen: VwGO § 114 S. 2; AufenthG § 55 Abs. 2; AufenthG § 53; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 5; EMRK Art. 8; GG Art. 6; RL 2004/83/EG Art. 24 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 21 Abs. 3; AufenthG § 11 Abs. 1
Auszüge:

1. § 114 Satz 2 VwGO lässt eine erstmalige Ermessensausübung im Verwaltungsprozess auch dann nicht zu, wenn erst im Verwaltungsprozess die Ausübung des Ermessens erforderlich wird.

2. Auch europäisches Recht gebietet nicht die Möglichkeit der erstmaligen Ermessensbetätigung im Verwaltungsprozess hinsichtlich der Ausweisung eines Flüchtlings.

3. Eine Ausweisung, die nach § 25 Abs. 2 AufenthG einen Anspruch eines Flüchtlings auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ausschließen soll, muss den Anforderungen des Art. 24 Abs. 1 oder des Art. 21 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG (Qualifikations-Richtlinie) entsprechen.

4. Der Ausschlussgrund der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikations-Richtlinie) stellt nicht substantiell geringere Anforderungen an den Ausschlussgrund als der gleichlautende Ausweisungsgrund nach Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürger-Richtlinie).

5. Art. 24 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG erlauben allein spezialpräventive Erwägungen, nicht aber generalpräventive Ausweisungsziele.

6. Entscheidungserheblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der materiellen Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung ist - wenn diese der Vollziehung einer Ausweisung dient - der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung.

(Amtliche Leitsätze)

 

[...]

1. Die Ausweisung des Klägers ist materiell rechtswidrig. [...]

a) Eine zwingende Ausweisung des Klägers nach dem vom Beklagten ursprünglich als Ermächtigungsgrundlage herangezogenen § 53 Nr. 1 AufenthG kommt nicht mehr in Betracht.

Entscheidungserheblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der materiellen Rechtmäßigkeit der Ausweisung ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. November 2007 - 1 C 45.06 -, BVerwGE 130, 20 = InfAuslR 2008, 156 = DÖV 2008, 334 = www.bverwg.de, Rn. 14 ff.).

Zu diesem Zeitpunkt scheidet eine zwingende Ausweisung aus, weil der Kläger besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG genießt. Denn er hat im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings (§ 3 Abs. 4 AsylVfG) inne, weil das Bundesamt mit Bescheid vom 9. Dezember 2008 festgestellt hat, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in Bezug auf den Irak erfüllt sind (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 8. Februar 2005 1 C 29.03 , BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087 = juris, Rn. 15; BT-Drs. 16/5065, S. 187).

Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG wird ein Ausländer bei Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 53, 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zwar in der Regel ausgewiesen.

Hinsichtlich des Klägers liegt ein solcher Regelfall jedoch nicht vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), der die Kammer folgt, liegt ein Ausnahmefall von der Regelausweisung vor, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der EMRK geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Oktober 2007 – 1 C 10.07 –, BVerwG 129, 367 = InfAuslR 2008, 116 = juris, Rn. 24 f.).

Dies ist hinsichtlich des Klägers aus doppeltem Grunde der Fall. Zum einen führt er ausweislich der Akten im Bundesgebiet eine eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner über eine Niederlassungserlaubnis verfügenden Ehefrau, so dass der Schutzbereich des Grundrechts auf Ehe- und Familienleben (Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK) berührt ist. Zum anderen berührt die Ausweisung seine Rechtsstellung als Flüchtling nach Gemeinschaftsrecht in Form der Art. 9 ff., 24 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 (sogenannte Qualifikationsrichtlinie, nachfolgend Richtlinie) sowie seine Rechtsstellung nach der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 (GFK).

