VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 12.08.2009 - 17 K 5089/07.A - asyl.net: M15963
https://www.asyl.net/rsdb/M15963
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen exilpolitischen Engagements für KOMKAR.

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, exilpolitische Betätigung, KOMKAR, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Reformen, Menschenrechtslage, Folter, Inhaftierung, Situation bei Rückkehr, Separatisten, PSK
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. [...] Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft des Klägers liegen im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, § 77 Abs. 1 S. 1 2. Hs. AsylVfG, nicht vor. [...]

Die Flüchtlingsanerkennung des Klägers erfolgte, da ihm nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts im wesentlichen wegen seines herausgehobenen exilpolitischen Eintretens für die Ziele von KOMKAR mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in die Türkei politisch motivierte Verfolgung drohte. Die maßgeblichen Verhältnisse in der Türkei haben sich seit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hannover vom 14. Dezember 1998 trotz der zwischenzeitlich erfolgten Reformen insbesondere im legislativen Bereich nicht so erheblich und dauerhaft verändert, dass an dieser Wertung im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr festgehalten werden müsste und die Bindungswirkung des Verpflichtungsurteils entfallen würde.

Das Gericht folgt der Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), wonach unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklung auch gegenwärtig vorverfolgt ausgereiste Asylbewerber vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sind. Auch solche Personen, die durch Nachfluchtaktivitäten als exponierte und ernstzunehmende Gegner des türkischen Staates in Erscheinung getreten sind und sich dabei nach türkischem Recht strafbar gemacht haben, müssen im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylrelevanten Übergriffen rechnen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -; Urteil vom 27. März 2007 - 8 A 4728/05,A -, Beschluss vom 10. November 2008 - 8 A 2738108.A -, www.juris.de).

Die Reformen in der Türkei haben noch nicht zu einer so nachhaltig stabilisierten Verbesserung der Menschenrechtslage geführt, dass Personen, die, wie der Kläger, wegen exponierter exilpolitischer Aktivitäten im Zusammenhang mit der Unterstützung der PKK oder einer anderen illegalen Organisation in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten sind, heute bei einer Rückkehr in die Türkei wegen ihrer früheren oder heutigen politischen Überzeugung beziehungsweise ihren exponierten exilpolitischen Aktivitäten keine Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit in Form von Folter oder sonstiger menschenrechtswidriger Behandlung (mehr) zu befürchten hätten.

Zwar hat sich die allgemeine Menschenrechtslage durch die in der Türkei in den letzten Jahren durchgeführten Reformen grundsätzlich sicherlich deutlich verbessert. So ist die Zahl der den Menschenrechtsorganisationen IHD und TIHV gemeldeten Fälle von Folter und sonstiger Misshandlung merklich zurückgegangen und wird die Gefahr, im Justizvollzug Opfer von Misshandlungen durch Sicherheitskräfte zu werden, als unwahrscheinlich eingeschätzt. Die Reformpolitik hat jedoch bisher nicht dazu geführt dass asylrelevante staatliche Übergriffe in der Türkei nicht mehr vorkommen. Vielmehr kommt es auch nach derzeitiger Erkenntnislage weiterhin zu solchen Übergriffen (vgl, den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 29. Juni 2009 (Stand: Mai 2009), S. 4: "Null-Toleranz-Politik: Sie gilt weiterhin grundsätzlich als Richtschnur der Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung durch staatliche Organe. Insgesamt werden jedoch Personen, die verdächtigt werden, Misshandlungen oder Folter begangen zu haben, noch nicht in ausreichendem Maße verfolgt.", S. 18 ff.).

Insbesondere Misshandlungen außerhalb von regulärer Haft finden nach wie vor statt. Seit dem Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen in Südostanatolien und den der PKK zugerechneten Attentaten in Touristenzentren im Jahre 2006 ist sogar wieder ein Anstieg der Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen.

Das Gericht hält auch unter Berücksichtigung des aktuellen Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 29. Juni 2009 weiter an der Einschätzung des OVG NRW fest, welches in den vorstehend genannten Entscheidungen die türkische Reformpolitik der jüngeren Vergangenheit eingehend unter Berücksichtigung der Erkenntnislage gewürdigt und umfassend dargelegt hat, dass eine veränderte Gefährdungsprognose derzeit nicht erkennbar sei (vgl. ebenso z.B. Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteil vom 3. April 2009 - 17 K 7978/08.A -; Urteil vom 24. Oktober 2008 - 17 K 5711/08.A -; Urteil vom 8. September 2008 - 17 K 5556/08.A -, Urteil vom 5. Mai 2008 - 17 K 2291/08.A -).

