OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.05.2009 - 18 B 239/09 - asyl.net: M16067
https://www.asyl.net/rsdb/M16067
Leitsatz:

Gerichtlicher Vergleich im Rahmen eines 123er-Verfahrens unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK, Antragsteller als Kleinkinder nach Deutschland gekommen, Eltern täuschten bei Einreise über Identität, Täuschung wurde bekannt als Antragsteller noch minderjährig, erfolgreicher Schulabschluss, in soziale Leben der Heimatgemeinde eingebunden, ohne derzeitige Sicherung des Lebensunterhalts. Keine Abschiebung bei Nachweis der Bemühungen um Aufnahme einer Lebensunterhalt deckenden Erwerbstätigkeit

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Integrationsprognose, Achtung des Privatlebens, faktischer Inländer,
Normen: EMRK Art. 8,
Auszüge:

[...]

Gemäß § 106 Satz 2 VwGO wird den Beteiligten zur einvernehmlichen Regelung des Rechtsstreits folgender gerichtlicher Vergleich vorgeschlagen:

1. Die Antragsteller zu 2. und 3. weisen fortlaufend ab dem 15. Juni 2009 durch Vorlage von Bewerbungsunterlagen gegenüber dem Antragsgegner Bemühungen um die Aufnahme einer den Lebensunterhalt deckenden Erwerbstätigkeit nach.

2. Sofern die Antragsteller entsprechende Bemühungen nachweisen oder ihren Lebensunterhalt durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sicherstellen, verzichtet der Antragsgegner auf eine Abschiebung der Antragsteller zu 2. und 3. bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts Münster über ihre auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gerichteten Klageverfahren 8 K 487/09 (Antragsteller zu 3.) und 8 K 488/09 (Antragsteller zu 2.).

3. Sollten die Antragsteller zu 2. und 3. ihrer Verpflichtung zum Nachweis von Arbeitsbemühungen nicht nachkommen oder sollte der Antragsgegner diese für nicht ausreichend erachten, wird er dies den Antragstellern zu 2. und 3. mitteilen. Für einen solchen Fall behält er sich die Möglichkeit einer den Antragstellern zu 2. und 3. anzukündigenden Abschiebung vor Abschluss der Klageverfahren 8 K 487/09 und 8 K 488/09 in die Türkei vor.

4. Die Antragsteller verfolgen ihre Beschwerde und den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren 18 B 239/09 nicht weiter.

5. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens. [...]

Gründe:

[...]

2. Hinsichtlich der Antragsteller zu 2. und 3. dürfte indes ein Anordnungsgrund bestehen. Hinsichtlich des Anordnungsanspruchs, der sich vorliegend aus § 60 a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 8 ERMK ergeben könnte - hierauf zielt das Vorbringen der Antragsteller ab - , gilt nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Senatsbeschluss vom 8. Dezember 2006 - 18 A 2644/06 -, AuAS 2007, 87, m.w.N. auf die dort zitierte Rechtsprechung) Folgendes:

Das Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist weit zu verstehen und umfasst seinem Schutzbereich nach unter anderem das Recht auf Entwicklung der Person und das Recht darauf, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt anzuknüpfen und zu entwickeln, und damit auch die Gesamtheit der im Land des Aufenthalts gewachsenen Bindungen. Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährt jedoch nicht das Recht, den Ort zu wählen, der am besten geeignet ist, ein Privat- und Familienleben aufzubauen. Die Vorschrift des Art. 8 Abs. 1 EMRK darf auch nicht so ausgelegt werden, als verbiete sie allgemein die Abschiebung eines fremden Staatsangehörigen oder vermittle diesem ein Aufenthaltsrecht allein deswegen, weil er sich eine bestimmte Zeit im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates aufgehalten hat.

Entscheidend ist vielmehr, ob der Betroffene im Aufenthaltsstaat über intensive persönliche und familiäre Bindungen verfügt, aufgrund derer er in seiner gesamten Entwicklung faktisch zu einem Inländer geworden ist, weshalb ihm bei einem Verlassen des Aufnahmestaates eine Entwurzelung droht. Dem ist regelmäßig gegenüber zu stellen, inwieweit ein Ausländer noch im Land seiner Staatsangehörigkeit verwurzelt ist. Überwiegt diese Verwurzelung - z. B. bei langjährigem Aufenthalt im Heimatstaat und relativ kurzer Aufenthaltsdauer in Deutschland -, so ist regelmäßig bereits der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht eröffnet. Bei Eröffnung des Schutzbereichs ist im Rahmen der gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu ermitteln, ob dem Ausländer wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit nicht zugemutet werden kann. In diesem Zusammenhang ist seine Rechtsposition gegen das Recht der Bundesrepublik auf Einwanderungskontrolle - insbesondere der Aufrechterhaltung der Ordnung im Fremdenwesen - in einer Weise abzuwägen, dass ein ausgewogenes Gleichgewicht der beiderseitigen Interessen gewahrt ist.

