VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 22.07.2009 - 11 S 2289/08 - asyl.net: M16012
https://www.asyl.net/rsdb/M16012
Leitsatz:

1. Gründe öffentlicher Sicherheit oder Ordnung i.S. des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG in der seit dem 28.07.2007 geltenden Fassung nach Artikel 1 Nr. 9 b) des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970) sind auch Ausweisungsgründe nach §§ 53 ff. AufenthG.

2. Das "Vorliegen" eines Ausweisungsgrundes steht der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis i.S. des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG "nicht entgegen", wenn der Ausweisungsgrund unter Berücksichtigung der in dieser Vorschrift bezeichneten Gesichtspunkte das private Interesse des Ausländers an der Gewährung eines nationalen Daueraufenthaltsrechts nicht überwiegt. Ob das der Fall ist, hat die Ausländerbehörde in einer die gesetzliche Wertung des § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nachvollziehenden einzelfallbezogenen Abwägung entsprechend dem Maßstab nach § 9 a Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG nach den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben des Art. 6 der Richtlinie 2003/109/EG festzustellen.

3. Das Gebot der einzelfallbezogenen Abwägung verbietet es, das (Über-) Gewicht von Gründen öffentlicher Sicherheit oder Ordnung schematisch generalisierend zu bestimmen, indem die Anspruchsvoraussetzung im Regelfall nur dann als erfüllt angesehen wird, wenn der Ausländer in einem bestimmten Zeitraum nicht wegen einer bestimmten Straftat zu einer Strafe bestimmter Art und Höhe verurteilt worden ist.

4. Der Ausländerbehörde steht bei der Abwägung nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG kein Beurteilungsspielraum zu und es ist ihr auch kein Ermessen eröffnet. Die Abwägung unterliegt voller gerichtlicher Überprüfung.

5. Die allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG werden durch die besonderen Erteilungsvoraussetzungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 4 AufenthG als lex specialis verdrängt.

 

Schlagwörter: D (A), Niederlassungserlaubnis, Beurteilungszeitpunkt, Rückwirkende Erteilung, Deutschverheiratung, Ausweisungsgründe, Verstoß gegen Rechtsvorschriften, Straftat, Verbrauch, Aufenthaltsdauer, Fortgeltungsfiktion, Aufenthaltserlaubnis, Zusicherung, Verlängerung, Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, Abwägung, Wiederholungsgefahr, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen
Normen: AufenthG § 28 Abs. 2; AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2; AufenthG § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 4; AufenthG § 81 Abs. 4; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

1. Gründe öffentlicher Sicherheit oder Ordnung i.S. des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG in der seit dem 28.07.2007 geltenden Fassung nach Artikel 1 Nr. 9 b) des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970) sind auch Ausweisungsgründe nach §§ 53 ff. AufenthG.

2. Das "Vorliegen" eines Ausweisungsgrundes steht der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis i.S. des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG "nicht entgegen", wenn der Ausweisungsgrund unter Berücksichtigung der in dieser Vorschrift bezeichneten Gesichtspunkte das private Interesse des Ausländers an der Gewährung eines nationalen Daueraufenthaltsrechts nicht überwiegt. Ob das der Fall ist, hat die Ausländerbehörde in einer die gesetzliche Wertung des § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nachvollziehenden einzelfallbezogenen Abwägung entsprechend dem Maßstab nach § 9 a Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG nach den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben des Art. 6 der Richtlinie 2003/109/EG festzustellen.

3. Das Gebot der einzelfallbezogenen Abwägung verbietet es, das (Über-) Gewicht von Gründen öffentlicher Sicherheit oder Ordnung schematisch generalisierend zu bestimmen, indem die Anspruchsvoraussetzung im Regelfall nur dann als erfüllt angesehen wird, wenn der Ausländer in einem bestimmten Zeitraum nicht wegen einer bestimmten Straftat zu einer Strafe bestimmter Art und Höhe verurteilt worden ist.

4. Der Ausländerbehörde steht bei der Abwägung nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG kein Beurteilungsspielraum zu und es ist ihr auch kein Ermessen eröffnet. Die Abwägung unterliegt voller gerichtlicher Überprüfung.