Aktuellere Erkenntnisse, die zu einer erneuten Überprüfung der Rechtsprechung Anlass geben, sind weder von der Beklagten vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Soweit das Auswärtige Amt in seinem aktuellen Lagebericht ausführt, dass in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden sei, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter, politisch nicht in Erscheinung getretener Asylbewerber menschenrechtswidriger Behandlung oder Folter ausgesetzt war und dies auch für exponierte Mitglieder, führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen oder als solche eingestufte Rückkehrer gelte (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 29. Juni 2009 (Stand: Mai 2009), S. 24, - wobei sich diese Angaben ihrerseits nicht mit den Ausführungen auf S. 16 des Lageberichts in Einklang bringen lassen, dass im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätige und nach türkischen Gesetzen strafbare Personen nach Rückkehr Gefahr laufen, dass sich türkische Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen), wird die der oben genannten Rechtsprechung zugrunde liegende Gefährdungseinschätzung hierdurch nicht in Frage gestellt.

Zum einen hat das Auswärtige Amt Maßnahmen unterhalb der Schwelle von Folter und Misshandlung außer acht gelassen, obwohl auch sie im Einzelfall asylerheblich sein können. Zum anderen lässt allein das fehlende Bekanntwerden solcher Übergriffe mangels jeglicher Darlegung von Referenzfällen nicht den Schluss zu, dass die türkischen Sicherheitskräfte auf die gefährdete Personengruppe (exponierte Mitglieder, führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen oder als solche eingestufte Rückkehrer) nicht mehr zugreifen. Denn nach der bisherigen Erkenntnislage befanden sich unter den abgeschobenen oder zurückgekehrten Personen gerade keine Mitglieder oder Kader der PKK oder einer andern illegalen, bewaffneten Organisation oder der Zugehörigkeit zu einer solchen Organisation verdächtige Personen, bei denen daher mit Übergriffen zu rechnen gewesen wäre (vgl. OVG NRW, Urteil vom 27. März 2007 - 8 A 4728/05.A -, a.a.O.; Beschluss vom 10. November 2008 - 8 A 2738/08.A-, m.w.N., www.juns,de).

Die geänderte Einschätzung wäre daher nur dann gerechtfertigt, wenn sie auf einer Erfassung und Auswertung aller Rückkehrfälle zumindest des letzten Jahres beruhte und sich daraus anhand ausreichend recherchierter Einzelfälle ergäbe, das sich unter den Rückkehrern einerseits überhaupt Personen befunden haben, die dem o.g. Personenkreis angehören, und diese andererseits bei der Wiedereinreise wegen ihrer früheren Aktivitäten tatsächlich keinen asylrelevanten Maßnahmen der türkischen Sicherheitskräfte ausgesetzt waren. Dafür dass eine solche Erfassung und Auswertung der aktuellen Rückkehrfälle erfolgt ist, sind keine Anhaltspunkte ersichtlich; solche ergeben sich auch nicht aus dem aktuellen Lagebericht. Das Auswärtige Amt verweist zum Nachweis der rechtsstaatlichen Behandlung von gefährdeten Rückkehrern lediglich auf den Fall eines am 29. September 2007 aufgrund eines Auslieferungsersuchens in die Türkei überstellten und wegen Separatismus angeklagten Ausländers. Zum einen reicht ein solcher Einzelfall zum Nachweis einer dauerhaften Änderung der Verhältnisse in der Türkei nicht aus. Dessen ungeachtet wurde der Ausländer aber auch im Rahmen eines Auslieferungsverfahrens unmittelbar in den regulären Justizvollzug der Türkei überstellt, in dessen Rahmen aber - anders als außerhalb regulärer Haft - schon nach der bisherigen Erkenntnislage nicht mehr die beachtliche Wahrscheinlichkeit asylerheblicher Übergriffe bestand.

Der Kläger hat sich nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Hannover durch seine Tätigkeit für KOMKAR exponiert politisch für die kurdische Sache betätigt und ist den Sicherheitskräften in der Türkei bekannt geworden. Türkischen Staatsangehörigen, die wie der Kläger individuell als Anhänger und aktiver Unterstützer der kurdischen Sache und damit wegen konkreten Separatismusverdachts in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten sind, droht aber auch gegenwärtig mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Es ist nach wie vor beachtlich wahrscheinlich, dass gegen ihn wegen der Aktivitäten für die KOMKAR, die der illegalen PSK nahe steht und die von den türkischen Sicherheitsbehörden als separatistisch eingestuft wird, nach seiner Rückkehr in die Türkei ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird, jedenfalls ihn verhörende Sicherheitskräfte zu allen Mitteln greifen würden, um ihn zur Preisgabe von Informationen über die Exilszene zu zwingen.

Selbst wenn die Asylrelevanz der exilpolitischen Betätigung des Klägers nach heutigen Erkenntnissen nicht mehr als exponiert zu bewerten sein sollte, wäre der Widerruf eines festgestellten Abschiebungsverbots nur dann gerechtfertigt, wenn sich die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse - anders als vorliegend - nach Ergehen der bestandskräftigen Feststellung erheblich geändert hätten. Allein die Änderung der Erkenntnislage bzw. deren abweichende Würdigung genügen hierfür nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 2000 - 9 C 12.00 -; Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 -, BVerwGE 124, 276; beide unter www.juris.de, m.w.N.). [...]