VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 22.06.2009 - A 11 K 4486/07 - asyl.net: M15947
https://www.asyl.net/rsdb/M15947
Leitsatz:

1. Für die Behandlung psychisch kranker und traumatisierter Personen in Bosnien-Herzegowina fehlt es an ausreichend qualifizierten Ärzten und an klinischen Psychologen und Sozialarbeitern. Therapien beschränken sich überwiegend auf Medikamentengaben.

2. Rückkehrer nach Bosnien-Herzegowina können nur dann Mitglied der staatlichen Krankenversicherung werden, wenn sie sich innerhalb von 30 Tagen nach der Wiedereinreise beim Arbeitsamt als arbeitslos melden und wenn sie schon vor der Ausreise krankenversichert waren.

3. Die Sozialhilfeleistungen in Bosnien-Herzegowina bewegen sich auf sehr niedrigem Niveau und reichen zum Leben nicht aus.

 

Schlagwörter: Bosnien und Herzegowina, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Situation bei Rückkehr, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

1. Für die Behandlung psychisch kranker und traumatisierter Personen in Bosnien-Herzegowina fehlt es an ausreichend qualifizierten Ärzten und an klinischen Psychologen und Sozialarbeitern. Therapien beschränken sich überwiegend auf Medikamentengaben.

2. Rückkehrer nach Bosnien-Herzegowina können nur dann Mitglied der staatlichen Krankenversicherung werden, wenn sie sich innerhalb von 30 Tagen nach der Wiedereinreise beim Arbeitsamt als arbeitslos melden und wenn sie schon vor der Ausreise krankenversichert waren.

3. Die Sozialhilfeleistungen in Bosnien-Herzegowina bewegen sich auf sehr niedrigem Niveau und reichen zum Leben nicht aus.

(Amtliche Leitsätze)

 

[...]

Beim Kläger zu 1 liegt aber ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor. Das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots ist deshalb auf Null reduziert (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). [...]

Nach dem vom Gericht eingeholten psychiatrisch-psychotherapeutischen Gutachten der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Furtbachkrankenhauses (Universitätsdozent Dr. E. und Dr. G.) vom 03.04.2009 leidet der Kläger zu 1 an einer andauernden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung. Diese chronische Erkrankung sei auf anhaltende, schwerwiegende, lebensbedrohliche Erlebnisse des Klägers zu 1 während dessen Lagerhaft 1992 bis 1993 in einem serbischen Gefangenenlager, in dem der Kläger zu 1 als Zivilist ohne direkte Kriegsbeteiligung deportiert worden sei, zurückzuführen. Eine psychische Reaktion auf diese schwerst bedrohlichen Ereignisse habe sich erst verzögert eingestellt, was bei posttraumatischen Belastungsstörungen häufig der Fall sei, deren typische Merkmale beim Kläger zu 1 anamnestisch feststellbar seien. [...] Der Kläger zu 1 benötige zahlreiche Medikamente, die er dauerhaft und regelmäßig einnehmen müsse. Ein Absetzen oder eine unregelmäßige Einnahme hätte eine gravierende psychische und physische Verschlechterung des Gesundheitszustandes zur Folge. Neben der notwendigen medikamentösen Behandlung bedürfe der Kläger zu 1 einer kontinuierlichen psychiatrisch-psychotherapeutischen und sozialpsychiatrischen Behandlung. Die begonnene muttersprachlich stützende psychotherapeutische Behandlung müsse weitergeführt werden. [...]

Unter Berücksichtigung der in die mündliche Verhandlung eingeführten Erkenntnisquellen ist bereits zweifelhaft, ob über Leistungen der staatlichen Krankenversicherung die vom Kläger zu 1 benötigten Medikamente in Bosnien-Herzegowina bezogen werden können. Denn selbst die sogenannten Pflichtarzneimittel (Medikamente, die ständig verfügbar und für die Patienten weitgehend kostenlos zu beziehen sind) sind in manchen Kantonen nur gegen Entrichtung des vollen Preises zu erhalten, weil dort die jährlich zu aktualisierenden diesbezüglichen Listen nicht existieren (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27.05.2008, S. 24). Angesichts dessen ist schon fraglich, ob der Kläger zu 1 - falls er Mitglied der staatlichen Krankenversicherung werden könnte - die für ihn notwendigen Medikamente über die staatliche Krankenversicherung erhalten würde.