5. Die allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG werden durch die besonderen Erteilungsvoraussetzungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 4 AufenthG als lex specialis verdrängt.

(Amtliche Leitsätze)

 

[...]

I. Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch sonst zulässige, insbesondere form- und fristgerecht begründete Berufung des Beklagten ist nicht begründet. [...]

2. Der Kläger kann die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht schon unter den erleichterten Voraussetzungen als Ehegatte einer Deutschen nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG beanspruchen. Denn jedenfalls die Voraussetzung nach dieser Bestimmung, dass "kein Ausweisungsgrund vorliegt", ist nicht erfüllt. Es liegt ein Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG vor. [...]

3. Der Kläger hat aber nach § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. [...]

a) Die hier nur anwendbaren (vgl. § 104 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) besonderen Erteilungsvoraussetzungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 2, 4 bis 7 und 9 AufenthG sind erfüllt.

aa) Der Kläger besitzt i.S. des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG seit fünf Jahren die Aufenthaltserlaubnis.

Die Formulierung "seit fünf Jahren die Aufenthaltserlaubnis besitzt" erfordert den ununterbrochenen fünfjährigen Besitz der Aufenthaltserlaubnis (vgl. zur nahezu wortgleichen Regelung in § 24 Abs. 1 Nr. 1 AuslG BVerwG, Urteile vom 24.05.1995 - 1 C 7.94 - BVerwGE 98, 313 und vom 22.01.2002 - 1 C 6.01 - BVerwGE 115, 352 jeweils m.w. Nachw.). [...]

Allerdings ist die Geltungsdauer seiner Aufenthaltserlaubnis am 25.03.2006 abgelaufen, ohne dass die Ausländerbehörde des Beklagten bislang über den zuvor gestellten Verlängerungsantrag entschieden hat. Jedoch gilt die Aufenthaltserlaubnis bis zu dieser Entscheidung als fortbestehend (§ 81 Abs. 4 AufenthG). Zwar kann die Fortbestandsfiktion den in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vorausgesetzten Aufenthaltstitel für sich genommen nicht ersetzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.01.2002, a.a.O.). Die Zwischenzeit rechtmäßigen Aufenthalts aufgrund der Fortbestandsfiktion ist als Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis i.S. des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG aber anzurechnen, wenn die Behörde dem Verlängerungsantrag stattgibt (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.01.1992, a.a.O.). Das ist beim Kläger bislang zwar nicht geschehen. Der Beklagte hat dem Kläger in der Berufungsverhandlung jedoch i.S. des § 38 LVwVfG rechtsverbindlich zugesichert, dass seine Aufenthaltserlaubnis verlängert wird. Das steht einer Stattgabe nahezu gleich und genügt, um die Zwischenzeit rechtmäßigen Aufenthalts aufgrund der Fortbestandsfiktion vom 26.03.2006 bis zur Berufungsverhandlung als Zeit des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis i. S. des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG anzurechnen. [...]

dd) Schließlich stehen der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis auch i.S.des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung nicht entgegen.

