OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.05.2009 - 18 B 421/09 - asyl.net: M15894
https://www.asyl.net/rsdb/M15894
Leitsatz:

Für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis ist ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt.

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, nachträgliche Befristung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Sofortvollzug, Integration, Rechtsweggarantie
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AufenthG § 7 Abs. 2 S. 2; AufenthG § 84 Abs. 1; GG Art. 19 Abs. 4
Auszüge:

Für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis ist ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt.

(Amtlicher Leitsatz)

 

[...]

Die Beschwerde hat Erfolg. Die Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO fällt zu Lasten des Antragsgegners aus. [...]

Zwar spricht Überwiegendes dafür, dass sich die angefochtene Verfügung im Hauptsacheverfahren 7 K 8986/08 als rechtmäßig erweisen wird, weil die Voraussetzungen für die nachträgliche Verkürzung der Frist der Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe des § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG wegen der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft vorgelegen haben dürften. [...]

Die Beschwerde hat jedoch Erfolg, weil es für die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Verkürzung der Frist der der Antragstellerin erteilten Aufenthaltserlaubnis am erforderlichen Vollzugsinteresse fehlt; dies ist mit der Beschwerde auch noch hinreichend gerügt worden, § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO.

Für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis, die als schwerwiegende Maßnahme nicht selten tief in das Schicksal des Betroffenen eingreift und deren Gewicht durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung zusätzlich verschärft wird, ist ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (vgl. speziell zur nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis: BVerfG, Beschlüsse vom 25. Januar 1996 - 2 BvR 2718/95 -, AuAS 1996, 62 -, und vom 29. März 2007 - 2 BvR 1977/06 -, NVwZ 2007, 948 (Ausweisung)).

Der Rechtsschutzanspruch des betroffenen Ausländers ist dabei um so stärker und darf um so weniger zurückstehen, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt. Das für den Zeitraum bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens festzustellende öffentliche Interesse muss deshalb von einem solchem Gewicht sein, dass es das schutzwürdige Interesse des Ausländers an der Erhaltung des Suspensiveffektes überwiegt (vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 6. Juni 2008 - 19 CS 08.1233 -, juris; Hess VGH, Beschlüsse vom 30. Juli 2007 - 9 TG 1360/07 -, AuAS 2007, 254, und vom 12. März 1997 - 13 TG 1591/96 -, AuAS 1997, 134 = ZAR 1997, 144 (Ls); OVG Hamburg, Beschluss vom 1. März 1995 - Bs V 327/94 -, InfAuslR 1995, 314 = AuAS 1995, 146).

Ein in diesem Sinne überwiegendes öffentliches Interesse ist nicht erkennbar.

Ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung besteht nicht darin, die Antragstellerin, die die Voraussetzungen eines Aufenthaltstitels nicht mehr erfüllt, alsbald zur Ausreise zu verpflichten (vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 6. Juni 2008, a.a.O.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. November 2007 - 11 S 1702/07 -, ZAR 2008, 66; Hess. VGH, Beschluss vom 12. März 1997, a.a.O.; OVG Hamburg, Beschluss vom 1. März 1995, a.a.O.).

Zwar beeinträchtigt die Unrechtmäßigkeit des Aufenthalts nach Ablauf der verkürzten Aufenthaltserlaubnis das öffentliche Interesse an der Einhaltung aufenthaltsrechtlicher Vorschriften. Diese Beeinträchtigung ist jedoch nicht von solchem Gewicht, dass sie für sich genommen die unverzügliche Entfernung der Antragstellerin aus dem Bundesgebiet rechtfertigt. Einer solchen Annahme steht bereits entgegen, dass der Gesetzgeber durch die Regelung des § 84 Abs. 1 AufenthG zu erkennen gegeben hat, im Falle des § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG im Regelfall keinen das Abwarten des Hauptsacheverfahrens entgegenstehenden unverzüglichen Handlungsbedarf zu sehen, es vielmehr beim Grundsatz des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO bleiben sollte, wonach dem Widerspruch/der Klage aufschiebende Wirkung zukommt. Die infolge dessen bestehende aufschiebende Wirkung einer Klage gegen einen auf § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gestützten Bescheid und die hieran anknüpfende Möglichkeit während des Rechtsmittelverfahrens im Bundesgebiet zu bleiben, ist daher Folge des gesetzlichen, durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Rechtsschutzsystems (vgl. Senatsbeschluss vom 16. März 2009 - 18 B 1710/08 -, juris, entsprechend zur Rücknahme einer Niederlassungserlaubnis).

Da die nachträgliche Verkürzung nicht dazu dient, konkrete Gefahren, die mit dem weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet verbunden sein können, unmittelbar auszuräumen, lässt sich die Anordnung der sofortigen Vollziehung weiter nicht damit begründen, die nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu treffende Entscheidung über die nachträgliche Verkürzung der Frist der Aufenthaltserlaubnis indiziere die Notwendigkeit der sofortigen Vollziehung. Die nachträgliche Verkürzung der Frist dient regelmäßig allein dem Zweck, den durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis legitimierten Aufenthalt des Ausländers vorzeitig beenden zu können, weil eine für die Erteilung, die Verlängerung oder die Bestimmung der Geltungsdauer der Aufenthaltsgenehmigung wesentliche Voraussetzung entfallen ist (vgl. Hess. VGH, Beschlüsse vom 30. Juli 2007, a.a.O. und vom 12. März 1997, a.a.O.).

Eine eventuell bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu erwartende faktische Integration der Antragstellerin lässt gleichfalls keine, eine sofortige Aufenthaltbeendigung rechtfertigende Beeinträchtigung oder Gefährdung der Interessen der Bundesrepublik Deutschland erkennen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. März 1997, - 13 S 1132/96 -, InfAuslR 1997, 358).

Ob eine solche im Falle der Antragstellerin zu erwarten ist, ist ohnehin zweifelhaft, da sowohl der Antragsgegner als auch das Verwaltungsgericht auf in der Vergangenheit fehlende Integrationsleistungen der Antragstellerin verwiesen haben. Letzteres mag dazu führen, dass die aufenthaltsrechtliche Position der Antragstellerin, wie vom Antragsgegner und vom Verwaltungsgericht angenommen, wenig schützenswert ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. November 2007, a.a.O.).

Inwieweit indes die bei der Antragstellerin allein beanstandeten fehlenden Deutschkenntnisse und deren unregelmäßige Teilnahme an Integrationskursen für sich gesehen geeignet sind, zu einer die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtfertigenden Beeinträchtigung öffentlicher Interessen zu führen, ist jedoch nicht erkennbar. [...]