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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 09.06.2009 - 1 C 7.08 - asyl.net: M15924
https://www.asyl.net/rsdb/M15924
Leitsatz:

1. Ein Ausländer kann die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nur beanspruchen, wenn er ein schutzwürdiges Interesse hieran hat (stRspr des Senats).

2. Ein hinreichend qualifizierter Verstoß eines Mitgliedstaates gegen Gemeinschaftsrecht, der einen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch begründen kann, liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn es sich bei einer zugrundeliegenden Rechtsfrage um eine noch nicht geklärte gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfrage handelt. (Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltstitel, Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG, Rückwirkende Erteilung, Rechtsschutzbedürfnis, Amtshaftungsanspruch, gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch, Daueraufenthaltsrichtlinie, EuGH, Verschulden
Normen: RL 2003/109/EG Art. 3 Abs. 2 Bst. c
Auszüge:

[...]

Die Revision ist auch begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt, soweit es noch Gegenstand des Revisionsverfahrens ist, Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat der Klage insoweit zu Unrecht stattgegeben. Dem Kläger fehlt für das von ihm noch verfolgte Begehren auf rückwirkende Erteilung einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Damit ist die Klage insoweit unzulässig.

Nach der Rechtsprechung des Senats kann ein Ausländer die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach der Antragstellung nur beanspruchen, wenn er ein schutzwürdiges Interesse hieran hat. Dies gilt unabhängig davon, ob der Aufenthaltstitel für einen späteren Zeitpunkt bereits erteilt worden ist oder nicht. In diesem Sinne hat der Senat ein schutzwürdiges Interesse angenommen, wenn es für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich sein kann, von welchem Zeitpunkt an der Ausländer den begehrten Aufenthaltstitel besitzt (Urteile vom 27. Januar 2009 - BVerwG 1 C 40.07 - DVBl 2009, 650 und vom 29. September 1998 - BVerwG 1 C 14.97 - Buchholz 402.240 § 24 AuslG 1990 Nr. 3 m.w.N.). Im Fall des Klägers ist ein schutzwürdiges Interesse an der Erteilung einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG für einen vor dem 3. Dezember 2008 liegenden Zeitpunkt weder dargelegt noch sonst ersichtlich.

Die begehrte rückwirkende Erteilung kann sich auf die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung des Klägers nicht auswirken. Sein Aufenthalt war im streitgegenständlichen Zeitraum rechtmäßig, da er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG war. Mit der ihm inzwischen erteilten Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG verfügt er über einen unbefristeten, von keinem Aufenthaltszweck abhängigen Aufenthaltstitel. Damit ist eine weitergehende, von der Dauer des Besitzes eines bestimmten Aufenthaltsrechts abhängige rechtliche Verfestigung seiner ausländerrechtlichen Stellung nicht (mehr) möglich. Auch für einen Einbürgerungsanspruch käme es nicht darauf an, seit wann der Kläger im Besitz eines unbefristeten Aufenthaltsrechts ist. [...] Ein schutzwürdiges Interesse an einer rückwirkenden Erteilung ergibt sich schließlich auch nicht aus dem Umstand, dass der Kläger nach Angaben seines Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung beabsichtigt, wegen der nach seiner Auffassung verspäteten Erteilung der Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG und des ihm entstandenen finanziellen Schadens infolge der Versagung des Nachzugs seiner Ehefrau eine Schadensersatzklage zu erheben. Unabhängig davon, ob diesem Vorbringen überhaupt ein durch das Verhalten des Beklagten verursachter finanzieller Schaden dargetan ist, führt das Vorbringen jedenfalls deshalb nicht auf ein schutzwürdiges Interesse, weil eine - vor den Zivilgerichten zu erhebende - Schadensersatzklage offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hätte.

Da im Mittelpunkt des Streits die Frage steht, ob die ursprüngliche Weigerung des Beklagten, dem Kläger eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG zu erteilen, im Einklang mit Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109/EG vom 25. November 2005 (Daueraufenthaltsrichtlinie) steht, kommt als Anspruchsgrundlage in erster Linie der vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) entwickelte gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch in Betracht. Dessen Schutzbereich ist weiter als bei einem Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG, da er auch Verstöße des nationalen Gesetzgebers und - entgegen § 839 Abs. 2 BGB - auch eines letztinstanzlich entscheidenden nationalen Gerichts erfasst (BGH, Urteil vom 11. September 2008 - III ZR 212/07 - BGHZ 178, 51).