§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG in der seit dem 28.07.2007 geltenden neuen Fassung nach Artikel 1 Nr. 9 b) des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970) setzt für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis voraus, dass Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung unter Berücksichtigung der Schwere oder der Art des Verstoßes gegen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder der vom Ausländer ausgehenden Gefahr unter Berücksichtigung der Dauer des bisherigen Aufenthalts und dem Bestehen von Bindungen im Bundesgebiet nicht entgegenstehen. Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung sind - jedenfalls auch - Ausweisungsgründe (§ 55 Abs. 1 und 2 AufenthG). Anders als etwa bei § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG schließt ihr bloßes "Vorliegen" (s.o. 2. a)) die Erteilung der Niederlassungserlaubnis noch nicht aus. Sie dürfen vielmehr (nur) "nicht entgegenstehen". Das lässt sich nur durch eine die gesetzliche Wertung in § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Ansehung des konkreten Einzelfalls nachvollziehende Abwägung feststellen. Abzuwägen sind das durch den Ausweisungsgrund berührte öffentliche Interesse auf der einen Seite und das private Interesse des Ausländers an der Gewährung eines nationalen Daueraufenthaltsrechts auf der anderen Seite. Das Gewicht dieser Interessen wird dabei insbesondere durch die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG bezeichneten Gesichtspunkte bestimmt, aber auch gegenseitig relativiert. Ausweisungsgründe stehen der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis danach nicht entgegen, wenn sie unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG bezeichneten Gesichtspunkte das private Interesse des Ausländers an der Gewährung eines nationalen Daueraufenthaltsrechts nicht überwiegen. Ob das der Fall ist, hat die Ausländerbehörde entsprechend dem Maßstab nach § 9 a Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG festzustellen. Für dieses Verständnis der Norm sprechen nicht nur ihr mit § 9 a Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG identischer Wortlaut, sondern vor allem Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der gesetzlichen Neuregelung.

§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG in seiner vom 01.01.2005 bis zum 27.08.2007 geltenden Fassung bezog sich, anknüpfend an die zuvor für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung geltende Regelung in § 28 Abs. 2 Nr. 3 AuslG 1990, nur auf strafrechtliche Verurteilungen. Vorausgesetzt wurde, dass der Ausländer in den letzten drei Jahren nicht wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Jugend- oder Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder einer Geldstrafe von mindestens 180 Tagessätzen verurteilt worden ist. Die Fassung der Vorschrift und ihr Verhältnis zur allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG führten in der Rechtspraxis zu Unklarheiten (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 30.05.2007 - 13 S 1020/07 - InfAuslR 2007, 346; VG Karlsruhe, Urteil vom 19.10.2005 - 10 K 883/04 -; Renner, AuslR, 8. Aufl. § 9 Rn. 25). Anlass für ihre Änderung waren aber nicht diese Auslegungsschwierigkeiten, sondern die Umsetzung der Richtlinie 2003/109/EG betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, mit der in §§ 9a bis 9c AufenthG die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG als weiterer Daueraufenthaltstitel neben der Niederlassungserlaubnis eingeführt wurde (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AufenthG). Dabei sollte, wie § 9 a Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG ausdrücklich regelt, zugunsten der Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG eine materielle "Parallelität" mit der Niederlassungserlaubnis erreicht werden. Dieses Ziel hat der Gesetzgeber zugleich aber auch für die Anspruchsvoraussetzung der Niederlassungserlaubnis nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG aufgegriffen. Er hat sie an den Text der Anspruchsvoraussetzung nach § 9 a Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG angepasst, die ihrerseits die ordre-public-Klausel des Art. 6 der Richtlinie 2003/109/EG umsetzt. Diese Anpassung diene der "Parallelität" beider Aufenthaltstitel. Zugleich solle "möglichen Missverständnissen" bei Auslegung und Anwendung der Vorschrift begegnet werden. Durch die Neufassung werde nun nach dem Vorbild des Artikels 6 Abs. 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie 2003/109/EG "anstelle eines starren Kriteriums" eine Abwägung zwischen den Interessen des Ausländers und den Ordnungsbelangen vorgesehen. Dadurch werde auch vermieden, dass ein in dieser Hinsicht unnötiger Unterschied zwischen den Anforderungen entstehe, die für die Erteilung der jeweiligen dauerhaften Rechtsstellung nach § 9 AufenthG einerseits und nach § 9a AufenthG andererseits gestellt werden (BT-Drucksache 16/5065 S. 160). Die vom Bundesrat unter Hinweis auf mangelnde Praktikabilität beider Vorschriften erhobene Forderung, sie jeweils um einen Halbsatz zu ergänzen, wonach die Anspruchsvoraussetzung im Regelfall erfüllt sei, wenn der Ausländer in den letzten drei Jahren nicht wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Jugend- oder Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten oder einer Geldstrafe von mindestens 90 Tagessätzen verurteilt worden ist (BR-Drucksache 224/07 S. 3), fand im Gesetzgebungsverfahren keine Mehrheit.

