VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 22.05.2009 - 7 K 3732/08.F (3) - asyl.net: M16032
https://www.asyl.net/rsdb/M16032
Leitsatz:

Touristen türkischer Staatsangehörigkeit benötigen als passive Dienstleistungsempfänger aufgrund der Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei kein Visum; die Einreise ist aber nicht visumsfrei, wenn ein Daueraufenthalt beabsichtigt ist.

Schlagwörter: Ausweisung, Ermessensausweisung, Verstoß gegen Rechtsvorschriften, Passpflicht, Visumspflicht, Türken, Assoziationsberechtigte, Zusatzprotokoll zum Assoziationsabkommen EWG/Türkei, Stand-Still-Klausel, Stillhalteklausel, Touristen, Aufenthaltszweck, Daueraufenthalt, Dienstleistungsfreiheit, passive Dienstleistungsfreiheit
Normen: AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2; AufenthG § 3; AufenthG § 4 Abs. 1; AufenthG § 4 Abs. 2 Nr. 1; VO 539/2001/EG Art. 1 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. [...]

Insbesondere ist die unter Ziffer 1 der Verfügung ergangene Ausweisung rechtmäßig.

Die Voraussetzungen für eine Ermessensausweisung gemäß § 55 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Ziffer 2 AufenthG liegen vor.

Der Kläger hat einen Verstoß gegen Rechtsvorschriften im Sinne des § 55 Abs. 2 Ziffer 2 AufenthG begangen. Er hat sowohl gegen die Passpflicht nach § 3 als auch gegen die Visumspflicht nach § 4 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Ziffer 1 AufenthG verstoßen.

Zunächst liegt ein Verstoß gegen § 3 AufenthG vor, denn der türkische Reisepass des Klägers war bei dessen Einreise in die Bundesrepublik Deutschland abgelaufen.

Dieser Verstoß erfüllt allerdings nicht ohne weiteres den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Ziffer 2 AufenthG (Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 1080).

Der Kläger verfügte jedoch auch über keinen Aufenthaltstitel in Form eines Visums.

Als türkischer Staatsangehöriger hätte er grundsätzlich eines solchen Visums bedurft.

Nach Art. 1 Abs. 1 VO 539/2001/EG i.V.m. deren Anhang I besteht für türkische Staatsangehörige eine Visumspflicht für die Einreise in die und den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.

Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem Assoziationsrecht zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Türkei.

Insbesondere folgt aus Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12.09.1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (abgekürzt ZPAssEWG/Türkei) nicht, dass für den Kläger keine Visumspflicht besteht.

Bei der Bewertung dieser Bestimmung ist ihre Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen.

Am 12.09.1963 unterzeichneten die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Türkei das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (abgekürzt AssAbkEWG/Türkei), das gemäß seinem Art. 2 Abs. 1 eine Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien zum Ziel hat.

Nach Art. 2 Abs. 3 AssAbkEWG/Türkei umfasst die Assoziation eine Vorbereitungs-, eine Übergangs-, sowie eine Endphase.

Für die Festlegung der Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Verwirklichung der Übergangsphase wurde das ZPAssEWG/Türkei abgeschlossen. Es wurde am 23.11.1970 beschlossen und von der Bundesrepublik Deutschland am 01.01.1973 ratifiziert (Gesetz zum Zusatzprotokoll für die Übergangsphase der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 10.05.1972, BGBl. II, 385).

Nach Art. 41 Abs. 1 ZPAssEWG/Türkei verpflichten sich die Vertragsparteien des AssAbkEWG/Türkei, "untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs" einzuführen (sog. Stillhalteklausel).

Art. 41 Abs. 1 ZPAssEWG/Türkei verleiht zwar selbst kein Aufenthaltsrecht (EuGH, Slg. 2000, I-2927 - "Savas"; Slg. 2007, I-7415 - "Tum und Dari"). Die Vorschrift bewirkt jedoch, dass die ausländerrechtliche Rechtslage im Zeitpunkt des Inkrafttretens des ZPAssEWG/Türkei zu Grunde zu legen ist, wenn und soweit diese günstiger ist als die gegenwärtige (vgl. VG Darmstadt, B. v. 28.10.2005 - 8 G 1070/05 (2) -, m.w. Nachw., InfAuslR 2006, 45 [50]). Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung konnten nach der deutschen Rechtslage türkische Staatsangehörige visumsfrei in die Bundesrepublik einreisen, sofern sie nicht im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben wollten (Umkehrschluss aus § 5 Abs. 1 der Verordnung zur Durchführung des AusländerG i.V.m. deren Anlage).

Auf diese Vorschrift können sich nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (abgekürzt EuGH) Betroffene unmittelbar berufen (EuGH, Slg. 2000, I-2927 - "Savas"; Slg. 2007, I-7415 - "Tum und Dari").

Gleichwohl kann sich der Kläger nicht auf diese, ihn begünstigende Auslegung berufen.

Zwar kann die Europäische Union mit guten Gründen als Adressat der Stillhalteklausel angesehen werden (vgl. Mielitz, NVwZ 2009, 276 [277] m.w.N.), so dass die von ihrem Rat erlassene einschlägige Regelung der VO 539/2001/EG i.V.m. deren Anhang I eine gegenüber der deutschen Rechtslage am 01.01.1973 zusätzliche Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit darstellen kann.