Jedenfalls kann die erforderliche medizinische Versorgung im Falle des Klägers zu 1 in Bosnien-Herzegowina nicht gewährleistet werden. Viele medizinische Einrichtungen, vor allem außerhalb Sarajewos, befinden sich in einem schlechten Zustand und die finanzielle Ausstattung des gesamten Gesundheitswesens in Bosnien-Herzegowina ist unzureichend (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27.05.2008, S. 23). Für die Behandlung psychisch kranker und traumatisierter Personen fehlt es weitgehend an ausreichend qualifizierten Ärzten und an klinischen Psychologen und Sozialarbeitern; Therapien beschränken sich überwiegend auf Medikamentengaben (vgl. Auswärtiges Amt a.a.O. S. 24; Schweizerische Flüchtlingshilfe - SFH -, Bosnien-Herzegowina: Registrierung und medizinische Versorgungsmöglichkeiten nach der Rückkehr, 12.03.2007, S. 4, 5). Da die Kapazitäten für die Behandlung von psychisch Kranken und Traumatisierten sowohl in der Republik Srpska als auch im Föderationsgebiet voll ausgelastet sind, so dass Einlieferungen nur in akuten Notfällen erfolgen können (vgl. Auswärtiges Amt ebenda; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bosnien-Herzegowina : Rückkehr einer alleinerziehenden Mutter mit PTBS, 08.01.2009, S. 5), wird eine Fortführung der begonnenen psychiatrischpsychotherapeutische Behandlung des Klägers zu 1, auf die dieser im Falle einer Rückkehr nach Bosnien-Herzegowina dringend angewiesen ist, dort für ihn nicht möglich sein. Zwar gibt es therapeutische Behandlungen in nichtstaatlichen Einrichtungen in Tuzla und Zenica; aber auch diese Einrichtungen sind total überlastet und die Wartezeiten sehr lang (vgl. SFH a.a.O S. 6). Außerdem bieten diese nichtstaatlichen Einrichtungen psychosoziale und psychiatrische Hilfe nur für Frauen an (vgl. SFH, Bosnien-Herzegowina, Aktuelle Situation, insbesondere die Situation verletzlicher Gruppen, Juli 2006, S. 14). Nach dem vom Gericht eingeholten Sachverständigengutachten vom 03.04.2009 wird aber schon eine Unterbrechung der psychiatrisch-psychotherapeutischen und medikamentösen Behandlung des Klägers zu 1 eine erhebliche Verschlechterung von dessen Gesundheitszustand ergeben.

Darüber hinaus ist die notwendige medizinische Versorgung des Klägers zu 1 in Bosnien-Herzegowina in finanzieller Hinsicht ausgeschlossen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger zu 1 die Kosten für die notwendige ärztliche Behandlung und Medikation in Bosnien-Herzegowina bezahlen könnte.

Die Kläger sind mittellos. Auf Grund seiner Erkrankung wird der Kläger zu 1 auch nicht in der Lage sein, seinen Lebensunterhalt in Bosnien-Herzegowina aus eigener Erwerbstätigkeit zu bestreiten. Angesichts einer Arbeitslosenquote von ca. 40 % (vgl. Auswärtiges Amt a.a.O S. 22) ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin zu 2 zukünftig durch Erwerbstätigkeit zum Lebensunterhalt beitragen könnte, abgesehen davon, dass die Klägerin zu 2 die ständige Betreuung des Klägers zu 1 gewährleisten muss und diese in der Regel übernimmt.

