VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.05.2009 - A 11 S 983/06 - asyl.net: M16011
https://www.asyl.net/rsdb/M16011
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Berufung, Streitgegenstand, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Anerkennungsrichtlinie, Richtlinienumsetzungsgesetz, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, Sicherheitslage, Familienangehörige
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

1. Der Prüfungsumfang des Berufungsgerichts in einer Streitigkeit nach dem Asylverfahrensgesetz wird mit Inkrafttreten des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG n.F. am 28. August 2007 nicht kraft Gesetzes auf dieses neu - europarechtlich begründete - Abschiebungsverbot erweitert, wenn die Berufung bereits vor diesem Zeitpunkt nur bezüglich des - nationalen - Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zugelassen worden ist.

2. Für die Personengruppe der afghanischen Staatsangehörigen, die in Kabul auf den Rückhalt und die Unterstützung durch Familie oder Bekannte bauen können oder dort über Grundbesitz oder über nennenswerte Ersparnisse verfügen, besteht bei einer Abschiebung nach Kabul trotz der dort vorherrschenden schwierigen Versorgungs- und Sicherheitslage keine extreme Gefahrensituation im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (Ergänzung zum Senatsurteil vom 14.05.2009 in der Sache A 11 S 610/08).

(Amtliche Leitsätze)

[...]

Die zulässige, insbesondere rechtzeitig unter Stellung eines Antrags und unter Bezugnahme auf die ausführliche Begründung des Zulassungsantrags begründete Berufung (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - NVwZ 2006, 1420 m.w.N.) der Beklagten ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht entschieden, dass der Kläger die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (- Aufenthaltsgesetz -) in der Fassung der Änderung durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (- Richtlinienumsetzungsgesetz -, in Kraft seit 28.08.2007, BGBl I 1970) beanspruchen kann.

1. Das grundsätzlich vorrangige - europarechtlich begründete - Abschiebungsverbot des Art. 15 c der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG, das seit 28.08.2007 durch das Richtlinienumsetzungsgesetz in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG n.F. umgesetzt wurde, ist vom Senat im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wurde von der Rechtsmittelführerin zulässig auf das - nationale - ausländerrechtliche Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begrenzt; nur insoweit wurde vom Senat die Berufung zugelassen. Nach dem Verfahrensgrundsatz der Dispositionsmaxime ist der Streitgegenstand des Berufungsverfahrens damit hierauf beschränkt (vgl. §§ 128 Satz 1, 129 VwGO). Der berufungsgerichtliche Prüfungsmaßstab ist auch nicht seit Ablauf der Umsetzungsfrist hinsichtlich Art. 15 c der Qualifikationsrichtlinie am 11.10.2006 (vgl. Art. 38 Abs. 1 der Richtlinie) oder mit Inkrafttreten des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG n.F. am 28.08.2007 kraft Gesetzes um das europarechtlich begründete Abschiebungsverbot angewachsen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. zu § 7 Abs. 1 AsylVfG a.F., § 51 Abs. 1 AuslG: BVerwG, Urteil vom 18.02.1992 - 9 C 59.91 - DÖV 1992, 582) hätte dies insbesondere vorausgesetzt, dass dieses Abschiebungsverbot am 10.10.2006 oder jedenfalls 28.08.2007 unabtrennbarer Teil des Streitgegenstands des nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geworden wäre. Diese Voraussetzung ist jedoch nicht gegeben; das europarechtlich begründete Abschiebungsverbot ist in vielerlei Hinsicht mit dem nationalen Abschiebungsverbot nicht deckungsgleich, weswegen abtrennbare Streitgegenstandsteile bzw. eigenständigen Streitgegenstände vorliegen (ausführlich: BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 - NVwZ 2008, 1241). Soweit das Bundesverwaltungsgericht in Randnummer 11 seines Urteils vom 24.06.2008 von einer gesetzlichen Änderung des Streitgegenstands bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG spricht. kann sich dies nach allgemeinen prozessualen Grundsätzen nur auf solche Verfahren beziehen, in denen diese Abschiebungsverbote im Streit stehen. Gemäß § 128 Satz 1 VwGO kann dies jedenfalls nicht für Berufungsverfahren gelten, in denen eine Berufungszulassung - wie im vorliegenden Fall - ausschließlich hinsichtlich des Abschiebungsverbots des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfolgte. Ein Anwachsen des berufungsgerichtlichen Prüfungsumfangs ist in dieser Konstellation auch weder aus Gründen effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG (wohl a.A. Hess.VGH, Urteil vom, 11.12.2008 - 8 A 611/08.A - juris) noch etwa aus Gründen des europarechtlichen "effet utile" (vgl. EuGH, Urteil vom 18.12.2008, Rs. C-306/07 <Andersen>, Rn. 40 m.w.N. = NZA 2009, 95) geboten, weil der Kläger die Feststellung des neuen europarechtlichen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG selbst nach rechtskräftigem Abschluss seines hier vom Senat zu entscheidenden Asylverfahrens effektiv im Wege eines sogenannten Folgeschutzverfahrens gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG (nachträgliche Änderung der Rechtslage zugunsten des Betroffenen) oder § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48; 49 VwVfG (Wiederaufgreifen nach Ermessen) geltend machen kann, ggf. flankiert durch ein Eilrechtsschutzverfahren gegenüber der Bundesrepublik Deutschland. Nach Mitteilung des Klägers nach der mündlichen Verhandlung hat er zwischenzeitlich mit Schriftsatz vom 25.05.2009 ein entsprechendes Verfahren beim Bundesamt eingeleitet.