Die Voraussetzungen für einen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch liegen hier aber ersichtlich nicht vor. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist ein Mitgliedstaat bei einem Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht zum Schadensersatz verpflichtet, unabhängig davon, welches mitgliedstaatliche Organ durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß begangen hat, sofern die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, haben die nationalen Gerichte unter Beachtung der vom EuGH entwickelten Leitlinien festzustellen. Ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht ist nach der Rechtsprechung des EuGH hinreichend qualifiziert, wenn der betreffende Mitgliedstaat bei der Wahrnehmung seiner Rechtsetzungsbefugnis die Grenzen offenkundig und erheblich überschritten hat, die der Ausübung seiner Befugnisse gesetzt sind. Hierbei sind alle Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die für den zu entscheidenden Sachverhalt kennzeichnend sind. Dazu gehören insbesondere das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, die Vorsätzlichkeit des Verstoßes und die Entschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums. Die Anwendung dieser Kriterien auf den konkreten Fall obliegt den nationalen Gerichten, die dabei die vom EuGH entwickelten Leitlinien zu berücksichtigen haben (vgl. EuGH, Urteile vom 4. Juli 2000 - Rs. C-424/97, Haim - Slg. 2000, I-5123 Rn. 35 ff., vom 30. September 2003 - Rs. C-224/01, Köbler - Slg. 2003, I-10239 Rn. 30 ff. und vom 13. Juni 2006 - Rs. C-173/03, Traghetti del mediterraneo SpA - Slg. 2006, I-5177 Rn. 43 ff.; BGH, Urteil vom 22. Januar 2009 - III ZR 233/07 - WM 2009, 621 m.w.N. zu seiner Rspr).

Dabei kann hier offen bleiben, ob überhaupt ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht vorliegt. Selbst wenn man unterstellt, dass dem Kläger nach der Daueraufenthaltsrichtlinie schon zu einem früheren Zeitpunkt eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG hätte erteilt werden müssen, fehlt es zumindest an einem hinreichend qualifizierten Verstoß. Nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. c der Daueraufenthaltsrichtlinie findet diese keine Anwendung auf Drittstaatsangehörige, denen der Aufenthalt aufgrund subsidiärer Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen, nationalen Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten genehmigt wurde. Wann dies der Fall ist, ist unklar, zumal der Begriff "subsidiäre Schutzformen" in der Daueraufenthaltsrichtlinie - anders als etwa der Begriff des subsidiären Schutzes in Art. 2 Buchst. c i.V.m. Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie) - nicht definiert wird. Der Umstand, dass nach dem Wortlaut auch bloße Praktiken der Mitgliedstaaten genügen, dürfte eher für eine weite Auslegung dieses Ausschlussgrundes sprechen. Letztlich kommt es für das Bestehen eines Schadensersatzanspruchs aber nicht entscheidend darauf an, ob sich Art. 3 Abs. 2 Buchst. c der Daueraufenthaltsrichtlinie - wie der Kläger meint - nur auf Personen bezieht, die nach der Qualifikationsrichtlinie subsidiären Schutz genießen oder ob und ggf. in welchem Umfang der Ausschlussgrund auch Personen erfasst, denen in einem Mitgliedstaat aus sonstigen humanitären Gründen der Aufenthalt erlaubt worden ist. Denn hierbei dürfte es sich um eine gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfrage handeln, die vom EuGH noch nicht geklärt worden ist. Zudem stellt sich hier die Frage, ob der Kläger möglicherweise auch dem Ausschlussgrund des Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Daueraufenthaltsrichtlinie unterfällt, da er im streitgegenständlichen Zeitraum eine Umschulung als Bauzeichner absolvierte. Hinsichtlich beider Ausschlussgründe liegen im Fall des Klägers unterschiedliche verwaltungsgerichtliche Entscheidungen vor. Während das Verwaltungsgericht Aachen im Ausgangsverfahren einen Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG bejaht hat und hierbei von der Anwendbarkeit der Daueraufenthaltsrichtlinie ausgegangen ist, hat das Verwaltungsgericht Berlin im Februar 2007 die vom Kläger und seiner Ehefrau erhobene Klage auf Erteilung eines Visums zum Ehegattennachzug als Kollegialgericht abgewiesen. In diesem Zusammenhang ist das Verwaltungsgericht Berlin zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. c und wegen der laufenden Umschulung zugleich nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Daueraufenthaltsrichtlinie von deren Anwendungsbereich ausgeschlossen ist. Bei dieser Sachlage scheidet ein qualifizierter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht von vornherein aus. Mangels Entscheidungserheblichkeit kommt im vorliegenden Verfahren auch keine Anrufung des EuGH zur Auslegung des Art. 2 Abs. 3 Buchst c der Daueraufenthaltsrichtlinie in Betracht.

Die Voraussetzungen eines Amtshaftungsanspruchs liegen ebenfalls nicht vor, da der Beklagte jedenfalls nicht schuldhaft gehandelt hat. Daran fehlt es bei einem behördlichen Handeln regelmäßig, wenn ein mit mehreren Berufsrichtern besetztes Kollegialgericht die Amtstätigkeit als objektiv rechtmäßig angesehen hat (vgl. Beschluss vom 3. Mai 2004 - BVerwG 6 B 17.04 - Buchholz 310 § 43 VwGO Nr. 139 mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung des BVerwG und des BGH). Dies ist hier der Fall, da das Verwaltungsgericht Berlin - wie oben ausgeführt - die vom Kläger und seiner Ehefrau erhobene Klage auf Erteilung eines Visums zum Ehegattennachzug als Kollegialgericht abgewiesen hat und dabei davon ausgegangen ist, dass der Kläger vom Anwendungsbereich der Daueraufenthaltsrichtlinie ausgeschlossen ist. [...]