Folglich darf eine rechtmäßige Ausweisung des Klägers nur nach Ermessen (§ 55 AufenthG) erfolgen.

b) Der Kläger erfüllt den Tatbestand des § 55 Abs. 1 und 2 Nr. 2 AufenthG. Durch die abgeurteilte Vergewaltigung (§ 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB) hat er einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen.

c) Der Beklagte hat aber nicht in der angefochtenen Verfügung, sondern erstmals mit Schriftsatz vom 3. April 2009 im gerichtlichen Verfahren auf § 55 Abs. 1 und 2 Nr. 2 AufenthG gestützte Ermessenserwägungen vorgenommen. Diese darf das erkennende Gericht nicht berücksichtigen.

aa) Die Zulässigkeit einer erstmaligen Ermessensausübung im Verwaltungsprozess ist an den materiellrechtlichen Vorgaben des jeweiligen Fachrechts, an dem Verwaltungsverfahrensrecht und an dem Verwaltungsprozessrecht zu prüfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Mai 1998 – 1 C 17.97 –, BVerwGE 106, 351).

Die materiellrechtlichen Vorgaben des AufenthG stehen einer erstmaligen Ermessensausübung im Verwaltungsprozess nicht entgegen. [...]

Auch das Verwaltungsverfahrensgesetz NRW, insbesondere dessen § 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, steht einer erstmaligen Ermessensausübung im Verwaltungsprozess nicht entgegen (vgl. auch zum VwVfG des Bundes BVerwG, Urteil vom 5. Mai 1998 – 1 C 17.97 –, BVerwGE 106, 351).

Aber nach der VwGO ist das erstmalige Ausübung des Ermessens im Verwaltungsprozess nicht zulässig.

Das BVerwG hat die Frage einer Zulässigkeit der erstmaligen Ermessensausübung im Prozess zwar im Urteil vom 15. November 2007 1 C 45.06 ausdrücklich offen gelassen (Rn . 21).

In dazu zeitnahen anderen Entscheidungen hat es jedoch eine erstmalige Ermessensausübung im Prozess ausdrücklich abgelehnt (vgl. Urteile vom 23. Oktober 2007 – 1 C 10.07 –, a.a.O., Rn. 30, und vom 5. September 2006 – 1 C 20.05 –, NVwZ 2007, 470 = AuAS 2007, 3; s. auch OVG Niedersachsen, Beschluss vom 23. März 2009 – 10 LA 438/08 –, juris, Rn. 10; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Juli 2008 – 11 S 2889/07 –, InfAuslR 2008, 429 = juris, Rn. 70).

§ 114 Satz 2 VwGO lässt nach seinem Wortlaut und Zweck eine erstmalige Ermessensausübung im Verwaltungsprozess nicht zu. Danach kann die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nur ergänzen (vgl. BVerwG, Urteile vom 5. Mai 1998 – 1 C 17.97 –, BVerwGE 106, 351, vom 16. Juni 1997 – 3 C 22.96 –, BVerwGE 105, 55, und vom 7. Juli 1998 – 5 C 14.97 – BVerwGE 107, 164; Beschluss vom 14. Januar 1999 – 6 B 133.98 –, NJW 1999, 2912). [...]

bb) Im Übrigen ist die im Schriftsatz vom 3. April 2009 enthaltene Ermessensausübung des Beklagten materiell rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Zwar ist diese Ermessensausübung trotz der Bezugnahme des Beklagten auf Möglichkeiten einer Abschiebung des Klägers dahingehend auszulegen, dass eine Aufenthaltsbeendigung während der Innehabung der Flüchtlingseigenschaft und damit auf absehbare Zeit nicht beabsichtigt ist. Die Ausweisung soll nur dem Zweck dienen, einen Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auszuschließen. Dieser Zweck kann eine Ausweisung rechtfertigen (vgl. zum AuslG 1990 auch BVerwG, Urteil vom 31. August 2004 – 1 C 25.03 –, BVerwGE 121, 356).

Die Ausweisung des Klägers ist aber nicht geeignet, einen Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auszuschließen.

(1) Der Kläger hat als anerkannter Flüchtling dem Grunde nach einen solchen Anspruch nach §§ 25 Abs. 2 Satz 1, 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Um diesen auszuschließen, muss der Beklagte schon nach nationalem Recht gemäß § 25 Abs. 2 Satz 2, Abs. 1 Satz 2 AufenthG eine Ausweisung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erlassen. [...]