II. Im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) besteht hinsichtlich Afghanistans zu Gunsten des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. [...]

Diese Voraussetzungen einer extremen Gefahrenlage sind im Fall des Klägers weder im Hinblick auf die Versorgungs- noch die Sicherheitslage in Afghanistan gegeben.

a) Eine extreme Gefahrenlage besteht für den Kläger nicht in Bezug auf die Versorgungslage. Denn er kann nach Überzeugung des Senats in Kabul auf den Rückhalt und die Unterstützung seiner Familie bauen. Für Rückkehrer mit familiärem Netzwerk kann insbesondere nicht davon ausgegangen werden, dass sie in ihrer Heimat mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert sein würden (ebenso: OVG Rheinland-Pfalz. Urteil vom 12.08.2008 - 6 A 10751/07 - juris; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 21.11 .2007 - 2 LB 38/07 - juris). [...]

bb Der Senat ist weiter aufgrund der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen davon überzeugt, dass der Kläger trotz der schwierigen Versorgungslage in Kabul aufgrund der familiären Unterstützung jedenfalls keiner extremen Gefahrensituation ausgeliefert wäre. Die Versorgungslage in Afghanistan ist zwar allgemein sehr schlecht. Auch wenn die Lage in einzelnen Provinzen und Distrikten erhebliche Unterschiede aufweist (Wegweiser zur Geschichte - Afghanistan, 2009 S. 9), befindet sich das Land insgesamt gesehen in einer "Abwärtsspirale" (FAZ vom 07.02.2009). [...]

Die wesentlichen für den Senat verfügbaren Erkenntnisquellen stimmen jedoch darin überein, dass afghanische Staatsangehörige, die - wie der Kläger - bei einer Rückkehr mit familiärer Unterstützung rechnen können. von diesen allgemeinen Gefahren in Afghanistan nicht in einem solchen Maße betroffen sind, dass sie gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wären. Im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 03.02.2009 wird ausgeführt, dass Afghanen, die außerhalb des Familienverbandes zurückkehren auf größere Schwierigkeiten stoßen als Rückkehrer, die in einen Familienverband zurückkehren. Die Gefährdung des Einzelnen hänge maßgeblich von dem Grad seiner familiären, tribalen und sozialen Vernetzung ab. Denn in Afghanistan würden Familien und Stammesverbände die soziale Absicherung ihrer Mitglieder übernehmen (S. 6, 23 u. 27). Gegenüber der eigenen Verwandtschaftsgruppe bestünden in Afghanistan traditionell strengste Verpflichtungen (Wegweiser zur Geschichte - Afghanistan. 2009 S. 140). Auch die Schweizer Flüchtlingshilfe geht davon aus, dass in der derzeitig schwierigen Situation das wirtschaftliche Überleben vor allem durch ein gutes Familiennetz gesichert wird. weswegen der UNHCR rät. Rückkehrer nur an ihren Heimatort oder den letzten Wohnort zurück zu schicken (vgl. SFH vom 21.08.2008, S. 16; UNHCR, ebenda Fn. 151). Vor diesem Hintergrund kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Kabul dort einer extremen Gefahrensituation ausgeliefert würde.