Es ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger bei einer Rückkehr in ihr Heimatland Mitglied der seit dem Jahre 2002 in Bosnien-Herzegowina existierenden staatlichen (obligatorischen) Krankenversicherung werden könnten. Denn Rückkehrer können nur dann Mitglied der staatlichen Krankenversicherung werden, wenn sie sich innerhalb von 30 Tagen nach der Wiedereinreise nach Bosnien-Herzegowina beim Arbeitsamt als arbeitslos melden und wenn sie schon vor der Ausreise krankenversichert waren (vgl. SFH, Bosnien-Herzegowina: Behandlung psychischer Erkrankung, 30.04.2009, S. 3). Nach dem glaubhaften Vorbringen der Kläger in der mündlichen Verhandlung wurde ihnen nach ihrer Rückkehr nach Bosnien-Herzegowina im Jahre 1999 eine Registrierung bei der Meldebehörde verweigert. Die Registrierung ist aber für jegliche Art sozialer Unterstützung entscheidend (vgl. SFH, Bosnien-Herzegowina: Behandlung psychischer Erkrankung, 30.04.2009, S. 3). Sie konnten damit nach ihrer Rückkehr im Jahre 1999 nicht Mitglied der staatlichen Krankenversicherung werden (vgl. SFH, Bosnien-Herzegowina: Rückkehr einer alleinerziehenden Mutter mit posttraumatischer Belastung, 08.01.2009, S. 3). Folglich haben die Kläger auch keine Aussicht, bei einer erneuten Rückkehr in ihr Heimatland in die staatliche Krankenversicherung aufgenommen zu werden. Unabhängig hiervon werden Behandlungen in Krankenhäusern von der staatlichen Krankenversicherung nicht übernommen; die Kosten hierfür müssen die Patienten aus eigener Tasche bezahlen, es sei denn, sie sind Mitglied einer privaten Krankenversicherung (vgl. SFH, Bosnien-Herzegowina: Rückkehr einer alleinerziehenden Mutter mit posttraumatischer Belastung, 08.01.2009, S. 4, 6 sowie SFH, Bosnien-Herzegowina, Aktuelle Situation, insbesondere die Situation verletzlicher Gruppen, Juli 2006, S. 9). Der Abschluss einer privaten Krankenversicherung ist angesichts der Vorerkrankungen des Klägers zu 1 nicht realisierbar und würde auch das Budget eines Rückkehrerhaushalts überfordern (vgl. SFH, Bosnien und Herzegowina: Rückkehr einer alleinerziehenden Mutter mit PTBS, 08.01.2009, S. 5 sowie SFH, Bosnien und Herzegowina: Registrierung und medizinische Versorgungsmöglichkeiten nach der Rückkehr, 12.03.2007, S. 4). Der Kläger zu 1 muss somit für die Kosten seiner medizinischen Versorgung in Bosnien-Herzegowina alleine aufkommen.

Die Kläger haben bei einer Rückkehr nach Bosnien-Herzegowina auch keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Ein derartiger Anspruch besteht nur, wenn der Betreffende sich innerhalb von 60 Tagen nach der letzten Kündigung beim Arbeitsamt arbeitslos meldet und weder selbst gekündigt noch die Kündigung zu verantworten hat (vgl. SFH, Bosnien-Herzegowina: Behandlung psychischer Erkrankung, 30.04.2009, S. 3). Da die Kläger in Bosnien-Herzegowina nach ihrer Rückkehr im Jahre 1999 in keinem Arbeitsverhältnis standen, haben sie somit keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Ob die Kläger in Bosnien-Herzegowina Sozialhilfe erhalten könnten, erscheint zweifelhaft, da Sozialhilfe u.a. nur bewilligt wird, wenn ein soziales oder familiäres Netzwerk fehlt (vgl. SFH, Bosnien-Herzegowina: Behandlung psychischer Erkrankung, 30.04.2009, S. 3). Darüber hinaus kann es mehrere Monate bis Jahre dauern, bis das Antragsverfahren abgeschlossen ist; während dieser Zeit gibt es keine anderweitige staatliche Unterstützung (vgl. SFH ebenda). Rückkehrer haben erfahrungsgemäß kaum eine Chance, Sozialhilfe zu erhalten (vgl. SFH, Bosnien-Herzegowina, Aktuelle Situation, insbesondere die Situation verletzlicher Gruppen, Juli 2006, S. 11). Aber selbst wenn die Kläger in Bosnien-Herzegowina Sozialhilfe erhielten, wären sie nicht in der Lage, die medizinische Versorgung des Klägers zu 1 zu gewährleisten. Die Sozialhilfeleistungen in Bosnien-Herzegowina bewegen sich auf sehr niedrigem Niveau; die Höhe der Sozialhilfe liegt umgerechnet zwischen 5 und 50 € und reicht damit als alleinige Einkommensquelle unter Berücksichtigung der lokalen Lebenshaltungskosten zum Leben nicht aus (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27.05.2008, S. 22; SFH, Bosnien-Herzegowina: Behandlung von PTBS, 11.06.2009, S. 5). Da beim Kläger zu 1 monatliche Medikamentenkosten in Höhe von über 300 € entstehen, könnte er selbst bei zustehenden Sozialhilfeleistungen die notwendige ärztliche Behandlung und Medikation in Bosnien-Herzegowina nicht bezahlen.

Es ist schließlich nicht erkennbar, dass Verwandte der Kläger die notwendige dauernde Unterstützung des Klägers zu 1 gewährleisten. [...]

Nach alledem ist davon auszugehen, dass der Kläger zu 1 nicht in der Lage sein wird, die für ihn zur Abwehr einer schweren Gesundheitsgefahr in Bosnien-Herzegowina erforderliche ärztliche Behandlung und Arzneimittelversorgung sicherzustellen. [...]