Die Ermessensausübung ist jedenfalls rechtswidrig, weil der Beklagte die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben außer Acht gelassen hat. Eine Ausweisung, die wie hier dem Zweck dient, einen Anspruch eines anerkannten Flüchtlings auf Erteilung eines Aufenthaltstitels auszuschließen, muss den Anforderungen des Art. 24 Abs. 1 bzw. des Art. 21 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG entsprechen. Dies ist hier nicht der Fall, so dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG bisher nicht ausgeschlossen ist.

Nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie stellen die Mitgliedstaaten sobald wie möglich nach Zuerkennung des Flüchtlingsstatus unbeschadet des Art. 21 Abs. 3 der Richtlinie einen Aufenthaltstitel aus, es sei denn, zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung stehen dem entgegen.

Ein Aufenthaltstitel in diesem Sinne ist nur ein Titel im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, denn er muss nach Art. 2 lit. j) der Richtlinie den Aufenthalt gestatten. Eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG, auf die der Kläger im Falle der rechtmäßigen Ausweisung gemäß § 25 Abs. 2 Satz 2, Abs. 1 Satz 2 AufenthG verwiesen ist, gestattet den Aufenthalt nicht.

Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung gemäß Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie liegen hinsichtlich des Klägers nicht vor. Was unter ihnen zu verstehen ist, wird in der Richtlinie nicht näher definiert. Während der Schutz der öffentlichen Sicherheit nur die innere oder äußere Sicherheit des Staates betreffen dürfte (vgl. zu dem Art. 30 EG entsprechenden Art. 36 EWGV EuGH, Urteile vom 10. Juli 1984, Rs. 72/83, Campus Oil, Slg. 1984, 2727, Rn. 33 f., vom 4. Oktober 1991, C-367/89, Richardt, Slg. 1991, I-4621 Rn. 22 f., und vom 17. Oktober 1995, C-70/94, Werner, Slg. 1995, I-3189 Rn. 24 bis 27), unterfällt der Schutz vor Straftaten der öffentlichen Ordnung (vgl. EuGH, Urteil vom 29. April 2004, C-482/01 und C-493/01, Orfanopoulos und Oliveri, a.a.O., Rn. 62 f.).

Hinsichtlich des Klägers muss in Ansehung seiner Straftat und der nachvollziehbaren Darlegungen der Strafvollstreckungskammer zwar von einer gewissen Gefahr der Wiederholung von Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ausgegangen werden. Diese begründet aber keine zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie. Zur Auslegung dieser Vorschrift kann auf Art. 28 Abs. 3 der ebenfalls am 29. April 2004 verabschiedeten Richtlinie 2004/38/EG, der sogenannten Freizügigkeits- bzw. Unionsbürger-Richtlinie, zurückgegriffen werden (a. A. Hailbronner, Ausländerrecht, A1 § 25 Rn. 27).

Danach darf gegen einen Unionsbürger, der seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt hat, eine Ausweisung nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt werden, verfügt werden. Diese Vorschrift enthält die dritte und höchste Stufe des gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutzes und geht über den in Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG enthaltenen Schutz der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, welche über ein Daueraufenthaltsrecht (nach mindestens fünfjährigem rechtmäßigem Aufenthalt) verfügen, deutlich hinaus. In Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie der zweiten Stufe werden vom Wortlaut her wie in § 25 Abs. 2 Satz 2, Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorausgesetzt.

Angesichts der Schutzniveaus, dass die Richtlinie 2004/83/EG für Flüchtlinge unter Beachtung der GFK vorsieht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Richtliniengesetzgeber mit dem Ausschlussgrund der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG andere bzw. substantiell geringere Anforderungen an den Ausschlussgrund stellen wollte, als an den gleichlautenden Ausweisungsgrund nach Art. 28 Abs. 3 der am selben Tage beschlossenen Richtlinie 2004/38/EG.

