LG Göttingen

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Zitieren als:
LG Göttingen, Beschluss vom 20.08.2009 - 11 T 3/09 - asyl.net: M16020
https://www.asyl.net/rsdb/M16020
Leitsatz:

Ein enger Zeitplan der Abschiebung durch die Ausländerbehörde rechtfertigt nicht die Annahme, wegen Gefahr im Verzug könne die einstweilige Anordnung der Freiheitsentziehung gem. § 11 FEVG ohne Anhörung erfolgen; ist ein Ausländer über wenige Stunden am Vormittag eines Tages nicht aufzufinden, lässt sich daraus nicht der Schluss ziehen, dass sein Aufenthaltsort unbekannt ist.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Haftbefehl, einstweilige Anordnung, Anhörung, Gefahr im Verzug, Untertauchen, Prozessbevollmächtigte, Nachholung
Normen: FEVG § 11 Abs. 1; FEVG § 11 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Das Feststellungsbegehren ist auch begründet. [...]

Das Amtsgericht Northeim hat die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung auf § 11 FEVG gestützt. Ist Antrag auf Freiheitsentziehung gestellt, so kann das Gericht einem Betroffenen nach dieser Vorschrift einstweilen die Freiheit für die Dauer von höchstens sechs Wochen entziehen, sofern dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass die Voraussetzungen für die Unterbringung vorliegen, und über die endgültige Unterbringung nicht rechtzeitig entschieden werden kann, § 11 Abs. 1 FEVG. Dabei hat das Gericht die Person, der die Freiheit entzogen werden soll, mündlich anzuhören, §§ 11 Abs. 2 Satz 1, 5 Abs. 1 Satz 1 FEVG. Die Anhörung kann bei Gefahr im Verzug unterbleiben, muss dann jedoch unverzüglich nachgeholt werden, § 11 Abs. 2 Satz 2 FEVG.

Der angefochtene Beschluss erging ohne mündliche Anhörung des Betroffenen. Das Amtsgericht hat zu den Voraussetzungen dafür, dass Gefahr im Verzug gewesen sei, keine Ausführungen gemacht. Es hat lediglich zur Begründung für die Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 FEVG ausgeführt, dass über die endgültige Freiheitsentziehung nicht rechtzeitig entschieden werden könne, weil eine Anhörung des Betroffenen derzeit nicht möglich sei, weil der Betroffene unbekannten Aufenthaltes sei. Dies genügt aber weder den Begründungsanforderungen des § 6 Abs. 1 FEVG noch ist erkennbar, woraus sich vorliegend die Gefahr im Verzug hätte ergeben sollen. Eine besondere Eilbedürftigkeit für den vom Beschwerdegegner beantragten Beschluss nach § 11 FEVG hat sich letztlich nur daraus ergeben, dass sich die Ausländerbehörde selbst einen ausgesprochen engen Zeitplan gesetzt hatte. [...].

Dieser Zeitablauf alleine rechtfertigt es jedenfalls nicht, von der in § 11 Abs. 2 i.V.m. § 5 Abs. 1 FEVG vorgeschriebenen Anhörung ausnahmsweise abzusehen (vgl. BVerfG. Beschluss vorn 07.09.2006, 2 BVR 129/04).

Gefahr im Verzug konnte hier auch nicht allein damit begründet werden, dass eine Anhörung den Zweck der Anordnung gefährden würde, wie es die Ausländerbehörde begründet hat. Zwar trifft es zu, dass mit einer Anhörung des Betroffenen der von der Ausländerbehörde dargelegte und im angefochtenen Beschluss auch genannte Grund für eine einstweilige Anordnung nach § 11 FEVG entfallen wäre, weil dann auch ein Abschiebehaftbefehl nach § 62 AufenthG hätte erlassen werden können. Dies allein reicht aber sicher für ein ausnahmsweises Absehen von der Anhörung nicht, da mit dieser Begründung das Erfordernis des § 11 Abs. 2 i.V.m. § 5 Abs. 1 FEVG vollständig ausgehebelt werden könnte.

Eine Ausnahme vom Grundsatz, dass auch eine Anordnung nach § 11 FEVG nur nach mündlicher Anhörung erfolgen kann, kann auch nicht darin gesehen werden, dass der Betroffene durch eine Ladung zur Anhörung veranlasst worden wäre, unterzutauchen bzw. sich seiner Verhaftung zu entziehen. Denn zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses war der Betroffene bereits hinreichend "gewarnt", dass er abgeschoben werden sollte, nachdem die Polizei in Bad Gandersheim und in Köln nach ihm gesucht hatte.

Auch mit der Begründung im angefochtenen Beschluss, wonach die Anhörung des Betroffenen nicht möglich sei, weil der Betroffene unbekannten Aufenthaltes sei, ist das Absehen von der Anhörung nicht gerechtfertigt. Das Amtsgericht durfte bereits nicht allein auf Grundlage der von der Ausländerbehörde vorgetragenen Ergebnisse der Abschiebebemühungen vom 25. März 2009 davon ausgehen, dass der Betroffene unbekannten Aufenthalts war. Daraus, dass eine Person über wenige Stunden am Vormittag eines Tages nicht aufzufinden ist, lässt sich nicht bereits mit der erforderlichen Sicherheit ziehen, dass sein Aufenthaltsort unbekannt ist, auch wenn diese Tatsache im Zusammenschau mit den übrigen Verhaltensweisen des Betroffenen letztlich die Befürchtung begründet hat, dass er sich durch Untertauchen der Abschiebung entziehen wollte (vgl. Beschluss der Kammer vom 7. Mai 2009; 11 T 4109).

Weiter hätte das Amtsgericht zumindest den Rechtsanwalt des Betroffenen anhören müssen. Über die Tatsache, dass der Betroffene in der Ausländerangelegenheit anwaltlich vertreten war, hätte die Ausländerbehörde das Amtsgericht angesichts der von ihr selbst geschaffenen Notwendigkeit einer kurzfristigen Anberaumung eines Anhörungstermins unterrichten müssen. was hier unterblieben ist (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 07.09.2006, 2 BVR 129/04), oder das Amtsgericht hätte bei der gebotenen Beiziehung der Ausländerakten, für die mangels Gefahr im Verzug auch Zeit gewesen wäre, diesen den Umstand der anwaltlichen Vertretung entnehmen können.

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass zumindest die Anhörung vom Amtsgericht unverzüglich hätte nachgeholt werden müssen, § 11 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz. Dies hätte spätestens mit Einlegung der Beschwerde am 7. April 2009 erfolgen müssen, weil damit für das Amtsgericht ersichtlich war, dass der Betroffene von der Anordnung der Freiheitsentziehung ohnehin Kenntnis hatte. Zudem wurde mit der Beschwerde die Anschrift des Betroffenen auch dem Amtsgericht zur Kenntnis gegeben, so dass ab dann auch die Begründung im angefochtenen Beschluss, dass die Anhörung wegen unbekannten Aufenthaltes nicht möglich sei, nicht mehr trug. [...]