Es spricht auch vieles dafür, dass Touristen türkischer Staatsangehörigkeit unter die sog. Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 ZPAssEWG/Türkei fallen. Touristen sind nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 49f. EGV Dienstleistungsempfänger im Reiseland und sind unter die passive Dienstleistungsfreiheit zu fassen: Der freie Dienstleistungsverkehr schließt die Freiheit der Leistungsempfänger ein, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen daran gehindert zu werden (EuGH, Slg. 1984, 377 = NJW 1984, 1288 - "Luisi und Carbone"). Diese Rechtsprechung findet auch im Assoziationsrecht Anwendung, welches keine eigenständige Definition des Begriffs der Dienstleistungsfreiheit enthält, sondern vielmehr auf die Vorschriften des EG-Vertrags verweist (Art. 14 AssAbkEWG/Türkei).

Zur Überzeugung des Gerichts ist der Kläger allerdings nicht als Dienstleistungsempfänger im Sinne des Art. 49 EGV zu sehen. Der Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland ist kein touristischer gewesen.

Die Zuordnung von Touristen zum Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit hat nämlich nach der Rechtsprechung des EuGH Einschränkungen erfahren. Die passive Dienstleistungsfreiheit ist demzufolge nicht einschlägig, wenn sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaats dauerhaft in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt, um dort für unbestimmte Zeit Dienstleistungen zu empfangen (EuGH, Slg. 1988, 6159 - "Steymann"; Slg. 1997, I-3395 = EuZW 1998, 124 - "Sodemare"). Verlagert der Dienstleistungsempfänger seinen Hauptaufenthalt in den Mitgliedstaat des Dienstleistungserbringers, fehlt der erforderliche Auslandsbezug (EuGH, Slg. 1994, I-3395 = EuZW 1998, 124 - "Sodemare"). Entscheidendes Abgrenzungskriterium ist damit, ob der Aufenthalt des Dienstleistungsempfängers nur zeitlich begrenzt und für eine im Voraus bestimmte Dauer ist, oder aber ständig oder auf unbestimmte Zeit (vgl. Schlussanträge des GA Fenelly vom 06.02.1997, Slg. 1997, I-3395 = EuZW 1998, 124 - "Sodemare"). Der tatsächliche Aufenthalt muss geprägt sein vom touristischen Zweck, der nicht in einen Daueraufenthalt umschlagen darf (Mielitz, NVwZ 2009, 276 [279]). Nur dann ist die Dienstleistungsfreiheit einschlägig.

Das ist hier nicht der Fall. Der touristische Zweck prägte nicht den Aufenthalt des Klägers. Der Kläger strebt zumindest zum für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (BVerwG, U. v. 15.11.2007 - 1 C 45/06 -, NVwZ 2008, 434) einen Daueraufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland aus Studiengründen an. Es geht ihm nicht darum, sich zum Zwecke des Besuchs bzw. mit der Absicht der zeitlich begrenzten Entgegennahme einer bestimmten Art von Leistungen vorübergehend in der Bundesrepublik aufzuhalten. [...]

Daher kann auch die vom Kläger angeführte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 19.02.2009, Rechtssache C-228/06 - "Soysal" nicht zu einer anderen Betrachtung führen. Der Kläger fällt nicht unter den von der Entscheidung betroffenen Personenkreis.

Zwar hat der Europäische Gerichtshof in dieser Vorabentscheidung über die Auslegung von Art. 41 Abs. 1 ZPAssEWG/Türkei im Ergebnis eine Visumspflicht der am Ausgangsverfahren Beteiligten türkischen Staatsangehörigen aufgrund der genannten Bestimmung des ZPAssEWG/Türkei verneint. Diese Vorlagefrage betraf jedoch nur einen Fall der aktiven Dienstleistungsfreiheit; der EuGH hat keine Aussage zur Rechtslage von Dienstleistungsempfängern gemacht.

Auf die Frage, ob diese Auslegung des Art. 41 Abs. 1 des ZPAssEWG/Türkei auf die passive Dienstleistungsfreiheit übertragen werden kann, kommt es hier jedoch gar nicht an. Denn der Kläger fällt mangels Touristeneigenschaft nicht unter die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 EGV.

Der Verstoß ist auch nicht geringfügig.

Er ist gemäß § 95 Abs. 1 Ziffer 1, 2 und 3 AufenthG eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft werden kann. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist eine vorsätzlich begangene Straftat grundsätzlich kein geringfügiger Rechtsverstoß i.S.d. § 55 Abs. 2 Ziffer 2 AufenthG, sondern ein beachtlicher Ausweisungsgrund (BVerwG, U. v. 24.09.1996 - 1 C 9.94 -, BVerwGE 102, 63; BVerwG, U. v. 17.01.1998 - 1 C 27.96, BVerwGE 107, 58).

Ihr Ermessen hat die Beklagte im Ergebnis rechtsfehlerfrei ausgeübt, insbesondere ist die Ausweisung verhältnismäßig. [...]