Das Gebot der einzelfallbezogenen Abwägung verbietet danach, das (Über-) Gewicht von Gründen öffentlicher Sicherheit oder Ordnung schematisch generalisierend zu bestimmen, indem - vergleichbar zur früheren Fassung der Bestimmung - die Anspruchsvoraussetzung im Regelfall nur dann als erfüllt angesehen wird, wenn der Ausländer in einem bestimmten Zeitraum nicht wegen einer bestimmten Straftat zu einer Strafe bestimmter Art und Höhe verurteilt worden ist. Das liegt schon nach dem geänderten Gesetzeswortlaut nicht nahe. Es widerspricht aber auch der Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der "anstelle eines starren Kriteriums" (vgl. BT-Drucksache 16/5065 a.a.O.) tretenden, auf einen flexibleren Entscheidungsspielraum ausgerichteten (vgl. Hailbronner, AuslR, A 1, § 9 Rn. 30 <Stand August 2008>) Neuregelung. Dies schließt es freilich nicht aus, die Abwägung in der Verwaltungspraxis im Regelfall zu Gunsten des Ausländers vorzunehmen, wenn er in den letzten drei Jahren nicht wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Jugend- oder Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten oder einer Geldstrafe von mindestens 90 Tagessätzen verurteilt worden ist (wie dies in den norminterpretierenden "ergänzenden Hinweisen" des Innenministeriums Baden-Württemberg zu Nummer 9.2.4.2. des Abschnitts A. der zusammengefassten Vorgaben des Innenministeriums zur Anwendung aufenthalts- und asylrechtlicher Regelungen ab dem 01.01.2005, Stand 15.06.2009, bestimmt wird). Ein pauschaler Umkehrschluss zu Lasten des Ausländers ist entgegen der Berufungsbegründung jedoch mit dem Abwägungsgebot unvereinbar und nicht zulässig. Wegen der Wortlautidentität sowie der vom Gesetzgeber beabsichtigten materiellen "Parallelität" mit § 9 a Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG ist die Abwägung zudem nach den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben des Art. 6 der Richtlinie 2003/109/EG vorzunehmen. Dabei ist der Behörde kein Beurteilungsspielraum und auch kein Ermessen eröffnet. Die Abwägung unterliegt voller gerichtlicher Überprüfung. Der deutsche Gesetzgeber hat die ordre-public-Klausel nach Art. 6 der Richtlinie 2003/109/EG nicht - wie gemeinschaftsrechtlich konzipiert - als "Versagungsentscheidung" (vgl. Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109/EG) etwa nach Ermessen, sondern als eine die gesetzliche Wertung in Ansehung des konkreten Einzelfalls nachvollziehende Abwägung auf der Tatbestandsseite des Rechtsanspruchs ausgestaltet (a.A. offenbar Nr. 9a.2.1.5.2.1 und Nr. 9a.2.1.5.2.2 des Entwurfs der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz, BR-Drucksache 669/09 S. 104 "Ermessensentscheidung"). Dies ist ein Vorgang der Rechtsanwendung, der nur ein zutreffendes Ergebnis haben kann. Für § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG gilt wegen der gewollten materiellen "Parallelität" nichts Anderes.

Gemessen daran stehen Gründe öffentlicher Sicherheit oder Ordnung der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach der maßgebenden Sachlage im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung nicht entgegen. [...]