Der Bundesgesetzgeber bestimmt in dem zur Umsetzung des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG erlassenen § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU, dass zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit nur dann vorliegen, wenn wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten eine rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren vorliegt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder von dem Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht. All dies ist hinsichtlich des Klägers nicht der Fall, insbesondere erreicht seine rechtskräftige Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten ersichtlich nicht die gesetzliche Grenze von fünf Jahren.

Zudem ist die Ermessensausübung des Beklagten richtlinien- und damit rechtswidrig, weil er nicht nur Gründe der Spezial-, sondern auch der Generalprävention herangezogen hat. Der Wortlaut und der Sinn und Zweck des Vorbehalts der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG erlaubt allein spezialpräventive Erwägungen, nicht aber generalpräventive Ziele. Die Vorschrift weist eine Parallele auf zu den nun in Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38/EG kodifizierten gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen bei der Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger und Assoziationsberechtigter (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 29. April 2004 - C-482/01 und C-493/01 (Orfanopoulos und Oliveri), DVBl. 2004, 876; BVerwG, Urteile vom 3. August 2004 – 1 C 29.02 und 1 C 30.02 –, BVerwGE 121, 315, und BVerwGE 121, 297) und ist dementsprechend auszulegen. Mit gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen ist es unvereinbar, die Ausweisung auf andere als in der persönlichen Gefährlichkeit des Ausländers liegende generalpräventive Erwägungen zu stützen (ebenso zu Art. 14 ARB 1/80 BVerwG, Urteil vom 13. September 2005 – 1 C 7.04 –, BVerwGE 124, 217 = InfAuslR 2006, 110 (113) = juris, Rn. 23).

Ob danach eine Ermessensausübung bereits dann rechtswidrig ist, wenn neben selbständig tragenden spezialpräventiven Erwägungen davon getrennt auch generalpräventive Gründe angeführt werden (so wohl BVerwG, Urteile vom 13. September 2005 – 1 C 7.04 –, a.a.O., und vom 3. August 2004 – 1 C 30.02 –, a.a.O., Rn. 24 f.), ist hier unerheblich. Denn der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass er die Ermessensausübung nicht alternativ, sondern kumulativ auf das Vorliegen spezial- und generalpräventiver Gründe gestützt hat.

Der in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie bezeichnete Art. 21 Abs. 3 der Richtlinie begründet kein anderes Ergebnis. [...]

Es spricht viel dafür, dass einem anerkannten Flüchtling die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch nach Maßgabe des Art. 21 Abs. 3 und 2 verweigert werden darf, weil Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie die Ausstellung eines Aufenthaltstitels nur "unbeschadet des Artikel 21 Absatz 3" gebietet. [...]

Wenn Art. 21 Abs. 3 und 2 der Richtlinie danach anwendbar ist, liegen jedenfalls dessen Voraussetzungen nicht vor. Wie Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie erlaubt die Vorschrift eine Ablehnung eines Aufenthaltstitels nur aus spezialpräventiven Gründen. Nach Art. 21 Abs. 3 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gegenüber einem Flüchtling ablehnen, wenn Art. 21 Abs. 2 auf die betreffende Person Anwendung findet. Dieser setzt entweder stichhaltige Gründe für die Annahme voraus, dass er, der Flüchtling, eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt (Art. 21 Abs. 2 lit. a) oder dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde (Art. 21 Abs. 2 lit. b). Dies verbietet eine Berücksichtigung generalpräventiver Zwecke, wie sie der Beklagte vorgenommen hat. Nach ihrem Wortlaut sind die Tatbestände des Art. 21 Abs. 3 und 2 der Richtlinie allein auf den Flüchtling, nicht auf Dritte bezogen. Eine solche Auslegung entspricht auch den gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 13. September 2005 – 1 C 7.04 –, a.a.O.).