b) Eine extreme Gefahrensituation besteht für den Kläger auch nicht im Hinblick auf die Sicherheitslage in Kabul. Auch diese muss allerdings für Afghanistan insgesamt als schwierig bezeichnet werden. Die Kämpfe zwischen verschiedenen bewaffneten Gruppen haben Tausende Familien gezwungen, in größeren Städten Schutz zu suchen. Zehntausende intern Vertriebene leben in Slums rund um Kabul und Herat. UNHCR schätzte im Januar 2009, dass ca. 235.000 Menschen neu vertrieben wurden (SFH vom 11.03.2009). Die Kosten für eine LKW-Fuhre mit Hilfsgütern von Kabul nach Kandahar haben sich wegen der "Gefahrenzulagen" von 1.800 Dollar im Frühjahr 2008 auf nunmehr fast 18.000 US-Dollar verzehnfacht (Der Spiegel vom 13.10.2008). Afghanistan ist heute eines der am stärksten verminten Länder der Welt (SFH vom 21.08.2008). Für die internationalen Truppen war 2008 das verlustreichste Jahr seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001. Allein in den ersten acht Monaten des Jahres 2008 hat der Konflikt am Hindukusch nach UN-Angaben mehr als 4.000 Menschen das Leben gekostet, über ein Drittel davon Zivilisten; andere Schätzungen gehen von über 2000 getöteten Zivilisten im letzten Jahr aus (FAZ vom 18.02.2009). Deutschen Soldaten ist es in Kabul verboten, sich zu Fuß oder mit ungepanzerten Fahrzeugen zu bewegen; vom Elend der Flüchtlinge bekommen sie kaum etwas mit (SZ vom 02.09.2008). An eine rein militärische Konfliktlösung glaubt inzwischen offenbar niemand mehr. Präsident Karzai hat den Taliban wiederholt Verhandlun-gen angeboten. die jedoch abgelehnt wurden, solange ausländische Truppen im Land sind (FR vom 27.02.2009). Im Süden, Osten und Westen konnten die Taliban immer näher an Kabul heranrücken. Sie seien bereits auf 72 % des afghanischen Territoriums "dauerhaft präsent" (dpa-News vom 10.10.2008). US-Präsident Obamas angekündigte Offensive und Truppenaufstockungen um mindestens 17.000 weitere Soldaten (Die Welt vom 19.02.2009) bedeute-ten noch mehr Kämpfe und Gewalt, denn die Aufständischen seien mächtig wie nie (BNN vom 17.12.2008; FAZ vom 22.12.2008). Aber nicht nur die Taliban, auch kriminelle Banden machen das Land unsicher (dpa-News vom 29.01.2009). Hinzu kommt. dass die Grenzen zwischen organisierter Kriminalität, ehemaligen Warlords, die ihre Einflussbereiche nun als Gouverneure oder Distriktchefs sichern, bis hin zu Gruppierungen der Taliban oder anderen militanten Kräften fließend verlaufen (Wegweiser zur Geschichte - Afghanistan. 2009 S. 10). Zudem habe sich zwischenzeitlich in Afghanistan eine Art "Entführungsindustrie" entwickelt, die jeden treffen könne (SZ vom 24.10.2008).

Auch im Raum Kabul gilt die Sicherheitslage als fragil. Mit Einschränkungen bezüglich einiger Distrikte wird sie jedoch im Vergleich zu anderen Regionen als zufriedenstellend eingestuft; sie habe sich seit 2008 auch nicht verschlechtert. Ende August 2008 haben die afghanischen Regierungsbehörden von ISAF formell die Sicherheitsverantwortung für die Stadt Kabul übernommen, wodurch die Lage nicht unsicherer geworden sei (vgl. AA, Lagebericht vom 03.02.2009, S. 12 f.). Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass jeder nach Kabul zurückkehrende Afghane dort in berechtigter Weise Sorge haben müsste, Opfer eines Übergriffes oder Anschlags zu werden oder in sonstiger Weise von rivalisierenden ethnischen, religiösen oder sonst motivierten Gruppen oder Banden in seinem Leben oder seiner Unversehrtheit geschädigt zu werden (ebenso: Hessischer VGH.. Urteil vom 07.02.2008 - 8 UE 1913/06.A -, OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12.08.2007 - 6 A 10751/07 -, OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.03.2007 - 20 A 5164/04.A -, Sächsisches OVG, Urteil vom 23.08.2006 - A 1 B 58/06 -, OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05.05.2006 - 12 B 9.05 -; alle juris).

In einer Gesamtgefahrenschau kann mithin im konkreten Einzelfall des Klägers bei einer Rückkehr nach Kabul weder im Hinblick auf die Versorgungs- noch die Sicherheitslage eine extreme Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bejaht werden. [...]