Insoweit ist zum Einen in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Dabei sind als Gesichtspunkte seine wirtschaftliche und soziale Integration, sein rechtlicher Status, die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, der Grund für die Dauer seines Aufenthalts in Deutschland, seine Kenntnisse der deutschen Sprache und seine persönliche Befähigung von Bedeutung. Auf der anderen Seite ist - erneut - zu fragen, inwieweit der Ausländer - wiederum unter Berücksichtigung seines Lebensalters, seiner persönlichen Befähigung und seiner familiären Anbindung im Heimatland - von dem Land seiner Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft entwurzelt ist.

Ausgehend hiervon kommt eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise gestützt auf Art. 8 EMRK für die Antragsteller zu 2. und 3. in Betracht. Es spricht Vieles dafür, dass die 1985 und 1986 geborenen und im Jahre 1989 als Kleinkinder in das Bundesgebiet eingereisten Antragsteller zu 2. und 3. im Bundesgebiet sozial integriert sind. Sie sind im Wesentlichen im Bundesgebiet aufgewachsen, beherrschen die deutsche Sprache und haben erfolgreich die Schule (mit Fachhochschulabschluss) abgeschlossen. Ausweislich der zahlreich vorgelegten Bescheinigungen ist weiter davon auszugehen, dass sie in das soziale Leben in ihrer Heimatgemeinde eingebunden sind und sich dort politisch und sozial engagieren. Strafrechtlich sind sie nicht in Erscheinung getreten. Soweit die Eltern der Antragsteller zu 2. und 3. bei ihrer Einreise falsche Erklärungen über ihre Identität abgaben, dürfte dies der Annahme einer sozialen Integration nicht entgegenstehen, weil die Täuschung bereits im Jahr 2002 bekannt wurde und die Antragsteller seinerzeit minderjährig waren.

Gegen eine gelungene Integration, die eine Verweisung aus dem Aufnahmestaat als unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK erscheinen lassen könnte; könnte indes sprechen, dass die Antragsteller zu 2. und 3. ihren Lebensunterhalt derzeit durch öffentliche Leistungen sicherstellen. Für eine gelungene wirtschaftliche Integration ist prinzipiell erforderlich, dass der betreffende Ausländer zur Bestreitung seines Lebensunterhalts einschließlich des Krankenversicherungsschutzes öffentliche Mittel nicht in Anspruch nehmen muss. Allerdings sind zur Erzielung eines gerechten Interessenausgleichs zwischen den Interessen des Ausländers und denjenigen des Aufnahmestaates gegebenenfalls sich konkret abzeichnende in nächster Zukunft bevorstehende Veränderungen (vgl. Senatsbeschluss vom 8. Dezember 2006 - 18 A 2644/06 -, a.a.O.), und auch die Gründe für das Fehlen einer wirtschaftlichen Integration zu berücksichtigen.

Die Erklärung der Antragsteller zu 2. und 3., sie beabsichtigten, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, sofern ihnen dies erlaubt werde, lässt ein Bemühen um wirtschaftliche Integration erkennen, an dessen Ernsthaftigkeit der Senat angesichts des vom Antragsteller zu 2. seinerzeit angestrengten, auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis gerichteten Klageverfahrens 8 K 1907/06 zumindest gegenwärtig keine Zweifel hat. Eine wirtschaftliche Integration dürfte den Antragstellern zu 2. und 3. im Hinblick auf die Erklärung des Antragsgegners im Schriftsatz vom 4. Mai 2009, wonach bei Vorlage eines konkreten Arbeitsplatzangebotes mit der Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis nach § 10 Satz 3 BeschVerfV zu rechnen sei, nunmehr tatsächlich auch möglich sein.

Ob die Antragsteller zu 2. und 3. über familiäre oder sonstige Bindungen zur Türkei verfügen, ist nicht bekannt. Angesichts des Umstandes, dass die Antragsteller zu 2. und 3. bereits 1989 ausgereist sind und - jedenfalls eigenen Angaben zufolge - nicht türkisch sprechen, ist das Bestehen derartiger Bindungen zumindest fraglich.

Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass die Erteilung der in den Verfahren 8 K 487/09 und 8 K 488/09 begehrten Aufenthaltserlaubnisse nach Maßgabe des § 25 Abs. 5 AufenthG - die Erteilung einer solchen Erlaubnis ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens - u.a. voraussetzt, dass die Antragsteller zu 2. und 3. ihren Obliegenheiten zur Erlangung eines Passes nachkommen. [...]