(2) Die Ausweisung des Beklagten könnte zwar im Ansatz geeignet sein, einen Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AufenthG zu sperren (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG), weil insoweit weder Verfassungsrecht noch Gemeinschaftsrecht entgegenstehen. Infolge seines Anspruchs aus § 25 Abs. 2 AufenthG ist eine solche Eignung im Ergebnis jedoch nicht gegeben. [...]

Die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG greift nämlich nicht gegenüber einem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als Flüchtling. Als anerkannter Flüchtling hat der Kläger grundsätzlich einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Gemäß § 25 Abs. 2 Satz 2, Abs. 1 Satz 2 AufenthG hindert nur eine Ausweisung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung diesen Anspruch (vgl. auch Burr, in Gemeinschaftskommentar zum AufenthG, II-§ 25 Rn. 18; Hailbronner, Ausländerrecht, A1 § 25 Rn. 29 ff.; Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., § 25 AufenthG Rn. 15 bis 18).

Da die angefochtene Ausweisung einen Anspruch des Klägers nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht auszuschließen vermag, könnte der Beklagte mit der Ausweisung nicht bewirken, dass dem Kläger ausschließlich eine Duldung erteilt werden muss. Auch räumt die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG auf Grund der allgemeinen Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ 4 Abs. 2, § 25 Abs. 2 Satz 2, Abs. 1 Satz 4 AufenthG), der dreijährigen Dauer (§ 26 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) und der Aussicht auf eine daran anschließende Niederlassungserlaubnis (§ 26 Abs. 3 AufenthG) gegenüber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AufenthG weitergehende Rechte ein. Auch in Ansehung der systematischen Unterschiede zwischen Aufenthaltstiteln des 5. bzw. 6. Abschnitts des 2. Kapitels des AufenthG (vgl. BVerwG, Urteile vom 4. September 2007 – 1 C 43.06 –, BVerwGE 129, 226, und vom 27. Januar 2009 – 1 C 40.07 –, juris, Rn. 8), ist eine Rechtfertigung für die Ausweisung daher nicht gegeben. Zudem sind für andere Ausländer, hinsichtlich derer der Beklagte mit der Ausweisung des Klägers generalpräventive Zwecke erreichen möchte, keine den Kläger betreffenden ausländerrechtlichen Konsequenzen erkennbar, wenn diesem eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erteilt werden muss.

2. Die angefochtene Abschiebungsandrohung ist materiell rechtswidrig.

Zwar war sie bei Erlass der angefochtenen Verfügung am 13. Februar 2008 rechtmäßig. Entscheidungserheblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der materiellen Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung ist aber – jedenfalls wenn diese der Vollziehung einer Ausweisung dient – der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Januar 2009 – 1 C 2.08 –, juris, Rn. 31; BayVGH, Beschluss vom 3. September 2008 – 19 B 07.2762 -, juris, Rn. 27, unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 15. November 2007 – 1 C 45.06 –, a.a.O.).

Der Kläger ist zwar im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung unabhängig von der Rechtmäßigkeit bzw. Wirksamkeit der Ausweisung (vollziehbar) ausreisepflichtig (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Februar 2009 – 18 A 2620/08 –, www.nrwe.de), weil er keinen Aufenthaltstitel besitzt (§ 50 Abs. 1, § 59 Abs. 1 AufenthG) und erst mehr als zweieinhalb Jahre nach Ablauf der Aufenthaltserlaubnis einen Antrag auf Erteilung einer neuen Aufenthaltserlaubnis gestellt hat (§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. Februar 2008 – 18 B 1607/07 –, www.nrwe.de).

Weil der Kläger aber durch den Bescheid des Bundesamtes vom 9. Dezember 2008 gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG als Flüchtling anerkannt ist, ist die Abschiebungsandrohung rechtswidrig. Die Rechtswidrigkeit beschränkt sich nicht nur auf die Bestimmung des Zielstaats Irak 8vgl. zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 – 10 C 8.07 –, BVerwGE 129, 251 = juris, Rn. 18 bis 259, sondern folgt aus § 60 Abs. 10 AufenthG. [...]