Die Straftaten des Klägers haben nach ihrer Art und Schwere kein erhebliches Gewicht. Sie waren in erster Linie durch erheblichen Alkoholkonsum bedingt und nicht von hoher krimineller Energie getragen. Alle Straftaten wurden zudem mit relativ geringen Geldstrafen geahndet. Die letzte Straftat vom 05.07.2004 liegt inzwischen über fünf Jahre und die darauf folgende letzte strafrechtliche Verurteilung vom 29.11.2004 liegt mehr als viereinhalb Jahre zurück. All das mindert und relativiert ihr Gewicht nach der gesetzlichen Wertung des § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG jedenfalls im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung erheblich. [...] Des Weiteren ist die vom Kläger ausgehende Wiederholungsgefahr, wie das Verwaltungsgericht überzeugend ausgeführt hat und worauf der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug nimmt (§ 130 b Satz 2 VwGO), als gering einzuschätzen. Demgegenüber wiegen die privaten Interessen des Klägers am Erhalt des nationalen Daueraufenthaltsrechts deutlich schwerer. Der Kläger hält sich seit mehr als zehn Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Er ist zwar beruflich nicht voll integriert, war aber die überwiegende Zeit seines Aufenthalts in Deutschland erwerbstätig und verfügt auch derzeit wieder über eine, wenn auch nur geringfügige Beschäftigung. Besonderes Gewicht hat die durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Bindung an seine deutsche Ehefrau im Bundesgebiet, mit der er bereits seit April 1999 in ehelicher Lebensgemeinschaft zusammen lebt.

b) Auch die für alle Aufenthaltstitel geltenden allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG, soweit diese nicht durch besondere Erteilungsvoraussetzungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG als lex specialis verdrängt werden, sind erfüllt.

aa) Die allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG sind nicht anwendbar. Sie werden durch die besonderen Erteilungsvoraussetzungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 4 AufenthG als lex specialis verdrängt.

Zwar gelten die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG als "vor die Klammer gezogene" materielle Anforderungen grundsätzlich für die Erteilung aller Aufenthaltstitel i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, also auch für die Niederlassungserlaubnis. Anderes gilt aber, soweit in Bezug auf alle oder einzelne dieser Voraussetzungen gesetzlich Abweichendes bestimmt ist. Das kann ausdrücklich geschehen (vgl. z.B. § 5 Abs. 3 AufenthG sowie § 27 Abs. 3 Satz 2, § 28 Abs. 1 Sätze 2 und 3 und § 38 Abs. 3 AufenthG). Es kann sich aber auch aus der Regelungssystematik sowie Sinn und Zweck besonderer Erteilungsvoraussetzungen ergeben, soweit sie hinsichtlich einzelner allgemeiner Anforderungen für den Erwerb eines - verfestigten - Aufenthaltsrechts speziellere und abschließende Regelungen treffen. Das gilt vor allem für die Daueraufenthaltsrechte nach §§ 9, 9 a AufenthG. Der Gesetzgeber macht deren Erwerb von einem Geflecht besonderer Integrationsanforderungen abhängig (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 9, § 9 a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 6 AufenthG). Soweit sich einzelne dieser Anforderungen mit allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen überschneiden, gehen sie als lex specialis vor. Das gilt beispielsweise für die Sicherung des Lebensunterhalts (§ 2 Abs. 3 AufenthG) beim Erwerb einer Niederlassungserlaubnis. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit Satz 3 und 6 AufenthG verdrängt insoweit als speziellere Vorschrift die allgemeine Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Die Sicherung des Lebensunterhalts wird hier nicht nur "in der Regel", sondern zwingend vorausgesetzt. Davon kann nur nach Maßgabe des § 9 Abs. 2 Sätze 3 und 6 AufenthG abgesehen werden (siehe auch Wenger in Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms, ZuwG, § 9 AufenthG Rn. 6).

Im Ergebnis nichts anderes gilt für die allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. In Bezug auf Ausweisungsgründe als Gründe öffentlicher Sicherheit oder Ordnung (vgl. § 55 Abs. 1 AufenthG) trifft § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG unter Abweichung vom Regel-Ausnahmesystem nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG die speziellere und abschließende Regelung (ebenso Wenger, a.a.O. § 9 Rn. 8; im Ergebnis ähnlich <"nur unter den Einschränkungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG anwendbar"> Jakober, Welte, Aktuelles Ausländerrecht, 112. Erg.-Lfg. 8/2008 zu § 9 AufenthG Rn. 40; offen gelassen bei Hailbronner, a.a.O., vgl. § 9 Rn. 33 einerseits und Rn. 35 andererseits; a.A. VG Neustadt, Urteil vom 06.12.2007 - 2 K 934/07 - juris). [...]