VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 15.09.2009 - 14 K 3458/08.A - asyl.net: M16069
https://www.asyl.net/rsdb/M16069
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen Unterstützung der PKK.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Terrorismusvorbehalt, Unterstützung, PKK, Wiederholungsgefahr, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Menschenrechtslage, Reformen
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen Unterstützung der PKK.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage hat mit den Hauptanträgen bezüglich Nr. 1 bis 3 des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes vom 24. Oktober 2008 keinen Erfolg. [...]

Mit dem Bundesamt, auf dessen Ausführungen insoweit gemäß § 77 Abs. 2 AsylVfG verwiesen wird, geht die Kammer nämlich davon aus, dass inzwischen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG eingetreten sind. Der Widerruf der Asylberechtigung und der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG bzw. die Nichtfeststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sind rechtmäßig. [...]

Die mit dem Hilfsantrag zulässig erhobene Verpflichtungsklage gemäß § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat indes Erfolg. Namentlich hat der Kläger Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Anders als das Bundesamt geht das Gericht davon aus, dass der vorverfolgt ausgereiste Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei nach wie vor landesweit von politischer Verfolgung bedroht wäre.

Die Kammer geht mit der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) (vgl. OVG NRW, Urteile vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, vom 27. März 2007 - 8 A 4728/05.A - und - 8 A 5118/05.A -, vom 17. April 2007 - 8 A 2771/06.A -, Beschluss vom 10. November 2008 - 8 A 2738/08.A -, vom 31. März 2008 - 8 A 684/08.A -, vom 1. Juli 2008 - 8 A 1679/08.A - und vom 8. Juli 2008 - 8 A 1648/08.A -), die im Ergebnis auch die Oberverwaltungsgerichte des Saarlandes und Schleswig Hosteins vertreten (vgl. Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Urteil vom 3. April 2008 - 2 A 312/07 -; Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, Beschluss vom 10. Juni 2008 - 4 LB 4/06 -, jeweils zitiert nach Juris) und der Rechtsprechung zahlreicher erstinstanzlicher Gerichte (vgl. etwa Verwaltungsgericht (VG) Aachen, Urteil vom 26. November 2008 - 6 K 1742/08.A -, VG Gelsenkirchen, Urteil vom 28. August 2008 -14 a K 2997/08.A -, VG Düsseldorf, Urteil vom 20. August 2008 - 20 K 4991/07.A -, VG Göttingen, Urteil vom 12. November 2008 - 1 A 392/06 -, VG Stuttgart, Urteil vom 30. Juni 2008 - A 11 K 304/07.07 -, Urteil vom 2. März 2009 - A 11 K 4113/08 -; VG Ansbach, Urteil vom 16. Oktober 2008 - AN 1 K 08.30318 -, VG München, Urteil vom 26. Juni 2008 - M 24 K 08.50189 -, sämtlich zitiert nach Juris) davon aus, dass sich die Verfolgungssituation in der Türkei für vorverfolgt ausgereiste Flüchtlinge nicht wesentlich verbessert hat. Diese Einschätzung wird auch durch den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 11. September 2008 (Stand: Juli 2008) gestützt. Darin wird unter anderem ausgeführt, dass sich das Reformtempo in der Türkei seit Anfang 2005 verlangsamt hat. Unter anderem garantiere die Verfassung zwar formal die Unabhängigkeit der Justiz, durch Gesetz vom Dezember 2007 sei die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten aber insoweit neu geregelt worden, dass nunmehr eine siebenköpfige Kommission anstelle des hohen Rates der Richter und Staatsanwälte zuständig sei. Diese Kommission bestehe hauptsächlich aus Vertretern des Justizministeriums, an deren Spitze der Staatssekretär stehe, weshalb politischer Einfluss auf die Justiz befürchtet werde. Auch die EU-Kommission sehe die Unabhängigkeit der Justiz durch das Gesetz beeinträchtigt. Zur Menschenrechtslage bemerkt der Bericht, dass Menschenrechtsorganisationen in der Türkei zwar inzwischen ungehindert arbeiten könnten, seit 2005 von staatlicher Seite aber wieder kritischer beobachtet würden und einzelne Versuche staatlicher Einflussnahme stattfänden. Trotz verschiedener gesetzgeberischer Maßnahmen und der von der AKP-Regierung verfolgten "Null-Toleranz-Politik" sowie einiger Verbesserungen ist es der Regierung danach bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden. Im Jahre 2007 war nach übereinstimmenden Aussagen von Menschenrechtsorganisationen sogar wieder eine Zunahme der Foltervorwürfe zu verzeichnen. In der Gesamtzahl berichten die Menschenrechtsorganisationen TIHV und IHD von einem Anstieg der bei ihnen registrierten Fälle von Folter und Misshandlung. Die überwiegende Zahl der angezeigten Fälle betreffen zum Beispiel Beleidigungen, Drohungen und Einschüchterungen, zu langes Festhalten, Vorenthalten eines Toilettenbesuchs bis hin zu Drohungen mit Tötung. Die Menschenrechtsorganisationen sprechen auch von Formen meist unsichtbar bleibender Misshandlung (zum Beispiel Elektroschocks, Abspritzen mit kaltem Wasser mittels Hochdruckgeräten, Verbinden der Augen bei Befragungen, erzwungenes Ausziehen, Schlafentzug, Androhung von Vergewaltigung, sexuelle Misshandlungen). Dabei sollen die Misshandlungen nicht mehr in den Polizeistationen selbst, sondern an anderen Orten, unter anderem im Freien stattfinden, wobei die Täter nach Presseberichten vermummt sind. Die seit Januar 2004 geltenden Regelungen, dass außer auf Verlangen des Arztes Vollzugsbeamte nicht mehr bei der Untersuchung von Häftlingen anwesend sein dürfen und das Untersuchungsergebnis direkt dem Staatsanwalt auszuhändigen ist, werden nicht durchgehend angewandt, so dass der Nachweis von Folter und Misshandlungen und damit die strafrechtliche Verfolgung der Täter schwierig wird. Trotz verfassungsrechtlich garantierter Meinungsfreiheit sind bei der Ausübung dieses Rechts kritische Entwicklungen zu beobachten, weil gegen Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und andere seitens der türkischen Justiz öffentlichkeitswirksame Strafverfahren geführt wurden. Im Osten und Südosten der Türkei kommt es weiterhin zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften. Seit Dezember 2007 unternimmt das Militär auch grenzüberschreitende Militäroperationen gegen PKK-Stellungen im Nordirak. In diesem Zusammenhang hat der türkische Generalstab zudem sechs Gebiete in den Provinzen Siirt, Sirnak, Mardin und Hakkari zu zeitweiligen Sicherheitszonen und militärischen Sperrgebieten erklärt, deren Betreten für "Ortsfremde" grundsätzlich verboten ist und die einer strengen Kontrolle unterliegt.

Auch das Auswärtige Amt geht in seinem aktuellen Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 29. Juni 2009 zum Auftreten von Folter in der Türkei davon aus, dass es der türkischen Regierung trotz der vorgenommenen gesetzgeberischen Maßnahmen und einiger Verbesserungen bislang noch nicht gelungen ist, Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden (vgl. Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Lagebericht Türkei) vom 29. Juni 2009 (Stand: Mai 2009), S. 18 f.).

Nach alledem kann von einer wesentlichen Verbesserung der verfolgungsrelevanten Situation in der Türkei keine Rede sein. Der Kläger ist vorverfolgt ausgereist und muss nach wie vor landesweite Verfolgung wegen ihm vorgeworfener Unterstützung der PKK befürchten. [...]